Heute spielt Deutschland gegen die Niederlande. Das WM-Finale 1974 machte aus der sportlichen Rivalität einen endlosen Konflikt von gesellschaftlicher Tragweite.
Die Sympathien waren beiderseitig: Frans Munck, seit 1950 Keeper in Diensten des 1. FC Köln, war so beliebt, dass er eine Rolle in einem deutschen Heimatfilm bekam. Fred Röhrig aus Den Haag führte Rot-Weiss Essen 1955 zur letzten Meisterschaft der Klubgeschichte. Und doch hatte die jüngere Geschichte eine tiefe Kluft zwischen den Nachbarstaaten gerissen. Als Georg Kessler vorübergehend Bondscoach wurde und die Ergebnisse schuldig blieb, verunglimpften ihn Zuschauer als „Judenmörder“. Willi Lippens, Sohn eines Niederländers, war am Niederrhein geboren und hatte die Wahl, ob er für DFB oder KNVB auflaufen wolle. Sein Vater aber verbot ihm schlichtweg, das Jersey des DFB überzustreifen: „Wenn du das machst, brauchst du nicht mehr nach Hause zu kommen.“
Und so lag auch über dem Finale 1974 der unsichtbare Schatten der Vergangenheit. Im Mittelfeld spielte Willem van Hanegem aus Breskens, der bei einem deutschen Luftangriff im September 1944 den Vater, zwei Brüder und eine Schwester verloren hatte. Van Hanegem war der einzige Akteur, der aus seiner Antipathie keinen Hehl machte. Vor Anpfiff hatte er gesagt: „Ich könnte es bis an mein Lebensende nicht verwinden, wenn wir es nicht verhindern, dass sie später grölen, sie seien Weltmeister – und wir nicht.“ Doch genau so kam es. Der 7. Juli 1974 ging als „Schwarzer Sonntag“ in die holländische Geschichte ein. Das Gefühl der Überlegenheit schlug bei einigen im Oranje-Team schlagartig in die Gewissheit um, der Erfolg der Deutschen sei mit unfairen Mitteln errungen worden. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte!
Der schüchterne Bernd Hölzenbein wurde zum Symbol des deutschen Tricksers, weil das Foul an ihm, das zum Elfmeter führte, als Schwalbe identifiziert wurde. Bondscoach Rinus Michels, der Urheber des Spruchs „Fußball ist Krieg“, witterte Sabotage, weil vorm letzten Zwischenrundenspiel gegen Brasilien eine Skandalstory in der „Bild“ erschienen war. Ein Boulevardreporter hatte sich ins holländische Quartier in Hiltrup geschlichen und Johan Cruyff, Rob Rensenbrink, Piet Schrijvers und Pleun Strik Champagner schlürfend im Hotelpool fotografiert, derweil auch einige Damen zugegen waren. Die Geschichte erschien unter dem Titel „Cruyff, Sekt, nackte Mädchen und ein kühles Bad“ und sorgte für nachvollziehbaren Unmut bei einigen Spielerfrauen. Michels antwortete daraufhin bei den WM-Pressekonferenzen nicht mehr auf Deutsch und stilisierte die Schlagzeile zur medialen „Kriegserklärung“ an sein Team.
Und je länger das Trauma von München zurücklag, desto mehr Legenden wurden um die charakterliche Veranlagung der Rivalen gestrickt. Als es vier Jahre später bei der WM in Argentinien eine Neuauflage des Spiels gab, beschwerte sich Karl-Heinz Rummenigge bereits öffentlich darüber, wie Medien die Partie überfrachteten: „Es ist eine wirkliche Schande und traurig“, sagte der Bayern-Stürmer, „dass sie den Fußball als Ventil für ihren Hass wegen des Zweiten Weltkriegs benutzen.“ Doch die Akteure ließen sich von der hitzigen Atmosphäre anstecken: Zwischen Dick Nanninga und Bernd Hölzenbein kam es zu einem Handgemenge, weil der Veendamer dem Frankfurter in die Magengrube geschlagen und dieser sich per Nasenstuber revanchiert hatte. Als die Rivalen bei der EM 1980 wieder aufeinandertrafen, offenbarte selbst der sonst eher kaltblütige DFB-Vorstopper Karl-Heinz Förster einen Hang zu düsterem Pathos: „Ich wusste, dass es schlimm werden würde“, so Förster. „Wir hatten uns geschworen zu siegen, weil dieser Sieg so wichtig für unseren Stolz war. Für sie wäre es das Größte, uns zu schlagen. Die hassen uns so viel mehr, als wir sie hassen.“ Zweifelsohne ging es da bereits für beide Teams um mehr als nur um die siegreiche Gestaltung eines Fußballspiels.
Jan Wouters hatte als 14-Jähriger das Finale von München im Fernsehen verfolgt. Wie so viele Profis seines Alters wuchs er in dem Glauben auf, zwischen deutschen und holländischen Teams sei noch eine Rechnung offen. Auf beiden Seiten der Grenze arbeiteten die Nachkommen der Kriegsgeneration inzwischen auf, was die Deutschen in den Jahren nach 1933 in Europa angerichtet hatten. „In den Niederlanden bekam man ein antideutsches Gefühl mit auf den Weg“, sagt Jan Wouters im verdienstvollen Buch „Kicken beim Feind?“ von Ingo Schiweck. „In der Schule lernte man alles Mögliche über den Krieg, und da kam dann noch 1974 hinzu.“ Im Gegenzug dazu ging es deutschen Spielern auf die Nerven, in dem Duell ständig zu Stahlhelm tragenden Betonkickern stilisiert zu werden. Es ging längst nicht mehr um die Frage, wer den attraktiveren Fußball spielte. Deutschland gegen Holland hieß jetzt auch: Wehrmacht gegen Widerstand. Böse gegen Gut!