Das WM-Finale 1974 machte aus der sportlichen Rivalität zwischen Holland und Deutschland einen endlosen Konflikt von gesellschaftlicher Tragweite.
Und je länger das Trauma von München zurücklag, desto mehr Legenden wurden um die charakterliche Veranlagung der Rivalen gestrickt. Als es vier Jahre später bei der WM in Argentinien eine Neuauflage des Spiels gab, beschwerte sich Karl-Heinz Rummenigge bereits öffentlich darüber, wie Medien die Partie überfrachteten: „Es ist eine wirkliche Schande und traurig“, sagte der Bayern-Stürmer, „dass sie den Fußball als Ventil für ihren Hass wegen des Zweiten Weltkriegs benutzen.“
Mehr als ein Spiel
Doch die Akteure ließen sich von der hitzigen Atmosphäre anstecken: Zwischen Dick Nanninga und Bernd Hölzenbein kam es zu einem Handgemenge, weil der Veendamer dem Frankfurter in die Magengrube geschlagen und dieser sich per Nasenstuber revanchiert hatte. Als die Rivalen bei der EM 1980 wieder aufeinandertrafen, offenbarte selbst der sonst eher kaltblütige DFB-Vorstopper Karl-Heinz Förster einen Hang zu düsterem Pathos: „Ich wusste, dass es schlimm werden würde“, so Förster. „Wir hatten uns geschworen zu siegen, weil dieser Sieg so wichtig für unseren Stolz war. Für sie wäre es das Größte, uns zu schlagen. Die hassen uns so viel mehr, als wir sie hassen.“ Zweifelsohne ging es da bereits für beide Teams um mehr als nur um die siegreiche Gestaltung eines Fußballspiels.
Jan Wouters hatte als 14-Jähriger das Finale von München im Fernsehen verfolgt. Wie so viele Profis seines Alters wuchs er in dem Glauben auf, zwischen deutschen und holländischen Teams sei noch eine Rechnung offen. Auf beiden Seiten der Grenze arbeiteten die Nachkommen der Kriegsgeneration inzwischen auf, was die Deutschen in den Jahren nach 1933 in Europa angerichtet hatten. „In den Niederlanden bekam man ein antideutsches Gefühl mit auf den Weg“, sagt Jan Wouters im verdienstvollen Buch „Kicken beim Feind?“ von Ingo Schiweck. „In der Schule lernte man alles Mögliche über den Krieg, und da kam dann noch 1974 hinzu.“ Im Gegenzug dazu ging es deutschen Spielern auf die Nerven, in dem Duell ständig zu Stahlhelm tragenden Betonkickern stilisiert zu werden. Es ging längst nicht mehr um die Frage, wer den attraktiveren Fußball spielte. Deutschland gegen Holland hieß jetzt auch: Wehrmacht gegen Widerstand. Böse gegen Gut!
Die Revanche von ’88
1988 schloss sich der Kreis. Die Parallelen zu 1974 waren unverkennbar. EM in Deutschland. Franz Beckenbauer, Kapitän der Weltmeisterelf, war nun Teamchef beim DFB. Rinus Michels, der zeitweise auch beim 1. FC Köln ein eisernes Regiment geführt hatte, war wieder Bondscoach. Angeführt von Kapitän Ruud Gullit und Torjäger Marco van Basten, präsentierte sich die Elftal erneut als Goldene Generation, die Fußball zelebrierte. Mit dem AC Mailand hatten die beiden soeben die Meisterschaft in der Serie A gewonnen – und Italien bewiesen, wie erfolgreich Angriffsfußball sein kann.
Diese Ästheten trafen im Halbfinale auf ein DFB-Team, dessen Kopf Lothar Matthäus war. Kein Feingeist wie Franz Beckenbauer, sondern ein Kopf-durch-die-Wand-Spieler. Wie gemalt, um das Klischee vom deutschen Rasenmäher zu unterfüttern. Die Gegensätze konnten krasser kaum sein. Zumal statt des „Terriers“ in der deutschen Defensive nun Zerstörer wie Jürgen Kohler und Uli Borowka warteten. Den Niederländern bot sich im Volksparkstadion die historische Chance, sich endlich für den Fauxpas der 74er-Generation zu revanchieren. Und, wie es Ruud Gullit später ausdrückte, für „Gerechtigkeit“ zu sorgen. Coach Michels hatte vor Anpfiff zu Protokoll gegeben: „Das Finale lebt immer noch. Ich habe nicht vergessen, dass wir damals verloren haben.“
Schwarz gegen Weiß
In der 89. Minute erzielte Marco van Basten den 2:1‑Siegtreffer. Deutschland schied auf heimischem Grund aus dem Turnier aus. Neun Millionen Niederländer, mehr als 60 Prozent der Bevölkerung, feierten in dieser Dienstagnacht auf den Straßen des Landes. Einige sangen „1940 kamen sie / 1988 kamen wir / Holadiholadio!“ Jan Wouters fragte Rinus Michels, ob der Sieg ihn für das Trauma entschädigt habe. „Ja“, entgegnete der Trainer mit Tränen in den Augen, „das macht es wieder gut.“ Keeper Hans van Breukelen widmete den Sieg der Generation, die den Krieg überlebt hatte. Ronald Koeman vollendete das überfrachtete Schauspiel, indem er in die Rolle des befreiten Bürgers schlüpfte, der nach entbehrungsreichen Jahren die abrückenden Besatzer mit sarkastischer Schadenfreude überzieht: Der Libero zog sich nach dem Trikottausch mit Olaf Thon das DFB-Jersey demonstrativ durch den Schritt.
In Holland erschien bald darauf ein Lyrikband, der Verse von Profis und Poeten über die Rivalität zwischen Deutschland und Holland enthielt. Kein Vierzeiler kam ohne Verweis zur Geschichte aus. Gut und Böse / Schau, mein Schatz, schau im Fernsehen / Orange, Gullit, Weiß / Weiß, Matthäus, Schwarz.