Vor 25 Jahren holte Frank de Boer mit Ajax Amsterdam die Champions League. 2015 sprachen wir mit ihm über die goldenen Zeiten Mitte der Neunziger, den Voetbaltotaal und seinen Job in der niederländischen Kaderschmiede.
Sie waren damals Teil einer Goldenen Generation, in der Mannschaft standen neben Ihnen und Ihrem Bruder Ronald Spieler wie Edgar Davids, Patrick Kluivert, Clarence Seedorf und Marc Overmars. Gab es vor dem Finale ein „Jetzt oder nie“-Gefühl?
Wir waren uns schon bewusst, dass wir nicht lange zusammenbleiben und wahrscheinlich nie wieder in einer Mannschaft mit einer derartigen Talentdichte spielen würden. Aber das Gefühl, dass wir eine ganze Ära prägen könnten wie das Ajax der frühen Siebziger, das drei Mal hintereinander den Europapokal der Landesmeister gewann, stellte sich erst ein, als wir im November 1995 in Tokio gegen Gremio Porto Alegre den Weltpokal holten. Und da war es auch schon zu spät – die Mannschaft war am Zerbrechen. Seedorf war zu Sampdoria Genua gewechselt, Kluivert und Davids waren sich mit dem AC Mailand einig, Overmars war auf dem Sprung zu Arsenal. Und so ging es weiter.
Gab es einen Moment, in dem Sie spürten, dass die Luft raus war?
Das weiß ich noch ziemlich genau: In der Saison 1996/97, gut anderthalb Jahre nach dem Champions-League-Sieg, verloren wir auf gespenstische Weise 0:2 bei NAC Breda. Breda spielte einfach seinen Stiefel runter und war trotzdem deutlich besser als wir. Ich sagte zu meinem Bruder: „Sind wir noch das Ajax, das jeden Gegner dominieren will?“ Ronald schüttelte nur den Kopf.
Sie und Ihr Bruder wechselten erst 1999 zum FC Barcelona. Hätten Sie Ajax auch verlassen, wenn die Goldene Generation zusammengeblieben wäre?
Da waren wir ja schon Ende zwanzig, das ist kein Alter, in dem man ein Angebot von Barça ausschlägt. Aber wer weiß, was wir in den vier Jahren zuvor hätten erreichen können, wenn nicht einer nach dem anderen gegangen wäre.
Immerhin kam es so zu einer Art Export der Ajax-Spielidee.
Das stimmt. Seedorf gewann die Champions League noch mit Real Madrid und dem AC Mailand, Davids prägte Juventus Turin, Nwankwo Kanu war Teil der Invincibles bei Arsenal, und gleich eine ganze Horde von Ajax-Jungs beeinflusste den FC Barcelona – unter Louis van Gaal, der ebenfalls dorthin gegangen war. In gewisser Weise stehen all diese Mannschaften auf den Schultern von Ajax Amsterdam.
Gäbe es ohne Voetbaltotaal überhaupt Tiki-Taka? Wäre die Spielweise des FC Bayern unter Pep Guardiola ohne den Einfluss von Ajax Amsterdam denkbar?
Ajax hatte einen großen Einfluss, keine Frage. Aber auch die Mannschaft von 1995 war ja wiederum von anderen beeinflusst. Natürlich vor allem vom Ursprung des Voetbaltotaal, der Ära von Rinus Michels und Johan Cruijff Anfang der Siebziger. Und die beiden bezogen sich wiederum auf Jack Reynolds, der von 1915 bis 1949 Ajax-Trainer war und sehr offensiv spielen ließ. Niemand hat das alleinige Patent auf schönen Fußball.
Sie waren bei der WM 2010 Assistent von Bondscoach Bert van Marwijk. Wie kam es, dass die niederländische Nationalmannschaft im Finale gegen Spanien derart hässlich spielte?
Glauben Sie mir, wir haben das nicht als Marschroute ausgegeben! Wir hatten in der Vorbereitung und zum Teil auch noch während des Turniers wunderbaren Fußball gespielt. Aber im Finale muss den Jungs ziemlich schnell klar geworden sein, dass Spanien an diesem Tage so gut wie unschlagbar war. Wenn man es positiv ausdrücken will, könnte man sagen: Immerhin waren sie in der Lage, ihre Taktik den Umständen anzupassen.
Hätte nicht vielmehr das Trainerteam die Taktik anpassen müssen?
In der Halbzeit und auch vor der Verlängerung haben wir das durchaus versucht. Aber im laufenden Spiel ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Wir mussten mehr oder weniger fassungslos zusehen, wie unsere Spieler sich von ihren Emotionen mitreißen ließen.
Ein halbes Jahr später, im Dezember 2010, übernahmen Sie das Traineramt bei Ajax und gewannen seither vier Mal die niederländische Meisterschaft – und das nach sieben Jahren Durststrecke. Wie haben Sie das geschafft?
Es war mir wichtig, zu der Dominanz zurückzufinden, die ich aus den Jahren 1993 bis 1996 kannte, zu der typischen Ajax-Spielweise aus hohem Tempo und perfekter Organisation.
Aber Sie sagten doch eingangs, aus der Vergangenheit ließe sich nichts für die Gegenwart ableiten.
Nicht aus einem einzelnen Sieg wie im Finale gegen den AC Mailand. Aber durchaus aus der Mentalität, die wir damals hatten. Das Ajax-Spiel basiert auf einer komplexen Architektur – und erfordert nicht nur eine jahrelange Ausbildung, sondern auch einen hohen Grad an Identifikation mit dem Verein und seiner Philosophie. Beides erreicht man nur, wenn man möglichst viele Spieler aus der eigenen Jugend einsetzt. Das habe ich getan, und zu meinem eigenen Erstaunen hatten wir damit sofort Erfolg.
Gleich zwölf Spieler in Ihrem aktuellen Kader stammen aus der eigenen Jugend. Wächst da wieder eine Goldene Generation heran?
Wenn Sie darauf hinaus wollen, ob Ajax mittelfristig wieder die Champions League gewinnen wird, sage ich ganz klar: Das ist eine Utopie!
Warum?
Mit einer Mannschaft, die wie unsere ein Durchschnittalter von 22 Jahren hat, gewinnt man diesen Wettbewerb nicht. Dazu braucht man Erfahrung, man muss wissen, wie man sich an der Stamford Bridge, im Camp Nou oder im Westfalenstadion behauptet. Nicht nur einmal, sondern prinzipiell.