Vor 25 Jahren holte Frank de Boer mit Ajax Amsterdam die Champions League. 2015 sprachen wir mit ihm über die goldenen Zeiten Mitte der Neunziger, den Voetbaltotaal und seinen Job in der niederländischen Kaderschmiede.
Frank de Boer, es ist beinah zwanzig Jahre her, dass Sie als Spieler mit Ajax Amsterdam die Champions League gewannen. Wo ist bloß die Zeit geblieben?
Ja, es ist wirklich beängstigend, wie schnell sie vergeht. Gestern war ich doch noch jung und hatte alles vor mir! Aber als Fußballprofi und dann als ‑trainer eilt man von Spiel zu Spiel, von Herausforderung zu Herausforderung. Man schaut eigentlich nur nach vorn, und wenn man doch mal zurückschaut, liegen plötzlich so viele Jahre hinter einem. Zwanzig, sagten Sie? Erschütternd!
Denken Sie mitunter an die Nacht von Wien, als Ihre Mannschaft den AC Mailand mit 1:0 besiegte?
Sehr selten. Wenn man wie ich noch immer im Fußball tätig ist, bleibt einfach keine Zeit, innezu-halten und in Erinnerungen zu schwelgen. Außerdem ist Nostalgie einfach unproduktiv. Was soll ich daraus lernen?
Wie man die Champions League gewinnt, zum Beispiel.
Aus einem Sieg, der zwanzig Jahre zurückliegt, lässt sich nichts mehr ableiten.
Er kann Ansporn sein, noch einmal einen großen Titel zu gewinnen.
Ziele liegen in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit. Zum Glück pflegen unsere Fans die Erinnerung an 1995. Und wenn ich einmal Rentner bin, helfe ich gern mit. Bei einem guten Glas Wein werde ich sicherlich noch ein paar Anekdoten beisteuern können.
Lassen Sie uns doch heute schon mal damit anfangen. Erinnern Sie sich an die Party nach dem Triumph?
Da muss ich mich nicht groß anstrengen: Am Tag nach dem Finale fuhren wir auf einem Schiff durch die Grachten von Amsterdam. Die Leute auf ihren Hausbooten haben so ausgelassen getanzt, dass sie beinah gekentert wären.
Als Louis van Gaal Trainer beim FC Bayern war, bezeichnete er sich selbst als „Feierbiest“. Wie animalisch war er bei Ihrem Triumphzug drauf?
Keine Indiskretionen! Nur so viel: Er wusste, dass wir einen Riesenrespekt vor ihm hatten. Er musste sich bei dieser Party nicht noch mehr Respekt dazu verdienen.
War er unbekleidet?
Ich weiß es nicht mehr, und zum Glück gab es damals noch keine Handykameras.
Van Gaal war alles in allem über ein Jahrzehnt Ihr Trainer, zunächst bei Ajax, später dann bei Barça. Was hat er Ihnen beigebracht?
Dass man den Spielern mit Respekt gegenübertreten und ihnen zuhören muss, wenn man eine Mannschaft weiterentwickeln will.
Uns kam es bislang so vor, als würde er am liebsten sich selbst zuhören.
Er hat ja auch einiges zu sagen! Aber ich kann Ihnen versichern: Er ist ein genauso guter Zuhörer.
Wenn Sie heute vor Ihrer Mannschaft stehen: Was assoziieren die Jungs mit dem Jahr 1995?
Bestenfalls ihren zweiten oder dritten Geburtstag. Manche waren noch nicht einmal auf der Welt. Wenn Sie wissen wollen, ob sie vor mir als Champions-League-Sieger besondere Ehrfurcht haben: Ich denke nicht. Und ich möchte mir ihre Wertschätzung auch lieber durch meine gegenwärtigen Leistungen verdienen.
Spüren Sie denn gar keine Aura um sich herum? Rudi Völler sagte einmal: „Weltmeister bleibt man sein Leben lang.“ Das muss doch auch für Champions-League-Sieger gelten.
Sicher, ich könnte, wenn mir mal gar nichts mehr einfällt, zu meinen Spieler sagen: „Guckt mal hier: meine Aura!“ Aber diesen Tag möchte ich lieber nicht erleben.
Sie waren damals Teil einer Goldenen Generation, in der Mannschaft standen neben Ihnen und Ihrem Bruder Ronald Spieler wie Edgar Davids, Patrick Kluivert, Clarence Seedorf und Marc Overmars. Gab es vor dem Finale ein „Jetzt oder nie“-Gefühl?
Wir waren uns schon bewusst, dass wir nicht lange zusammenbleiben und wahrscheinlich nie wieder in einer Mannschaft mit einer derartigen Talentdichte spielen würden. Aber das Gefühl, dass wir eine ganze Ära prägen könnten wie das Ajax der frühen Siebziger, das drei Mal hintereinander den Europapokal der Landesmeister gewann, stellte sich erst ein, als wir im November 1995 in Tokio gegen Gremio Porto Alegre den Weltpokal holten. Und da war es auch schon zu spät – die Mannschaft war am Zerbrechen. Seedorf war zu Sampdoria Genua gewechselt, Kluivert und Davids waren sich mit dem AC Mailand einig, Overmars war auf dem Sprung zu Arsenal. Und so ging es weiter.
Gab es einen Moment, in dem Sie spürten, dass die Luft raus war?
Das weiß ich noch ziemlich genau: In der Saison 1996/97, gut anderthalb Jahre nach dem Champions-League-Sieg, verloren wir auf gespenstische Weise 0:2 bei NAC Breda. Breda spielte einfach seinen Stiefel runter und war trotzdem deutlich besser als wir. Ich sagte zu meinem Bruder: „Sind wir noch das Ajax, das jeden Gegner dominieren will?“ Ronald schüttelte nur den Kopf.
Sie und Ihr Bruder wechselten erst 1999 zum FC Barcelona. Hätten Sie Ajax auch verlassen, wenn die Goldene Generation zusammengeblieben wäre?
Da waren wir ja schon Ende zwanzig, das ist kein Alter, in dem man ein Angebot von Barça ausschlägt. Aber wer weiß, was wir in den vier Jahren zuvor hätten erreichen können, wenn nicht einer nach dem anderen gegangen wäre.
Immerhin kam es so zu einer Art Export der Ajax-Spielidee.
Das stimmt. Seedorf gewann die Champions League noch mit Real Madrid und dem AC Mailand, Davids prägte Juventus Turin, Nwankwo Kanu war Teil der Invincibles bei Arsenal, und gleich eine ganze Horde von Ajax-Jungs beeinflusste den FC Barcelona – unter Louis van Gaal, der ebenfalls dorthin gegangen war. In gewisser Weise stehen all diese Mannschaften auf den Schultern von Ajax Amsterdam.
Gäbe es ohne Voetbaltotaal überhaupt Tiki-Taka? Wäre die Spielweise des FC Bayern unter Pep Guardiola ohne den Einfluss von Ajax Amsterdam denkbar?
Ajax hatte einen großen Einfluss, keine Frage. Aber auch die Mannschaft von 1995 war ja wiederum von anderen beeinflusst. Natürlich vor allem vom Ursprung des Voetbaltotaal, der Ära von Rinus Michels und Johan Cruijff Anfang der Siebziger. Und die beiden bezogen sich wiederum auf Jack Reynolds, der von 1915 bis 1949 Ajax-Trainer war und sehr offensiv spielen ließ. Niemand hat das alleinige Patent auf schönen Fußball.
Sie waren bei der WM 2010 Assistent von Bondscoach Bert van Marwijk. Wie kam es, dass die niederländische Nationalmannschaft im Finale gegen Spanien derart hässlich spielte?
Glauben Sie mir, wir haben das nicht als Marschroute ausgegeben! Wir hatten in der Vorbereitung und zum Teil auch noch während des Turniers wunderbaren Fußball gespielt. Aber im Finale muss den Jungs ziemlich schnell klar geworden sein, dass Spanien an diesem Tage so gut wie unschlagbar war. Wenn man es positiv ausdrücken will, könnte man sagen: Immerhin waren sie in der Lage, ihre Taktik den Umständen anzupassen.
Hätte nicht vielmehr das Trainerteam die Taktik anpassen müssen?
In der Halbzeit und auch vor der Verlängerung haben wir das durchaus versucht. Aber im laufenden Spiel ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Wir mussten mehr oder weniger fassungslos zusehen, wie unsere Spieler sich von ihren Emotionen mitreißen ließen.
Ein halbes Jahr später, im Dezember 2010, übernahmen Sie das Traineramt bei Ajax und gewannen seither vier Mal die niederländische Meisterschaft – und das nach sieben Jahren Durststrecke. Wie haben Sie das geschafft?
Es war mir wichtig, zu der Dominanz zurückzufinden, die ich aus den Jahren 1993 bis 1996 kannte, zu der typischen Ajax-Spielweise aus hohem Tempo und perfekter Organisation.
Aber Sie sagten doch eingangs, aus der Vergangenheit ließe sich nichts für die Gegenwart ableiten.
Nicht aus einem einzelnen Sieg wie im Finale gegen den AC Mailand. Aber durchaus aus der Mentalität, die wir damals hatten. Das Ajax-Spiel basiert auf einer komplexen Architektur – und erfordert nicht nur eine jahrelange Ausbildung, sondern auch einen hohen Grad an Identifikation mit dem Verein und seiner Philosophie. Beides erreicht man nur, wenn man möglichst viele Spieler aus der eigenen Jugend einsetzt. Das habe ich getan, und zu meinem eigenen Erstaunen hatten wir damit sofort Erfolg.
Gleich zwölf Spieler in Ihrem aktuellen Kader stammen aus der eigenen Jugend. Wächst da wieder eine Goldene Generation heran?
Wenn Sie darauf hinaus wollen, ob Ajax mittelfristig wieder die Champions League gewinnen wird, sage ich ganz klar: Das ist eine Utopie!
Warum?
Mit einer Mannschaft, die wie unsere ein Durchschnittalter von 22 Jahren hat, gewinnt man diesen Wettbewerb nicht. Dazu braucht man Erfahrung, man muss wissen, wie man sich an der Stamford Bridge, im Camp Nou oder im Westfalenstadion behauptet. Nicht nur einmal, sondern prinzipiell.
Aber Ihre Mannschaft kann doch noch reifen.
Darauf ist nicht zu hoffen. Ajax wird ein Ausbildungsverein bleiben, ein Durchlauferhitzer für die finanzstarken Klubs. Noch bevor ein Spieler Talent und Erfahrung in Einklang gebracht hat, verlässt er Ajax, weil er ein lukrativeres Angebot bekommt, bei dem wir nicht mithalten können. Das war bei Wesley Sneijder so, bei Rafael van der Vaart und Thomas Vermaelen, auch bei Zlatan Ibrahimovic und Luis Suarez, zuletzt bei Daley Blind, der nach der WM zu Manchester United wechselte. Wir säen, die anderen ernten.
War vor diesem Hintergrund das Bosman-Urteil, das ebenfalls 1995 erging, die folgenschwerste Veränderung für den Fußball in den vergangenen 20 Jahren?
Ganz eindeutig! Es war auch zuvor schon schwer für einen Klub wie Ajax Amsterdam, seine Spieler zu halten und eine Mannschaft über Jahre weiterzuentwickeln. Heutzutage, da die Spieler nach Ende ihres Vertrages ablösefrei wechseln dürfen, ist das nahezu unmöglich.
Das muss frustrierend für Sie sein.
Ich bin nicht persönlich beleidigt deswegen. Ich halte es aber für sehr gefährlich für den Fußball insgesamt. Die Spieler verlassen ihre Ausbildungsvereine immer früher. Und sie wechseln oftmals nicht mehr zum nächstgrößeren, sondern gleich zu einem riesengroßen Verein. Jemand wie Martin Ødegaard etwa ist nicht zu uns gewechselt, wo er behutsam weiterentwickelt worden wäre, sondern zu Real Madrid. Dort verdient er jetzt 100 000 Euro in der Woche – und das mit 16 Jahren. Das dürfte wesentlich mehr sein, als Álvaro Arbeloa verdient, der Weltmeister ist. Und dabei weiß niemand, ob dieser Junge sich je durchsetzen wird. Ich finde das pervers!
Hoffen Sie, dass eines Tages ein Scheich den Weg nach Amsterdam findet?
Nein, ich hoffe darauf, dass die UEFA das Financial Fairplay konsequent durchsetzt. Wenn sich bei allen Vereinen Einnahmen und Ausgaben endlich die Waage halten müssten, würden die Wettbewerbschancen von Ajax Amsterdam enorm steigen.
Glauben Sie daran?
Ich lasse mich gern positiv überraschen.
Ein Wettbewerbsnachteil würde allerdings bleiben: Die niederländische Liga ist keine besonders harte Konkurrenz. Könnten die jungen Spieler da überhaupt für die großen internationalen Herausforderungen reifen?
Immerhin haben wir den PSV Eindhoven und Feyenoord Rotterdam, unsere Erzrivalen, mit denen wir uns bekriegen. Das ist auch nicht viel weniger, als der FC Bayern im Moment hat, denke ich.
Was ist Ihnen lieber: ein Sieg beim SC Cambuur-Leeuwarden oder eine Niederlage beim FC Barcelona?
Die Niederlage. Weil wir aus ihr etwas lernen können. Wenn wir nicht stetig dazulernen und uns weiterentwickeln, hilft uns auch kein Financial Fairplay.
Sie erwirtschaften regelmäßig hohe Transferüberschüsse. Warum holen Sie sich nicht mal einen erfahrenen Spieler, der weiß, wie man große Schlachten gewinnt?
Wir waren im vergangenen Sommer sehr interessiert an Rafael van der Vaart, aber leider sah er seine Mission beim Hamburger SV als noch nicht erfüllt an. Ansonsten stehen wir vor dem Problem, dass die Eredivisie für Top-Spieler über 30 nicht besonders attraktiv ist. Der Trend geht in Richtung Major League Soccer, nicht zuletzt wegen der astronomischen Gehälter, die dort gezahlt werden. Die können und wollen wir nicht überbieten.
Wenn Sie einen Spieler aus der Geschichte von Ajax Amsterdam reaktivieren könnten
…würde ich Johan Cruijff wählen, das ist ja überhaupt keine Frage! Es gab keinen besseren Spieler als ihn, nicht bei Ajax, nicht in ganz Europa, nirgendwo.
Cruijff ist immer noch in beratender Funktion für Ajax tätig. Wie oft unterhalten Sie sich mit ihm?
Etwa alle zwei Monate.
Wie lautet das Urteil von König Johan: Wie sehr ist Ajax wieder Ajax?
Ich denke, er sieht uns auf einem guten Weg.
Reden Sie dann über das Alltagsgeschäft, oder treffen Sie sich zum philosophischen Kamingespräch?
Es ist eine Mischung aus beidem. Ajax ist ein tief in seiner Tradition verwurzelter Verein, wir sehen all unser Handeln in diesem Kontext. Es geht darum, sich auch im Wandel treu zu bleiben.
Ein toller Slogan. Wie lange bleiben Sie Ajax Amsterdam denn noch treu?
Es gab durchaus interessante Angebote, unter anderem von Tottenham Hotspur. Aber wie Sie sehen, bin ich immer noch hier. Ich bin noch nicht fertig.