Bayern München verpflichtet Julian Nagelsmann als Nachfolger von Hansi Flick – und zahlt 25 Millionen Euro Ablöse. Ist das diese neue Demut?
Fangen wir mit den Fakten an: Julian Nagelsmann verlässt RB Leipzig nach der Saison und wechselt zu Bayern München, 25 oder gar 30 Millionen Euro Ablöse soll der neue Trainer den Rekordmeister angeblich kosten, bis 2026 hat er unterschrieben, der 01.07.2021 wird sein offiziell erster Arbeitstag sein. Es passiert früher, als viele erwartet hatten, doch unterm Strich ist es ein schlüssiger und logischer Wechsel. Nagelsmann ist gleichzeitig jung und erfahren, er ist erfolgreich und ambitioniert und modern, er kommt aus Bayern, seine Familie lebt bereits in München, er kennt die Bundesliga, er gilt als smart und eloquent, er ist Journalisten gegenüber aufgeschlossen, und, vielleicht nicht ganz unwichtig, er ist aktuell „nur“ Trainer vom zweitstärksten Klub der Liga und nicht vom FC Liverpool oder vom FC Chelsea. Sprich: Er war der am ehesten verfügbare deutsche Top-Trainer. Zu seinem neuen Job kann man ihm nur gratulieren. Er ist 33 Jahre alt, zwei Jahre jünger als Manuel Neuer, und wird in Zukunft bei einem der größten und erfolgreichsten Vereine der Welt in der ersten Reihe stehen. Nicht, weil ihm der Job zufällig zugeflogen ist, sondern weil er sich all das mit einem im deutschen Fußball ziemlich einmaligen Mix aus Ehrgeiz, Talent, Können und Selbstbewusstsein erarbeitet hat.
Die Liste mit Argumenten gegen ihn als Bayern-Coach ist dagegen eher kurz. Gut, Nagelsmann dachte als kleiner Junge, dass Lothar Matthäus nicht Lothar Matthäus sondern Lotoma Thäus heißt. Und die Vorstellung, dass er bald in mit Bayern-Logo bestickten, signalfarbenen Funktionswesten über das sechste Lewandowski-Tor in irgendeinem Bundesligaspiel jubeln wird, lässt einen als Anhänger eines spannenden Wettbewerbs nicht unbedingt glücksbesoffen auf der Couch einschlummern. Aber die Vermutung, dass diese Punkte bei der Entscheidungsfindung von Karl-Heinz Rummenigge, Oliver Kahn, Hasan Salihamidzic oder Herbert Hainer irgendeine Rolle gespielt hätten, spräche eher gegen eine Karriere als Ermittler beim BKA. Für Diskussionsstoff sorgen insofern eigentlich nur zwei Punkte. Erstens: Julian Nagelsmann hat in seiner gar nicht so kurzen Karriere bisher weder einen Titel geholt, noch mit fertigen Stars gearbeitet. Zweitens: Julian Nagelsmann kostet – wenn man den 30-Millionen-Gerüchten glauben kann – mehr Ablöse, als der FC Bayern für Joshua Kimmich, Serge Gnabry und Alphonso Davies ausgegeben hat. Also für alle drei zusammen. Aber dazu später mehr.
„Das sind viele Fehler von draußen“
Zunächst zu der Sache mit den Titeln und Stars. Dass Nagelsmann Hoffenheim nicht zur Meisterschaft oder gar direkt in die Super League gecoacht hat, ist natürlich kein Argument gegen ihn, im Gegenteil, er hat die Mannschaft im Februar 2016 im Abstiegskampf übernommen, eineinhalb Jahre später spielte sie als Bundesliga-Vierter die Qualifikation zur Champions League. Viel mehr geht nicht. Etwas andere Ansprüche an ihn herrschten dagegen von Anfang an in Leipzig. Mit dem deutschen Red-Bull-Ableger wurde Nagelsmann in der vergangenen Saison Dritter, zog ins Pokalfinale und ins Champions-League-Halbfinale ein, in dieser Saison könnte die Mannschaft wieder das DFB-Pokalfinale erreichen, in der Liga liegt sie direkt hinter den Bayern auf dem zweiten Platz. Das klingt einerseits beeindruckend. Andererseits sind zweite Plätze nirgendwo so egal wie in München. Doch dort sieht man in Nagelsmann ganz offensichtlich trotzdem einen Gewinnertypen. In der kommenden Saison wird er zum ersten Mal mit dem Druck arbeiten, auch wirklich gewinnen zu müssen. Aber er wird eben auch zum ersten Mal die beste Mannschaft des Landes zur Verfügung haben. Was uns zum nächsten Punkt führt.
Beim FC Bayern trifft er auf Spieler wie Robert Lewandowski, Joshua Kimmich, Leon Goretzka oder Thomas Müller. Spieler, die in ihrer Karriere fast alles erreicht haben, die die höchsten Ansprüche an sich selbst haben – und auch an diejenigen, die mit ihnen arbeiten. Stand jetzt spricht wenig dafür, dass Nagelsmann diesen Ansprüchen nicht genügen könnte. Er gilt als Trainer, der keine Angst davor hat, sich kompetente Spezialisten ins Team zu holen, er kann delegieren und kommunizieren, schon in Hoffenheim arbeitete er mit modernen Trainingsmethoden, mit einer App beispielsweise, die die Schlafgewohnheiten seiner Spieler überwachte. Schon in Hoffenheim überließ er möglichst wenig dem Zufall. Doch ausgerechnet derjenige Spieler, der sich am ehesten als Star bezeichnen ließe, kritisierte gleich mehrfach öffentlich entscheidende Teile seiner Arbeit. „Wir wechseln zu oft das System während des Spiels“, sagte Andrej Kramaric zum Beispiel im Mai 2019, nach einem Spiel gegen Gladbach. „Wir sind nicht bereit dafür. Wir sind keine Roboter, sondern Menschen. Das sind viele Fehler von draußen.“ Nun kann man davon ausgehen, dass die besten Spieler Deutschlands auch taktisch am besten geschult sind, und wenn irgendwelche Fußballer an Roboter erinnern, dann die Ergebnismaschinen aus München. Doch trotzdem: Ein Trainer, der seine Spieler überfordert, würde auch bei den Bayern auf Widerstand stoßen. Vielleicht sogar grade dort.
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Ein anderes Mal war Kramaric persönlich beleidigt, weil Nagelsmann ihn nach 60 Minuten ausgewechselt hatte und so seine Serie von neun Spielen mit Tor am Stück gerissen war. Hätte er ein zehntes Mal getroffen, wäre er zumindest in dieser Kategorie mit Lionel Messi und Cristiano Ronaldo gleichgezogen. „Ich bin richtig enttäuscht und sehr sauer”, sagte Kramaric. Nagelsmann entschuldigte sich später und beteuerte, er habe von einem möglichen Rekord nichts gewusst.
Auch diese nach Daily Soap klingende Geschichte ließe sich leicht abtun als Lappalie, als sportlich irrelevante Lächerlichkeit. Doch allein die Vorstellung, Julian Nagelsmann könnte mit einer unbedachten Auswechslung einen Torrekord von Robert Lewandowski gefährden, lässt Münchens Boulevard-Reportern schon jetzt das Wasser im Mund zusammenlaufen. Und alles, was den FC Bayern zumindest ein bisschen zum FC Hollywood werden lässt, ist am Ende schlecht für den Trainer. Zumal sich bestimmte Personaldiskussionen gar nicht werden vermeiden lassen, schließlich ist Nagelsmann ein Trainer, der gerne rotiert. Ob er bei Bayern auch wirklich bis 2026 arbeitet, wird also auch entscheidend davon abhängen, mit wieviel Empathie und Autorität er seinen Stars in Zukunft erklärt, warum sie häufiger draußen sitzen, als sie das aktuell gewohnt sind.
„Nicht die Kosten noch weiter aufpumpen, sondern reduzieren!“
Apropos 2026. Nagelsmann hat einen langfristigen Vertrag unterschrieben – und soll im Idealfall entgegen gängiger Praxis auch wirklich so lange bleiben. Zumindest spricht die Ablösesumme von 25 Millionen Euro nicht unbedingt dafür, ihn bei der ersten Serie von zwei sieglosen Spielen direkt wieder zu entlassen. Dass für Trainer mittlerweile Ablösen gezahlt werden wie für Spieler, ist keine Erfindung der Bayern. Adi Hütter kostet Gladbach beispielsweise 7,5 Millionen Euro, Marco Rose Borussia Dortmund fünf Millionen Euro, für die gleiche Summe wechselte Nagelsmann 2019 von Hoffenheim nach Sachsen. Und natürlich ergibt es Sinn, Geld zu investieren, wenn es um eine sportlich so wichtige Position geht wie die des Trainers. Eigentlich verwunderlich, dass Transferausgaben für Trainer noch nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme sind.
Doch dass die Bayern im Mai 2021 einen neuen Weltrekord aufstellen, was eine Ablösesumme für einen Trainer angeht, ist dann doch bemerkenswert. Mindestens. Zur Erinnerung: Aktuell müssen die allermeisten Klubs aufgrund der Pandemie-Verluste jeden Euro zweimal umdrehen, viele kämpfen ums blanke Überleben. Es ist keine zehn Tage her, dass Fans in England gegen ein größenwahnsinniges Projekt wie die Super League auf die Straße gingen und protestierten. Und keine drei Tage, seit Karl-Heinz Rummenigge in einem Interview mit der Bild am Sonntag von einem „Dämon namens Transfermarkt“ sprach, dem sich die europäischen Vereine fälschlicherweise „unterworfen“ hätten. Im gleichen Interview forderte er übrigens auch, dass nun alle Vereine Europas „kleinere Brötchen backen“ und die „Kosten nicht weiter aufpumpen“ sollten. Und nun? Kaufen sie dem vermutlich ärgsten Konkurrenten der kommenden Jahre für eine Rekordsumme den Trainer ab. Ist das diese neue Demut? Spätestens mit dem Nagelsmann-Deal ist klar, dass beim FC Bayern auch in Zukunft große Brötchen gebacken werden.
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