Mesut Özil beendet seine Karriere. Vor einiger Zeit hat unser Autor ihn besucht: Am 15. Oktober, zu Özils Geburtstag. Sie sind gemeinsam durch London gefahren. Ein Wahnsinn.
Der folgende Text stammt aus der 11FREUNDE-Ausgabe #181, erschienen im November 2016. Das Heft gibt’s hier im Shop.
Gleich geht der Wahnsinn los. Mesut Özil lenkt sein Auto aus der Tiefgarage des Emirates. Er blickt hinauf zur Ausfahrt. Schweigt. Die letzten Sekunden Stille vor dem Sturm. An der Schranke warten sie bereits, sie stehen nach jedem Arsenal-Heimspiel dort, zahlreiche Fans, viele sehen aus wie er. Jungs mit Mesut-Frisuren, Mesut-Brillis, Mesut-Trikots. In den Händen halten sie Stifte, Programmhefte, Schals und Smartphones. Schon mal über getönte Scheiben nachgedacht? „Sind verboten“, sagt Özil. Aber nervt das nicht? „Ich war doch selbst mal Fan. In Madrid war vieles distanzierter, die Polizei hat alle Straßen um das Stadion abgeriegelt, überall Security.“ Er fährt langsam auf die Ausfahrt zu, kaum schneller als 20 Stundenkilometer. Jetzt geht der Wahnsinn los.
Die Fans laufen neben dem Auto her, klopfen an die Scheiben, immer und immer wieder. Özil, frisch geduscht, Trainingsanzug, Sneaker, dreht die Musik leiser. Tarkan, der Türkpop-Sänger, flüstert nur noch, „Kuzu Kuzu“ heißt das Lied, es handelt von Liebe und Sehnsucht. An der ersten roten Ampel hält er an, lässt das Fenster herunter, und die Kinder drücken sich beinahe kopfüber in sein Auto. „Mesut! Mesut!“, japsen sie, vollkommen erschöpft vom Gerenne. Sie rufen: „Great Goal!“ Oder: „Please stay at Arsenal! Pleeeease!“ Ein älterer Herr streckt ihm ein Kleinkind entgegen, wohl in der Hoffnung, dass er, der Zauberer von Oz, seinen Filius in einen Wunderspieler verwandelt. Özil unterschreibt ihre Mitbringsel, er lässt sich fotografieren, nimmt ihre Smartphones entgegen, ein paar Selfies, pleeeease, er macht alles mit, was sie von ihm verlangen. Nach etwa fünf Minuten sagt er: „Be careful“ und fährt weiter, die nächste Ampel bereits in Sichtweite.
„Wer Özils Spiel nicht liebt, liebt den Fußball nicht“
Jetzt aber schnell, eine Einstiegsfrage. Vielleicht zur aktuellen Form. Neulich konnte man von einer Ernährungsumstellung lesen, grüner Tee, weniger Brot. Was ist dran? „Ich habe ein paar Kleinigkeiten geändert, ich bin definitiv auf einem guten Weg“, sagt er. Auf einem guten Weg? Der „Guardian“ hat Özil zuletzt mal wieder mit Arsenal-Legende Dennis Bergkamp verglichen, der TV-Sender Sky belegte anhand seiner Passstatistik, dass er der kreativste Spieler in der Geschichte der Premier League ist. Auch in Deutschland werden gerade Hymnen auf ihn verfasst. Die „Süddeutsche Zeitung“ befand nach dem Länderspiel gegen Tschechien etwa, dass wir gerade den „besten Mesut seit der Olgastraße“ erleben, also den besten Özil, seit er auf dem Bolzplatz in Gelsenkirchen-Bismarck die älteren Jungs beim Dribbling stehenließ wie Tischkickerfiguren. Also, Mesut: Mal ehrlich, Sie sind doch in der Form Ihres Lebens! Özil, immer noch etwas unsicher, wer da auf dem Sitz neben ihm Platz genommen hat, mag Eigenlob nicht, und das ist ja eigentlich eine gute Eigenschaft. Er bleibt erst mal bei den unverbindlichen Profisätzen, wie man sie von ihm kennt: „Die Saison ist noch jung, und ich muss weiter an mir arbeiten.
Mesut Özil hat über 80 Länderspiele gemacht. Er ist deutscher Pokalsieger geworden, englischer Pokalsieger, spanischer Meister und Weltmeister. José Mourinho sagt über ihn: „Es gibt keine Kopie von Özil, nicht mal eine schlechte.“ Arsène Wenger sagt: „Wer Özils Spiel nicht liebt, liebt den Fußball nicht.“ Er spielt Pässe aus dem Fußballgelenk, die Denksportaufgaben für Physiker sein könnten. Er ist seit zehn Jahren Fußballprofi. Er stand immer da, wo auch die Mikrofone waren, trotzdem war es nie leicht, ihm nahe zu kommen.
Özil bleibt stets höflich, das schon, trotzdem merkt man, dass er sich in künstlichen Situationen, in Interviews oder auf Pressekonferenzen, selten richtig wohl fühlt. Ohne den Ball am Fuß wirkt er fragil, beinahe ängstlich. Wie ein Kind, das die Eltern gegen seinen Willen auf eine Familienfeier mitgenommen haben und das am liebsten ganz schnell heim möchte, zurück zu den Freunden, auf den Bolzplatz, an die Playstation. Berichtet wird natürlich trotzdem. Über Popstar-Sternchen an seiner Seite, seine Reise nach Mekka, die leidige Nationalhymnendiskussion oder den Streit mit seinem Vater Mustafa, den er vor zwei Jahren von seiner Beraterfunktion entband und durch seinen Bruder ersetzte. Özils Geschichte ist auch eine Telenovela. Und wenn es doch mal um Fußball geht, ist das Hauptthema: seine Körpersprache. Özil, das lustlose Genie, der Spieler, der bei Rückständen die Schultern hängenlässt.
Jetzt zieht er die Schultern hoch. Er mesutözilt: „Wert hat nur das, was Trainer sagt.“ Er meint: Was wissen die Leute schon über mich?
Vielleicht hatte dieses Treffen auch deswegen einen Vorlauf von über einem halben Jahr. Außerdem muss man wissen: Um Özil hat sich in den letzten Jahren eine große Gruppe von professionellen Kümmerern und Helfern formiert. Die meisten sind Freunde, Verwandte, Bekannte. Eine Firma in München organisiert die Pressearbeit, die Özil Marketing GmbH in Düsseldorf kümmert sich um die Vermarktung. Es gibt etwa Hubert Raschka, einen Berater, er ist der erste Ansprechpartner. Es gibt Dr. Erkut Sögüt, einen Rechtsanwalt und lizenzierten Spielerberater, der zwischen London und Düsseldorf hin- und herjettet. Dann ist da noch Mutlu Özil, der Bruder und Geschäftsführer an der Düsseldorfer Königsallee. Oder Serdar Özil, der Cousin, der mit Mesut in London lebt. Sie wägten ab, fragten, wie die Stoßrichtung der Geschichte sei, 11 FREUNDE, na ja, haben auch nicht immer positiv berichtet. Und überhaupt, so denken sie wohl: Was bringt eine Reportage jemandem, der mit einem 15-sekündigen Instagram-Video seines Hundes 1,2 Millionen Follower erreicht? Der bei Twitter mehr Fans hat als Kobe Bryant und bei Facebook fast doppelt so viele wie Madonna?
Wie menschliche Widerhaken
Schließlich kam aber das Okay von seinen Beratern. Man wolle es versuchen, am 15. Oktober, an seinem 28. Geburtstag, eine gemeinsame Fahrt durch London. Und vielleicht ist das wirklich der beste Rahmen, um Özil nahe zu kommen, nicht nur räumlich auf dem Beifahrersitz. Ein bisschen plaudern, ein wenig den Regen im Scheinwerferlicht beobachten, die Streets of London, dazu Türkpop. Und auch wenn Özil anfangs etwas schweigsam ist, scheint er guter Dinge. Eben hat Arsenal 3:2 gegen Swansea gewonnen, und er machte das zwischenzeitliche 3:1. Ein Volleyschuss unter die Latte. Die Fans sangen: „We’ve got Ozil. Mesut Ozil. I just don’t think you understand. He’s Arsene Wenger’s man. He’s better than Zidane.“ War es jemals so laut beim FC Arsenal?
Özil tritt auf die Bremse, die nächste rote Ampel, das gleiche Schauspiel. Meeeesut! Mesut! Happy Birthday! Great Goal! Und dann kommt ein Mann von vorne, schreibt rasch eine Botschaft auf einen Zettel und hält ihn an die Frontscheibe: „Bir Selam! Emin aus Essen“, viele Grüße von Emin aus Essen. Özil, leise, aber bestimmt: „Be careful!“ Ein Junge wiederholt für die anderen: „Careful! Don’t scratch his car!“ Özil fährt langsam an, aber es geht nicht vorwärts, die Kinder hängen am Wagen wie menschliche Widerhaken. Also gut. Noch der Junge und der da hinten, und dann ruft noch einer etwas auf Türkisch. Okay, der auch noch. Meeeesut! Aşkım! Meine Liebe!
Özil zeigt auf die nächste Kreuzung, 200 Meter entfernt, direkt neben einem Pub. Er sagt: „Da geht’s noch mal ab.“ Und dann: „Du darfst nicht vergessen, wo du herkommst.“ Auch so ein Satz aus dem Baukasten, ein Kalenderspruch. Eigentlich. Bei Özil hat er einen anderen Klang. Auch wenn man sich hier, in diesem Pulk von Fans, kaum vorstellen kann, wie ein Mensch auf dem Boden bleibt, wenn ihn andere an jedem Wochenende in den Himmel heben.
Wer wissen will, wie der Boden aussieht, auf dem Özil bleiben möchte, muss ins Ruhrgebiet fahren. Nach Gelsenkirchen. In seinen alten Stadtteil Bismarck, rissiger Asphalt, schimmelige Hausfassaden, Eckkneipen-Romantik. In die Olgastraße, zu dem eingezäunten Bolzplatz, den die Jungs „Affenkäfig“ nennen. An seine alte Schule Berger Feld, die sich im Schatten der Schalker Arena befindet. Und nach Essen, zu Werner Kik, wo alles begann.
Der Goldjunge von der Olgastraße
Kik, 77, graue Bundfaltenhose, grünes Polohemd, empfängt an einem Dienstagmorgen Anfang Oktober in seinem Wohnzimmer. Er spielte in den sechziger Jahren für Rot-Weiss und war in den Nullerjahren Jugendkoordinator des Klubs. Ein freundlicher weißhaariger Mann, der „Prost“ sagt, wenn er einen Schluck aus seinem Wasserglas nimmt. Und der ein wenig aufgeregt ist, weil es heute um Mesut Özil gehen soll.
Es war irgendwann im Sommer 2000, als es an seiner Tür auf der Geschäftsstelle klopfte und Mustafa Özil sich vorstellte. Er fragte, ob sein elfjähriger Sohn mal mittrainieren könne, denn er sei ziemlich gut. Na schön, dachte Kik, zeig mal, was du kannst – und dann war er baff. Schon nach der ersten Einheit bot Kik dem Vater einen richtigen Vertrag an, dazu einen persönlichen Fahrdienst, der den Jungen nach der Schule von Gelsenkirchen nach Essen bringen sollte. „Weißt du noch, wie du nach Hause kamst, Werner?“ Kiks Ehefrau steht im Türrahmen. „Du warst ganz aufgeregt. Hast gesagt: Heute war einer da, der wird mal ein ganz Großer.“ Der ehemalige RWE-Profi schaut beschämt zur Seite. „Ach, das konnte ich eigentlich gar nicht wissen“, sagt er. „Das wäre ja vermessen.“ Und dann erinnert er sich, wie er mal ganz nervös wurde, als der Goldjunge nicht zum Training erschien. Hatte er keine Lust mehr? War er abgehauen? Zu einem anderen Verein? Am Ende fand Kik heraus, dass Özil an jenem Abend mit seinen Jungs im Affenkäfig in der Olgastraße gespielt hatte. Es stand wohl ein wichtiges Spiel gegen die Nachbarstraße an.
Döner für den Sieger
Özil, nun ein feines Lächeln auf den Lippen, rutscht im Sitz hin und her. Die Augen, die sonst immer ein bisschen müde aussehen, leuchten. Es geht ja ums Bolzen, ums Kicken, wie er es immer noch nennt. Heimischer Boden, bekanntes Terrain. Und plötzlich kommt er ins Reden und beendet Sätze mit netten Pointen. „Es gab nur Fußball für uns, von morgens bis abends. Es gab sogar eine richtige Straßenmeisterschaft“, sagt er. „Ich hatte damals krassen Respekt vor den Älteren. Und natürlich habe ich nach Fouls manchmal gedacht: Jetzt revanchierst du dich, aber im nächsten Moment hatte ich Sorge, dass ich von denen dann ordentlich Haue bekomme. Wenn wir verloren haben, mussten wir den Siegern Döner ausgeben, und manchmal war das ganz schön blöd, weil, wir bekamen ja nur fünf Mark Taschengeld, und die waren dann schnell weg.“ Dann mussten sie das nächste Spiel gewinnen – oder es gab bis zum Ende des Monats nur Süßigkeiten vom Kiosk. Was aber auch nicht so schlimm war. „Ich liebe diese bunten Tüten von der Bude“, sagt Özil.
Vor dem Länderspiel gegen Tschechien war er mal wieder da. Zu Hause, sagt er. In der Olgastraße. Freunde besuchen. Die Erinnerungen waren sofort wieder da, Bilder, Gerüche. Köfte an der Ecke, der Laden mit dem Wassereis, aber vor allem: Fußball. Die Tricks von Zinédine Zidane üben, die Schüsse von Ronaldo, die Flanken von Luis Figo.
Als Mesut Özil 17 Jahre alt war, hatte er eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie seine Zukunft aussehen sollte. Er war damals in die Jugendabteilung des FC Schalke 04 gewechselt und traf dort auf Norbert Elgert, einen Trainer, der neben Özil auch Julian Draxler, Manuel Neuer oder Benedikt Höwedes den Feinschliff für die Profis verliehen hat. Der 59-jährige Elgert, früher selbst Profi bei Schalke, sitzt in der Lobby des Courtyard Hotels, direkt neben dem alten Parkstadion. Ein sachlicher Typ, alte Schule, prägnante Formulierungen. Erstaunt sei er nicht, dass Özil ein erfolgreicher Fußballprofi wurde. War ja selbstbewusst, sagt er. Wusste, was er wollte. Sätze, die man mit dem frühen Özil nicht unbedingt in Verbindung bringt. Muss man sich nicht eher wundern, dass es einer wie dieser schüchterne Junge im Ellbogengeschäft Fußball überhaupt geschafft hat? Nein, sagt Elgert. Schüchtern sei Özil nie gewesen. Zurückhaltend, ein wenig introvertiert, aber eben auch zielstrebig.
Özil werde oft falsch bewertet, sagt sein Förderer
Als Elgert den Nachwuchsspieler mal nach seinen Plänen fragte, sagte der seine Karriere voraus. „Er wollte erst Stammspieler in der U19 werden, dann Profi bei Schalke – danach zu Real Madrid oder Barcelona und irgendwann auch mal beim FC Arsenal spielen. Tatsächlich in der Reihenfolge.“ Ein Prophet? Ach. Ein Wunder? Mmmh. Der Trainer mag die Hysterie im Profifußball nicht, diesen Apparat, der nur Begriffe wie „Superstar“ oder „Versager“ kennt. In dem jeder sich „Experte“ nennt, der irgendwann mal zehn Bundesligaspiele gemacht hat. Er sagt, dass Özil oft falsch bewertet werde. Schon die Diskussionen um seine Körpersprache! Viele würden sein Spiel gar nicht verstehen, sagt Elgert und zeichnet mit seinen Händen Wege auf den Tisch. Özil, sagt er, schleiche sich oft frei, biete sich zwischen den Linien an, ohne dass seine Gegenspieler es mitbekämen. Er spiele viel häufiger Risikopässe als andere. Und ein Wert wie Laufleistung sage auch nichts aus. Es komme schließlich nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität der Sprints an.
Der Kontakt zwischen den beiden, dem Lehrmeister und dem Schüler, ist nie abgebrochen. Özil lud Elgert 2013 zum Copa-Finale zwischen Real und Atletico Madrid ins Bernabeu ein. Als Özil ein Jahr später einen Ehrenpreis für soziales Engagement bekam, bat er seinen alten Trainer, die Laudatio zu halten. Manchmal schickt er ihm noch SMS. In einer stand: „Trainer, falls Sie mal etwas brauchen, ich bin für Sie da.“
„Eigentlich nur Fußball“
Wenige hundert Meter entfernt liegt die Gesamtschule Berger Feld. In einem Flur befindet sich eine Art „Wall of Fame“, hier hängen gerahmte Bilder von Manuel Neuer, Ralf Fährmann oder Joel Matip. Alle gingen hier zur Schule, alle hatten ein großes Ziel: Irgendwann in der Schalker Arena aufzulaufen, die sich hinter dem Schulhof und den Bäumen erhebt. Die Lehrer an der Gesamtschule haben in den vergangenen Jahren unzählige Interviews zu ihren ehemaligen Schülern gegeben. Einer wurde mal mit den Worten zitiert, Özil sei „ein wenig autistisch“ gewesen, was natürlich blöd klang. Der ehemalige Klassenlehrer Christian Krabbe formuliert es nun anders: „Er war bescheiden und stand nicht gerne im Mittelpunkt. Er wollte eigentlich nur Fußball spielen. Und das ist bis heute so.“
Dann erzählt er seine Lieblingsanekdote, die sich zutrug, als Özil bereits Profi auf Schalke war. Krabbe traf damals in der Kantine einen Schüler, der aus der Klasse verwiesen worden war, weil er seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. „Ich soll einen Text über mein Idol schreiben“, sagte der Junge. „Wer ist denn dein Idol?“, fragte Krabbe. „Mesut Özil. Aber ich weiß nicht, was ich schreiben soll“, antwortete der Schüler. Krabbe holte sein Handy raus, wählte Özils Nummer und übergab das Telefon. „Sprich doch mal mit ihm. Vielleicht fällt dir dann was ein.“ Der Schüler und der Fußballprofi unterhielten sich ein paar Minuten auf Türkisch, dann schrieb der Junge seinen Text und kehrte mit strahlenden Augen in die Klasse zurück. Krabbe macht eine Pause. Dann sagt auch er diesen Satz: „Mesut hat nie vergessen, wo er herkommt.“
Wie passen solche Erzählungen zu den Zeitungsberichten aus jener Zeit? Als Özil 2008 vor dem Wechsel zu Werder Bremen stand, schrieb etwa die „Welt“ von einem Profi mit „Imageproblemen“. In der öffentlichen Wahrnehmung verfestigte sich das Bild eines Jungprofis, der sich nicht an Absprachen hält, eine Marionette seines Vaters ist und sich vom vielen Geld verrückt machen lässt. Es ist, wie so häufig, alles eine Frage der Perspektive. So auch der aktuelle Vertragspoker bei Arsenal. Es heißt, Özil könnte bald über zehn Millionen Pfund im Jahr verdienen. Was einen Stundenlohn von über 1200 Euro macht. Eine Summe, die einige seiner alten Bolzplatz-Freunde im Monat bekommen. Natürlich kann man da fragen, was so etwas mit einem Menschen macht. Man kann sich wundern, wofür jemand so viel Geld braucht. Und man kann staunen, wie man über diesen Irrsinn die Olgastraße nicht vergessen kann. Heute, an seinem 28. Geburtstag, ist die Olgastraße mit Sack und Pack nach London gekommen. Es sind Brothers From Another Mother, wie man so sagt, Bros, Brudis, Habibis, ein gutes Dutzend Jugendfreunde. Sie nennen Özil „Mesut Abi“, großer Bruder. Und wenn man ihre gemeinsame Geschichte hört, wirkt einiges ganz schön kitschig, aber es rührt auch an, weil ein Traum tatsächlich wahr wurde.
Der Schwur von der Olgastraße
Für viele von ihnen begann 2012 ein neues Leben. Damals gründete Özil gemeinsam mit seinem Vater die Özil Marketing GmbH. Heute ist nicht nur sein Bruder Mutlu Geschäftsführer, auch einige seiner besten Freunde hat er angestellt. Wenn man ihn nach der Firma fragt, sagt er: „Ich wollte, dass sich niemand sorgen muss. Und ich wollte mit meinen Freunden in den Urlaub fahren, und das konnten wir früher oft nicht.“ Denn früher, als sie noch andernorts beschäftigt waren, musste Özil darauf hoffen, dass sie von ihren Chefs frei bekommen. Außerdem hätten sie sich schon damals, in der Olgastraße, geschworen: Wenn einem der Aufstieg gelingt, ganz nach oben, dann nimmt er die anderen mit. Ein Satz, der klingt wie aus der Biografie eines Musikers, der es eines Tages von der Bronx in den Madison Square Garden schafft und seine komplette Gang von einst als Hintergrundsänger mit auf die Bühne schleppt. Ganz egal, ob die Mikrofone angeschlossen sind.
Die meisten seiner Freunde haben bodenständige Berufe erlernt. Baris, Özils bester Freund, war früher Autohändler. Erkan, ebenfalls aus der Jugendclique, arbeitete als Tankwart. Beide sind in Özils Firma im Bereich „Scouting & Beratung“ tätig. Sie wurden angelernt von Erkut Sögüt, dem Rechtsanwalt. Er ist so etwas wie der strategische Kopf des Unternehmens. Für Außenstehende mag dieses Geflecht dubios wirken. Als hätte jemand eine riesige Entourage als menschliches Schutzschild um sich versammelt. Und man stellt sich vor, wie vor der VIP-Box all die Jungs Schlange stehen, die Özil im Affenkäfig mal ein Tor aufgelegt haben. Aber so ist das nicht. Das beste Beispiel ist Erkan. Der junge Mann, Baseballcap, weißes Shirt, weiße Sneaker, kennt Özil seit Kindertagen. Er ist der jüngste Mitarbeiter in der Agentur. Als er vergangenes Jahr Vater wurde, war es für Özil logisch, dass sie ihn auch einstellen. Schließlich könne der Jugendfreund mit dem Geld von der Tankstelle keine Familie ernähren.
Erkan ist der Spaßvogel der Gruppe. Er redet sehr schnell und sehr viel, und obwohl er schon ein paar Mal im Emirates war, hat er sich seine kindliche Neugier bewahrt. Guck hier, da kommen die Spieler an. Guck dort, da sind die Kabinen. Ein wenig ungläubig scheint er darüber, dass er vor kurzem noch hinter einer Kasse stand und sich über Diesel- und Benzinpreise Gedanken machte und heutzutage in einem Designerbüro an der edlen Düsseldorfer Königsallee sitzt und überlegt, ob er nächste Woche sowohl zum Auswärtsspiel nach Paris als auch zum Premier-League-Spiel in London fahren soll.
In Özils Brudi-VIP-Box im Emirates werden Köfte, Chai und türkisches Brot serviert. Ein junger Mann setzt sich. Auch aus der Olgastraße? „Spricht kein Deutsch. Ali aus London! Englisch!“, sagt Erkan. Ali ist Student. Er will Zahnarzt werden und sagt, er sei schon immer ein riesiger Özil-Fan gewesen. „Achte mal auf ihn! Diese Präsenz! Diese Assists! So was siehst du nur live im Stadion.“ Vielleicht hat Ali recht. Vielleicht ist Özil kein Fernsehfußballer. Wenn man ihn in natura gegen Swansea beobachtet, kann man zwar auch wieder Pausen erkennen und manchmal gehen auch die Schultern runter. Aber: Özil ist in den entscheidenden Situationen präsent, er schleicht sich frei, wie Elgert es nannte.
Özil entknotet das Spiel
Diskussionen um Özils Körpersprache gibt es, seit er Profi ist. Oft heißt es, er spiele uninspiriert, bewege sich träge über den Platz. Auch während der EM wurde er kritisiert, vor allem nach dem Spiel gegen die Ukraine. Die „Sportbild“ schrieb damals, er sei blass geblieben, Später fand die Datenfirma Impect heraus, dass es während des Turniers keinen Mittelfeldspieler gab, der sich mehr anbot und häufiger angespielt wurde als Özil. In der Premier League ist der Arsenal-Spieler vor allem für seine Vorlagen bekannt, 19 Assists gab er in der Saison 2015/16. Und auch heute gegen Swansea legt er ein paar Bälle auf. Dabei tippt er den Ball manchmal nur an, vermeintlich unscheinbare Assists, zwei Meter, drei Meter, mit der Seite, mit dem Außenrist. Aber plötzlich, im Bruchteil einer Sekunde, wirkt das ganze Knäuel aus Mit- und Gegenspielern am Strafraum, als hätte es jemand entknotet. Man denkt unweigerlich an diesen Tweet, der vor wenigen Wochen die Runde machte: „Mesut Ozil assisted the nurses during his own delivery“. Eine Art Chuck-Norris-Witz, der viel über die Wertschätzung aussagt, die der Deutsche in London genießt.
Aber weiter mit Ali, dessen Geschichte auch wie ein Jugendtraum klingt. Eine Geschichte, die all jene staunend zurücklässt, die Özil nur aus der „Bunten“ oder der „Gala“ kennen. Vor ein paar Jahren sah Ali sein Idol in einem Restaurant sitzen und überlegte, ob er ihn ansprechen sollte. Aber würde der große Star ihn, einen kleinen Studenten, überhaupt eines Blickes würdigen? Er schickte seine Mutter vor. „Herr Özil, mein Sohn ist ein großer Fan von Ihnen“, sprach sie ihn an, „darf er sich zu Ihnen setzen?“ Ali durfte. Sie unterhielten sich auf Türkisch und tauschten Telefonnummern aus. Heute sind sie enge Freunde, ganz normal, so weit das geht. Der eine besucht eben Vorlesungen mit ein paar Kommilitonen, dem anderen jubeln Hunderttausende zu. Sie waren sogar gemeinsam im USA-Urlaub, erzählt Ali.
Der Wahnsinn geht weiter
Ein paar Minuten später schießt sein Kumpel das 3:1. Ali, Erkan, Baris und die anderen hüpfen durch die Loge, rufen „Bämm!“ oder „Woah!“, high five, low five, Gelsenkirchen-Bismarck represent, als hätten sie alle gemeinsam von der Olgastraße Anlauf genommen, um den Ball unhaltbar unter die Latte zu dreschen. Als sie sich wieder setzen, sagt einer: „Wenn er will, dann kann er ja.“ Will er denn nicht immer? Der junge Mann lächelt.
Özil zeigt zur Kreuzung. „Da ist der Pub.“ Die Vereinsführung habe die Spieler angewiesen, hinter dieser Ampel keine Autogramme zu geben, da viele Fans die unterschriebenen Trikots teuer verkaufen. Özil sagt nur: „Ich mag es nicht, wenn die Erwachsenen die Kinder wegstoßen.“ Er fährt auf der mittleren Spur auf die Ampel zu, stoppt hinter einem anderen Wagen. Aber sie sehen ihn trotzdem. Kommen angerannt. Özil lässt wieder das Fenster runter. Und dann geht der Wahnsinn weiter. Sie singen wieder „Happy Birthday“. Singen wieder sein Lied, das von „Arsene Wenger’s man“ und dass er besser als Zidane sei.
Da man gerade bei Zidane ist: Wie war es eigentlich mit dem großen Vorbild bei Real Madrid? „Hände haben geschwitzt“, sagt Özil. Und dann nimmt er sich ein Herz und erzählt eine schöne Geschichte. „Ich hoffe, Sami ist mir nicht böse. Aber das war irre, 80-Meter-Pass von Ramos, Zidane nimmt Ball runter, einfach so. Sami kommt angerannt, Zidane macht Körpertäuschung.“ Özil bewegt sich am Steuer hin und her und zeigt noch mal, wie genau Sami Khedira angerannt kam. „Da hinten hin. Aber der Ball war immer noch an Zidanes Fuß. Sami war bisschen sauer. Aber dann hat er auch gelacht. Und alle haben applaudiert!“
Mesut bedeutet „der Glückliche“. Und jetzt, kurz vor dem Ende der Fahrt, scheint er wirklich glücklich. Vielleicht weil er es fast geschafft hat. Weil er gleich mit seinen Kumpels losziehen kann. Vielleicht aber auch, weil er die alten Geschichten erzählt hat. Geschichten vom Kicken. Vom Fußball. Geschichten, die ihm etwas bedeuten. Ist er durch den Fußball offener geworden? „Offen war ich immer und bin es auch heute noch. Zumindest wenn ich Leute um mich herum habe, denen ich vertraue, die ich kenne und mag.“ Als Arsène Wenger gefragt wurde, ob Özil ein Führungsspieler sei, sagte er: „Mesut ist zurückhaltend, aber wenn er etwas sagt, dann bringt er die Sachen auf den Punkt.“
„Läuft bei dir!“
Wenig später bei Özil zu Hause. Eine Villa im Stadtteil Highgate, nicht zu prunkvoll von außen, aber vor der Tür parkt ein Ferrari. Im Eingangsbereich hängt ein riesiges Bild von einem Löwen. Draußen regnet es, Özils Mops rast durch die Tür, er heißt Balboa, wie Rocky, natürlich, from zero to hero. Es klingelt, die Bros und Habibis kommen rein. Özil verschwindet im Obergeschoss, und Sögüt, der Rechtsanwalt mit der Beraterlizenz, kramt sein Handy hervor. „Pssst“, sagt er. „Ich zeige euch ein Video, das wir für seinen Geburtstag aufgenommen haben.“ Es ist ein Fünf-Minuten-Clip, in dem viele Weggefährten und Mitspieler Mesut zum Geburtstag gratulieren: Robert Pires, Luka Modric, Ilkay Gündogan, Jerome Boateng. Auch sie nennen ihn Mesut-Abi. „Alle haben mitgemacht. Findste gut?“
Als Özil später das Video sieht, strahlt er. Vor allem bei Lukas Podolski. Der sagt: „Mesut-Abi! Mein Geschenk hast du ja schon erhalten. Die Zehn!“ Und dann ergänzt der Galatasaray-Spieler auf Türkisch: „Amina Koyim!“ Fick dich. Ein Brudi-Scherz. Schließlich hat Özil in einigen Interviews gesagt, dass er nicht nur in der Nationalelf, sondern auch bei Arsenal gerne die Zehn hätte. Noch so ein Jugendtraum, schließlich wollte er auch früher immer die Zehn haben, weil Diego Maradona und Pelé sie trugen und sie voller Mythen ist. Aber warum ist eine einfache Zahl auf dem Trikot überhaupt so wichtig? Özil sagt: „Wenn man in die Kabine geht, und dann hängt da am Spind das Trikot mit der Zehn und deinem Namen, das ist ein gutes Gefühl.“ Er grinst. Und resümiert: „Dann denke ich halt ‚Läuft bei dir!‘“
Justin Bieber und der Tankwart
Am nächsten Morgen berichten einige Klatschseiten im Internet über Özil. Es geht nur am Rande um den Sieg gegen Swansea, Hauptthema ist Özils Geburtstagsparty in der Edeldiskothek Tape, wo er bis drei Uhr gefeiert haben soll. Justin Bieber war auch da. Auf den Paparazzi-Bildern sieht man den Profi auf dem Weg zum Eingang, die Cap tief ins Gesicht gezogen. Im Hintergrund: der verschmitzt lächelnde Erkan, der Tankwart a. D. Und irgendwo dahinter: die komplette Brudi GmbH, der beste Freund Baris, Bruder Mutlu, Cousin Serdar, Kümmerer Erkut, Student Ali, ein einziger endloser Sommer.
Einen Tag später posten Bieber und Özil ein gemeinsames Foto über ihre Facebook-Kanäle. Mehr als 100 Millionen Menschen sehen das Bild. Drei Tage später schießt Özil beim Champions-League-Spiel gegen Ludogorez Rasgrad drei Tore in 30 Minuten. Es ist der erste Hattrick seiner Karriere und für Arsenal der siebte Sieg in Folge. Tatsächlich: Läuft bei ihm.
Ein diese Reportage begleitendes Interview mit Mesut Özil findet ihr hier »>