Graham Potter, Trainer von Dortmunds Gegner Chelsea, probierte sich vor ein paar Jahren noch als Hobby-Sänger in der schwedischen Prärie. Nämlich beim Östersunds FK, wo er seine Spieler zur Kultur zwang. Wir statten ihm damals einen Besuch ab.
Diese Reportage erschien erstmals in 11FREUNDE #179. Das Heft gibt’s hier im Shop.
„Ich wäre die perfekte Terroristin.“ Karin Wahlén grinst. „Ich werde hier am Flughafen nicht einmal mehr kontrolliert. Die Leute winken mich einfach nur durch und sagen: Hej Karin!“ Wahlén fliegt im Moment ziemlich viel zwischen Stockholm und ihrem Heimatort Östersund hin und her, was daran liegt, dass sie zwei Jobs hat. In der schwedischen Hauptstadt, in der die 35-Jährige seit 16 Jahren lebt, betreibt sie eine kleine PR-Firma – und sie ist Kulturcoach des Erstligisten Östersunds FK.
Nun gibt es im hochdifferenzierten modernen Fußball mittlerweile alle möglichen Berufsbilder: Cheftrainer, Co-Trainer, Athletiktrainer, Rehatrainer, Ernährungsberater – was zum Geier aber ist ein Kulturcoach?
Selbstgemachtes Crossover
Man muss dazu wissen, dass der Östersunds FK, gelegen am – Pardon – Arsch der Welt in der bevölkerungsärmsten schwedischen Provinz Jämtland, kein Verein wie jeder andere ist. Der Klub übt sich seit Jahren in einem Crossover, das in der Fußballwelt einzigartig ist.
In den letzten Jahren hat er ein Theaterstück, ein Buchprojekt, eine Kunstausstellung und eine ans Ballett „Schwanensee“ angelehnte Tanzaufführung auf die Beine gestellt – wohlgemerkt nicht nur veranstaltet, sondern selbst gemacht, und alle waren mit dabei: Spieler, Trainer, Physiotherapeuten, Geschäftsstellenmitarbeiter, alle. Morgen werden sie eine neunzigminütige Musikrevue aufführen, zu der bis zu 2000 Zuschauer erwartet werden.
Sind die völlig bekloppt?
Jubel oder Ausruckstanz
Noch gut dreißig Stunden bis zum Auftritt, und die Spieler des ÖFK tun ein letztes Mal das, wofür sie eigentlich bezahlt werden: Fußball spielen. Beziehungsweise trainieren. Doch es ist gleich zu spüren, dass dies keine Übungseinheit wie jede andere ist. Die Spieler singen bereits beim Aufwärmen, und nach einem Tor im Trainingsspiel gibt es einen ausgelassenen kollektiven Jubel, der an einen Ausdruckstanz erinnert. Kultur ist hier alles, und alles ist Kultur.
„Die Atmosphäre im Kader hat sich durch die Kulturprojekte verändert“, sagte Lasse Landin. „Das hat viel damit zu tun, dass die Spieler Sachen machen, die Fußballer und Männer normalerweise nicht tun.“ Landin ist der Vater von Karin Wahlén und Geschäftsstellenleiter. Er ist seit der Klubgründung 1996 dabei und deshalb ein guter Mann, um die wichtigste aller Fragen zu beantworten: Warum machen die das?
„Weil wir eljest sind“
Landin, ein gütig dozierender Ex-Lehrer, der wirkt wie ein in Ehren ergrauter Sozialdemokrat, sagt: „Weil wir eljest sind.“ Dieses aus der Gegend stammende Wort wird einem in den nächsten Tagen öfter begegnen. Es bedeutet „eigensinnig“, aber auch „verschroben“. Eventuell „nicht ganz richtig im Kopf“, das aber im besten Sinne.
Um zu erklären, weshalb der Klub so ist, wie er ist, holt Landin ein bisschen aus. Das kann er gut. Der ÖFK, wie ihn die Fans nennen, entstand vor zwanzig Jahren als Fusionsklub zweier mittelmäßig erfolgreicher örtlicher Vereine. „Anfangs haben wir noch darauf gehofft, dass irgendwann ein Millionär vorbeikommt“, sagt Landin. Aber natürlich kam keiner.
2010 nahm der Klub all sein Geld zusammen, um den großen Wurf zu landen – und stieg von der dritten in die vierte Liga ab. Danach blieben vom alten Vorstand noch Landin und der jetzige Präsident Daniel Kindberg übrig, und eine Erkenntnis gab es gratis dazu: „Dieses Rattenrennen hat keinen Zweck. Wir müssen es irgendwie anders machen.“