Ein monumentales Bauwerk! Eine Tribüne wie ein Luxusliner. An Deck flanierten die Fabrikanten mit Hut und Zigarre. Im runden Wohlstandsbauch des Gemäuers alles, was das Fußballerherz begehrt: Gaststätte, Geschäftsstelle, ein neumodisches Entmüdungsbecken, eine Sauna, drei Zimmer für Nachwuchstalente und für den Winter eine eigene Turnhalle. Rot-Weiss Essen in den Fünfzigern – das war ein Hauch von großer, weiter Fußballwelt. 1956 wurde die erste bundesdeutsche Flutlichtanlage eingeweiht. Ein ewiges Licht sollte es sein. Symbol einer wunderbaren Zeit: Wirtschaftswunder. Wunder von Bern, dessen großer Held, der Essener „Boss“, mit RWE nach dem gewonnenen Meisterfinale 1955 in den Fußballhimmel aufstieg.
Wie fett die Jahre waren, erkennt der Besucher bis heute auf den verblichenen Fotografien im Klubheim: Eine zeigt Bundestrainer Sepp Herberger im Gespräch mit Georg Melches, seit der Jahrhundertwende die prägende Gestalt des Vereins, dessen Namen das einstige „Stadion an der Hafenstraße“ seit 1964 trägt. Beide haben je zwei dicke Stücke Torte vor sich auf dem Teller. Man gönnte sich ja sonst nicht. Und überhaupt: Deutschland war wieder wer. Und das Ruhrgebiet war stets ein kleines bisschen mehr Deutschland in dieser Zeit – zumindest, was den Fußball anbetraf. Siege wurden nach demselben Prinzip eingefahren wie die Kohle in den Zechen – nicht mit Hacke, Spitze, eins, zwei, drei, sondern mit harter, ehrlicher Arbeit. Ein Prinzip, aus dem sich hier in Essen ein bodenständiges Selbstbewusstsein entwickelt hat. Im Aufgang zur Geschäftsstelle steht es noch heute in Marmor gemeißelt: „RWE war wer, RWE ist wer, RWE bleibt wer!“
Im Kader stehen nur Arbeiter auf Zeit
Die Gegenwart lässt Zweifel aufkommen, ob dieses Mantra die Zeit überdauert hat. Der Klub dümpelt seit zwei Jahren in der Regionalliga. Mit dem Aufstieg hat der Verein trotz eines Jahresbudgets von sechs Millionen Euro in dieser Saison nichts zu tun. Wer durch die Transferlisten blättert, bekommt den Eindruck, das Klubmanagement greife bei Verpflichtungen auf Zeitarbeitsfirmen zurück, so hoch ist die Fluktuation der Profis. Am Schlimmsten aber nagt am Mythos „RWE“ der Verfall der einst epochemachenden Spielstätte. Nach der sportlichen Bedeutung ist Rot-Weiss auf dem besten Weg, auch sein Zuhause zu verlieren. Denn das Georg-Melches-Stadion ist eine Trümmerlandschaft. Von der historischen Flutlichtanlage stehen nur noch drei Masten, die Fans stehen eingepfercht auf zweieinhalb Tribünen, der Rest ist Brachland.
„Im Moment ist das alles ein bisschen blöd“, seufzt Stefan Meutsch. Ironie ist vielleicht die einzige Möglichkeit, mit der Situation umzugehen. Der RWE-Präsident sitzt vor dem Spiel gegen einen Fünftligisten im Niederrhein-Pokal in der Vereinsgaststätte. Es ist Dienstagabend und Meutsch inhaliert sechs Pils und zwei Frikadellen, weil gleich schon Anpfiff ist. Zigarettenqualm steht in der Luft. Es gibt Mettbrötchen. Eine Dame am Ausschank rührt lächelnd im Currywurst-Ragout. Der Chef der Sparkasse klopft zur Begrüßung auf die Tischkante. Ein angetrunkenes Seniorenpärchen fixiert die Kneipentür und wankt gen Tribüne. „Scharf, oder?“, freut sich Meutsch, und man fragt sich für einen Moment, ob der Chef eines Verlags- und Druckhauses die Wurst, die zurechtgemachten Bedienungen oder das bodenständige Ambiente meint: „Wo sonst finden Sie so was noch im Fußball?“
Beharrlich bröckelt der Putz an der Hafenstraße
Nirgendwo ist das Ursprüngliche des Ruhrgebietsfußballs greifbarer als in Essen. Im Umkreis spielen die Rivalen, mit denen sich RWE lange auf Augenhöhe sah – Schalke 04, der BVB, sogar der MSV Duisburg –, in modernen Multifunktionsarenen, während an der Hafenstraße beharrlich der Putz bröckelt. Meutsch sagt: „Im Moment muss man das mit Humor nehmen – diese Ruine mit ihrem morbiden Charme.“ Ein bisschen gefallen sich der Verein und sein Präsident in diesem Außenseiterdasein. Woanders is’ halt auch scheiße.
Aber anders als ein Lebensgefühl braucht ein Stadion von Zeit zu Zeit eine Renovierung. Doch wie Rot-Weiss seit Jahren auf dem Platz in wichtigen Momenten das Karma des Verlierens anhaftet, vergibt der Klub auch auf geschäftlicher Ebene immer wieder Großchancen. Die Tragödie um das Georg-Melches-Stadion beginnt im Vorfeld der WM 1974: Damals gelang es der Stadt nicht, Essen als WM-Standort zu etablieren, während in Gelsenkirchen und Dortmund neue Spielstätten entstanden. 1976 musste der in Finanznot geratene Erstligist das Stadion für 7,5 Millionen Mark an die Stadt verkaufen, im Jahr darauf stieg RWE aus der Bundesliga ab – und kehrte nie zurück.
„Ente“ Lippens in Cowboystiefeln auf der Tribüne
„Der Bruch in der Biographie des Klubs erfolgte, als ich nach Dortmund wechselte, weil man mich hier für zu alt hielt,“ witzelt Willi Lippens. Doch die Statistik gibt dem nach Helmut Rahn wohl bekanntesten RWE-Spieler aller Zeiten recht. Lippens sitzt in Cowboystiefeln auf der Haupttribüne und schwelgt in Erinnerungen. Das waren Zeiten, als Schalker Fans in einer Guerillaaktion Mitte der Sechziger in der Nacht vor dem Derby sämtliche Begrenzungen des Georg-Melches-Stadions blau-weiß anstrichen. Morgens kamen die Kumpel aus der Zeche Emil Emscher und malten bis zum Anpfiff alles wieder über. Als sich RWE beim Rückspiel revanchieren wollte, wurde der Malertrupp von der Polizei an der Glückauf Kampfbahn festgenommen. „Die Essener waren wieder mal zu blöd“, lacht Lippens.
Zu seiner aktiven Zeit war die Westtribüne die Heimat der Fans. 1994 wurde die angestaubte Kurve dann abgerissen. Die damalige Essener SPD-Oberbürgermeisterin Annette Jäger gelobte zum Saisonstart 1993/94 – parallel zur Rückkehr des Klubs in die zweite Liga –, dass noch in ihrer Amtszeit an alter Stelle eine neue Tribüne entstehen solle. Im Jahr darauf aber wurde RWE die Lizenz entzogen und das Projekt geriet in Vergessenheit. Jäger dankte zwar erst 1999 ab – ihr Versprechen aber löste sie nie ein.
Eine absurde Politposse – seit fast zwei Jahrzehnten
Hendrik Stürznickel vom RWE-Fanzine jawattdenn.de wird bei dem Gedanken daran noch heute grün im Gesicht: „Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich von einem Politiker in aller Öffentlichkeit angelogen wurde.“ Doch die Westtribüne war erst der Anfang einer absurden Politposse, die sich seit fast zwei Jahrzehnten um die Hafenstraße abspielt…
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