Am Abend spielt Rot-Weiss Essen im DFB-Pokal-Achtelfinale. Wir haben den Klub, der eigentlich immer scheitert, vor einem Jahr begleitet. Die Geschichte einer bizarren Saison.
Die Bilanz zum Jahresende fällt dementsprechend durchwachsen aus. Der Super-GAU der vergangenen Jahre, in der Rückrunde nur noch bessere Freundschaftsspiele bestreiten zu können, bleibt RWE in diesem Jahr erspart. Dennoch hat der Klub bereits einen gehörigen Rückstand auf die ostwestfälischen Provinzteams aus Rödinghausen und Verl. Außerdem rumort es in der Mannschaft. Christian Titz hat die Spieler durch zum Teil schwer nachvollziehbare Personalwechsel verunsichert, überdies stößt dem Team seine gewiss gutgemeinte, aber oft oberlehrerhaft wirkende Art auf. Was bei Vollprofis funktionieren mag, um den letzten Rest an Leistungsbereitschaft aus dem Kader zu kitzeln, geht in der vierten Liga vielen nur auf die Nerven. Zwar verdienen auch Regionalligaspieler mit dem Kicken ihr Geld, doch weil so gut wie niemand von ihnen am Ende der Laufbahn finanziell ausgesorgt haben wird, geht es hier auch um andere Werte.
Hinzu kommt, dass die Spieler auch mit dem Status des Vereins als „FC Bayern der Regionalliga“ zu kämpfen haben. „Es ist nicht leicht, zu den Kleinen zu fahren“, sagt Kevin Grund. „Die haben gegen RWE alle das Spiel ihres Lebens.“ Dabei hat die Mannschaft an der Hafenstraße oft noch größere Probleme. Gerade viele der Neuen haben noch nie vor einer solchen Kulisse gespielt, und die Leidenschaft der Fans kann in jede Richtung ausschlagen. Nicht nur ihre Liebe ist extrem, auch ihr Ärger, wenn es nicht so läuft wie erhofft. Die Angst vor dem eigenen Fehler ist bei den Spielern deshalb daheim oft noch um einiges größer als in fremden Stadien.
Dennoch kommt Rot-Weiss Essen mit einem gewissen Optimismus aus der Winterpause. Zum einen gibt es Gerüchte, dass Tabellenführer Rödinghausen vielleicht gar nicht aufsteigen will, zum anderen bleibt die Hoffnung, dass auch die beiden da vorne sich noch ihre Schwächephase genehmigen. Im Trainingslager in Andalusien schwört sich die RWE-Familie auf die Restsaison ein. Thomas „Sandy“ Sandgarte, Edelfan und Vereinsbarde, bringt zum Fan- und Sponsorenabend seine Gitarre mit. Am Ende schmettern hundert Menschen – Fans, Gönner, Spieler, Vorstand und Mitarbeiter – voller Inbrunst Vereinslieder.
Danach aber wartet der Ernst des Lebens, und zwar gleich mit der Partie gegen Rödinghausen. Eines ist klar: Wenn Essen noch mal oben angreifen will, sollte dieses Spiel gewonnen werden. Obwohl beim Abschlusstraining am Tag zuvor räudiges Wetter herrscht, sind zahlreiche Kiebitze gekommen. Unter ihnen ist auch Alf, ein 69-jähriger RWE-Fan, der zu vielen Spielen mit dem Transporter anreist – aus der Schweiz. 678 Kilometer pro Strecke, immer schön 100 km/h, damit der Spritverbrauch nicht über acht Liter geht. Alf hat über dreißig Jahre als Koch in Schweizer Hotels gearbeitet, aber eigentlich ist er Essener. „In der Vogelheimer Straße geboren und an der Hafenstraße aufgewachsen. Da, wo früher der Melches gewohnt hat.“ Die Herkunft aus dem Essener Norden scheint unter den Fans ein Qualitätskriterium zu sein, schon Sascha Peljhan hat sofort darauf verwiesen: „Ich bin gleich hier um die Ecke aufgewachsen.“ Während er sein Geld in den Verein steckt, sind es bei Alf Zeit und Muße. „Ich werde dieses Jahr siebzig“, sagt er. „Zehn Jahre kann ich noch aus der Schweiz mit dem Auto kommen. Dann halt mit den Öffentlichen.“ Dieses Herzblut ist das große Kapital von Rot-Weiss Essen – und zugleich eine amtliche Bürde.
Am Spieltag ist schon auf der Fahrt zum Stadion die Anspannung zu spüren. Der Bus ist voll mit Menschen, die alle eine Flasche Stauder-Pils in der rechten Hand halten, als wäre sie dort hineinoperiert worden. Gleichzeitig wird deutlich, wie schwer es ist, sich als Essen-Fan auf einen solchen Gegner einzulassen. Jemand erzählt die Anekdote, wie der Fanbus beim Hinspiel auf dem Hof des Rödinghauser Sponsors Küchen-Häcker geparkt habe. Von dort seien sie mit dem Shuttle zum Stadion gebracht worden, ohne Fantrennung. „Ohne Häcker wärt ihr gar nicht hier!“, hätten die Essener gesungen. Trockene Replik eines Rödinghausen-Anhängers: „Ihr aber auch nicht!“ Jetzt, im Essener Stadion, hängen die Gästefans ein Transparent an den Zaun, auf dem steht: „Wir feiern heute Zwiebelfest.“ Gute Güte, solche Leute kann man ja nicht mal hassen!
Die Rödinghauser Mannschaft gibt sich indes weit weniger harmlos, sie führt bereits nach zwei Minuten mit 1:0. Torschütze ist Simon Engelmann, der Top-Torjäger der Regionalliga. Essen hat danach ein paar ganz ordentliche Chancen, doch Mitte der zweiten Halbzeit fällt das zweite Tor, dann ist der Ofen aus. „Wir haben jetzt schon vier Heimspiele verloren“, knurrt Marco Kehl-Gomez nach dem Abpfiff in der Mixed Zone. „Anspruch und Realität!“