Am Abend spielt Rot-Weiss Essen im DFB-Pokal-Achtelfinale. Wir haben den Klub, der eigentlich immer scheitert, vor einem Jahr begleitet. Die Geschichte einer bizarren Saison.
Dieser Text erschien erstmals in Ausgabe #224 im Juni 2020. Das komplette Heft ist im Shop erhältlich.
Im Frühjahr 2020 sollte Kevin Grund eigentlich von einer Aufstiegssause auf Mallorca träumen, stattdessen sitzt er über den Unterlagen der Arbeitsagentur. Nachdem die Saison der Regionalliga West Mitte März unterbrochen worden ist, hat Rot-Weiss Essen seine Spieler mit auslaufenden Verträgen daran erinnert, sich bei der Behörde zu melden. Es weiß schließlich keiner, wie es weitergeht, auch nicht für den Linksverteidiger Grund, der schon seit neun Jahren für RWE spielt und damit so lange wie niemand sonst aus der Mannschaft. Kevin Grund ist 32 Jahre alt und hat zwei kleine Kinder. Er macht sich Sorgen.
Dabei hat alles so vielversprechend angefangen, diesmal aber wirklich. Hoffnungsfroh sind sie in Essen ja immer, wenn auch mit diesem leicht fatalistischen Einschlag, der sich aus den Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit speist, als RWE meist mit großen Erwartungen in die Saison gestartet ist, es aber nie geschafft hat, die verdammte Regionalliga zu verlassen. Oder um es mit dem regionaltypischen Idiom des Routiniers Grund zu sagen: „Am Ende haben wir es jedes Jahr verkackt.“
Doch Ende Juli 2019 ist Essen heiß, und das gleich in doppelter Hinsicht. Nicht nur, dass die Sonne vom Himmel brennt, als wäre dies nicht das Ruhrgebiet, sondern die Sahara; auch die RWE-Fans sind längst auf Betriebstemperatur. Ach was, mehr als das. Lange nicht mehr haben sie einer Spielzeit so sehr entgegengefiebert wie dieser. Was auf den ersten Blick verwundert, schließlich folgt der prototypische Saisonverlauf seit knapp einem Jahrzehnt fast immer demselben Zyklus: Aufstiegshoffnungen zu Beginn, ein Start, der diesen Optimismus zu rechtfertigen scheint, ein unerklärlicher Einbruch im Herbst und spätestens zu Weihnachten die Erkenntnis, dass der Traum von den besseren Zeiten fürs Erste mal wieder ausgeträumt ist.
„Man hatte zeitweise das Gefühl, dass die Spieler hier so oft wechseln wie die Freier im Bordell“
Zuletzt führte dieser Turnus den stolzen Verein, immerhin Deutscher Meister von 1955, DFB-Pokalsieger 1953 und einst der Klub von Größen wie Helmut Rahn, Willi Lippens, Horst Hrubesch oder Frank Mill, am Saisonende auf Platz acht. In der Regionalliga West, vierte Liga. „Danach waren die Leute auf. Komplett mürbe“, sagt Uwe Strothmann, der seit vielen Jahren den RWE-Blog „Im Schatten der Tribüne“ betreibt. „Wenn es so weitergegangen wäre, hätten sich viele abgewandt.“ Und damit ist jetzt nicht der übliche Essener Betablocker gemeint, während der Partie auf der Tribüne die schlimmsten Flüche auszustoßen und zu schwören, sich diesen Scheiß nie wieder anzutun, allerdings schon auf dem Heimweg die Verabredung zum nächsten Spiel klarzumachen.
Nein, dieses Mal hatten die Leute die Schnauze gestrichen voll. Danach war klar: Einfach, wie so oft, ein paar frische Spieler und einen neuen Trainer zu holen, würde nicht reichen, um sie bei der Stange zu halten; das hatten sie schließlich schon unzählige Male erlebt. „Man hatte zeitweise das Gefühl, dass die Spieler hier so oft wechseln wie die Freier im Bordell“, sagt Uwe Strothmann.