Eigentlich wollte RWE endlich aufsteigen. Stattdessen räumen die Spieler nach dem vorzeitigen Saisonende ihre Spinde aus und wissen nicht, wie es weitergeht. Die Geschichte einer bizarren Saison.
Doch bevor die Saison beginnt, klappt schon der Erste zusammen. Beim Auftaktspiel am Freitagabend gegen die Zweite von Borussia Dortmund ist es immer noch so heiß, dass an der Einfahrt zum Stadion ein älterer Herr auf dem Boden sitzt. Nachdem ihm jemand eine Flasche Wasser gereicht hat, rappelt er sich wieder auf. Schon jetzt ist klar: Die Fans werden auch in diesem Jahr alles geben. 14 500 Zuschauer sind zur Premiere gekommen, mit Viertliga-Alltag hat dieses Ambiente wenig zu tun. Auch Sascha Peljhan ist da, ein wenig skeptisch, wie die eingefleischten RWE-Fans im Stadion auf ihn reagieren werden. Meist wird er aber noch gar nicht erkannt.
Die Teams der Regionalliga West sind wie durch eine unsichtbare Grenze geteilt. Da sind zum einen die Mannschaften, die sogenannten „Männerfußball“ spielen, mit baumlangen Abwehrspielern, die in den letzten Minuten nach vorne gehen, und mehr Kick & Rush als Spielkultur. Und dann die U23-Teams der Bundesligisten: junge Kerle, manchmal etwas schmächtig, aber fein ausgebildet, überragend am Fuß. Wer in dieser Liga etwa gewinnen will, muss gegen beide bestehen.
Gegen den BVB ist gleich zu sehen, was die Leute ab sofort von Rot-Weiss Essen erwarten können. Torwart Marcel Lenz steht ständig dreißig Meter vor dem eigenen Tor. Es ist ein riskantes Spiel. Und nach der zweiten hitzebedingten Trinkpause ist es so weit: RWE verliert den Ball im Mittelfeld, Lenz steht auf verlorenem Posten – 0:1. Im Stadion an der Hafenstraße wird es zur Pause unruhig. Wat ’ne Scheiße! Danach ein ähnliches Bild: Essen versucht alles, nichts gelingt. Bis Amara Condé unvermittelt aus 25 Metern aufs Tor schießt. Das Ding sitzt, 1:1. Die Fans singen: „Oh, RWE!“, das alte Lied. In der fünften Minute der Nachspielzeit hat Essen noch einmal den Ball. Ungeschicktes Zweikampfverhalten zweier Dortmunder, der Schiedsrichter entscheidet auf Elfmeter. Alexander Hahn nimmt sich den Ball und trifft zum 2:1.
Marcus Uhlig ist danach nicht mehr zu halten, er klettert über die Tribünenplätze und nimmt mehrere Stufen auf einmal. Schnell runter in die Katakomben und ab aufs Spielfeld. Am Kabinenausgang trifft er auf Mike Tullberg, den Trainer des Gegners. „Unfassbar!“, brüllt der BVB-Coach entgeistert. Draußen feiern die Essener Spieler. Unfassbar – und das war erst der Auftakt. Als Uhlig vom Platz zurückkommt, greift er sich ans Herz.
Der Sieg in letzter Minute ist der Auftakt zu einem blitzsauberen Saisonstart. Das Team scheint die Ideen von Christian Titz schneller umzusetzen, als selbst die Optimisten im Verein erhofft haben. Von den ersten acht Partien gewinnen die Rot-Weißen sieben und machen dabei eine Menge Titz-typischen Alarm auf dem Platz. Dann aber unterliegen sie ohne Vorwarnung dem SC Verl mit 1:4, und auch die folgenden beiden Spiele gehen verloren: erst 2:3 bei der Gladbacher Reserve, dann zu Hause 0:1 gegen Fortuna Köln.
Jörn Nowak und Marcus Uhlig gefällt nicht, was sie in dieser Phase sehen. Es scheint, als hätten die Gegner das Essener Spiel durchschaut, und als würde der Elf ein Plan B fehlen, um darauf zu reagieren. Uhlig sitzt oben auf der Tribüne und denkt: „Boah, wie einfach ist das auf einmal, gegen uns zu gewinnen!“ Das, was die Essener anfangs stark gemacht hat – Vollgasfußball ab der ersten Minute –, hat sich nun ins Gegenteil verkehrt. Oft geht RWE zu nachlässig ins Spiel und gerät früh in Rückstand. Bevor jedoch eine größere Krise aufkommt, fängt sich das Team und gewinnt zwischenzeitlich fünf Mal in Folge – um dann im letzten Spiel des Jahres mit 0:2 gegen den VfB Homberg, einen der absoluten Underdogs der Liga, zu verlieren.