Am Abend spielt Rot-Weiss Essen im DFB-Pokal-Achtelfinale. Wir haben den Klub, der eigentlich immer scheitert, vor einem Jahr begleitet. Die Geschichte einer bizarren Saison.
Zwei Wochen später kämpft RWE im Nachbarduell gegen Rot-Weiß Oberhausen um seine letzte Chance. Auf der Tribüne sitzt Alexander Hahn, den alle nur „Ali“ nennen, eine Gelbsperre ab. „Weißt du, ich mag Essen“, sagt Hahn, der seine Kindheit in Niedersachsen verbracht hat. „Weil die Leute hier ein bisschen asi sind. Und ich bin auch ein bisschen asi.“ Das Spiel da unten raubt ihm den letzten Nerv, aber kurz vor Schluss trifft Oguzhan Kefkir zum 1:0. Wenige Tage zuvor hat der SV Rödinghausen bekannt gegeben, dass er keine Lizenz für die Dritte Liga beantragt. Die Hoffnung kehrt zurück.
Zugleich ist in den Nachrichten immer öfter von einer mysteriösen Lungenkrankheit zu hören. Was erst wirkt wie ein chinesisches Problem, schwappt nach Europa, und plötzlich geht alles ganz schnell. Am 9. März trennen sich Stuttgart und Bielefeld im Zweitliga-Spitzenspiel 1:1, es ist das letzte Mal, dass in Deutschland vor Zuschauern gespielt wird. Am folgenden Wochenende wird der 29. Spieltag der Regionalliga West abgesagt und die Saison unterbrochen. Was zu diesem Zeitpunkt nicht jedem klar ist: Sie wird auch nicht wieder angepfiffen werden.
Anfang Juni steht Kevin Grund in der Kabine und montiert ein Schild ab. Vor der Saison hatte das Team Etappenziele verfasst, jede Woche wurden die Punkte abgehakt. „Und wofür?“, fragt Grund. Zwei Zähler fehlten beim Abbruch auf Verl, das zwar zwei Spiele nachholen musste, aber da war ja auch noch das direkte Duell. „Wir hatten noch ’ne Chance“, sagt Grund. So nah am Aufstieg sei er noch nie gewesen. Er trägt ein bedrucktes T‑Shirt: Stay home. Stay safe and healthy.
Die Stimmung an der Hafenstraße ist angespannt. Keiner weiß, wie es weitergeht. „Die Wahrscheinlichkeit, nach Corona seinen Lebensunterhalt mit Regionalligafußball zu finanzieren, sinkt“, sagt Jörn Nowak. „Wir reden hier über Menschen.“ RWE, besonders Marcus Uhlig, hat fast verzweifelt für eine sportliche Entscheidung geworben, aber längst ist klar, dass der SC Verl zum Meister erklärt und in einer Geister-Relegation gegen Lok Leipzig um den Aufstieg spielen wird – zumindest dann, wenn die Verler ihr Stadionproblem lösen und die Lizenz erhalten.
In der Kabine stehen die Spieler mit hellblauen Müllsäcken vor ihren Plätzen und räumen die Spinde leer. Christian Titz schaut herein, nicht alle nehmen ihn wahr. Bald darauf wird der Klub bekanntgeben, dass er mit einem neuen Trainer weitermacht. Auch Sascha Peljhan ist an der Hafenstraße. Der Geschäftsmann ist so gelassen wie am ersten Tag. Rot-Weiss Essen habe er bei der Planung verschiedener Szenarien zur Seite gestanden, wobei: „Planen kann man nicht.“ Natürlich musste er Löcher im Budget stopfen („Dafür ist das Geld da“), aber Peljhan glaubt, dass Essen im Vergleich zu anderen Regionalligisten besser aus der Krise kommen könnte. Eben erst wurde Simon Engelmann als erster Neuzugang vorgestellt, ein Spieler, an dem auch Ingolstadt und Meppen aus der Dritten Liga Interesse hatten. Engelmann entschied sich für Essen, gewiss nicht nur aus sportlichen Gründen.
Kevin Grund hat derweil ebenfalls eine Sorge weniger. Mittlerweile hat er seinen Vertrag um ein Jahr verlängert und geht in die zehnte Saison. Wann immer die beginnen wird.