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Seite 4: Maradona in Gelsenkirchen – und in Meppen!

Mara­dona in Meppen

Tobias Ahrens

Und meine zukünf­tigen Kinder, die Dich nie gesehen haben werden, was sollen sie jemals über Fuß­ball wissen können? Diese Frage steht in einem Dan­kes­buch, das die Stadt Neapel zum Abschied von Diego Mara­dona auf­stellen ließ. Bevor Mara­dona nach Neapel kam, war er in Meppen. Und bestimmt stellten sich auch hier Eltern die Frage, wie sie ihren Kin­dern begreif­lich machen könnten, wer für einen Tag in dieser Stadt war. Denn es ist ja so: Wir beginnen mit dem Fuß­ball­spielen, weil wir Vor­bil­dern nach­ei­fern. Weil wir Tore schießen wollen wie Jürgen Klins­mann, weil wir aus­sehen wollen wie George Best, weil wir aus uner­klär­li­chen Gründen Hans-Jörg Criens sehr gut finden.

Eines meiner Vor­bilder war Josef Menke. Ein Zehner, der Zehner, für den SV Meppen. Dabei been­dete Josef Menke seine Kar­riere, als ich zwei Jahre alt war. Und trotzdem wusste ich, dass er beson­ders war, weil meine Eltern, meine Groß­el­tern, meine ganze Familie immer wieder von ihm spra­chen. Menke, das waren Erin­ne­rungen an großen Zeiten. Und ein Ver­spre­chen, dass sie zurück­kommen werden. Ich habe ihn nur ein ein­ziges Mal spielen sehen, für die Alten Herren. Viele mor­sche Gelenke, viele gute Ideen und Kämpfe mit dem eigenen Körper. Und ich erin­nere mich an dieses Tor: Nach einem Eck­ball nahm Menke den Ball mit der Brust an, er stand in der Luft, und noch bevor der Ball von seinem Körper abtrop­fend den Boden berührte, drosch er ihn ins Tor. Unglaub­lich. Und nur eine Andeu­tung, wie gut er einst gewesen sein muss.

Im Sommer 1982 spielte Menke gegen Mara­dona, als er in unsere Stadt kam und für den FC Bar­ce­lona sein Debüt gab. Es gibt ein sehr berühmtes Bild von diesem Tag, zumin­dest hier in der Stadt kennt es jeder. Mara­dona, 21 Jahre alt, nimmt den Ball hüft­hoch mit dem Außen­rist seines linken Fußes an, sein rechter Arm hängt hoch oben in der Luft. Das Foto friert die Szene ein, die von ihrer Bewe­gung lebt und zer­stört sie nicht. Neben Mara­dona steht sein Gegen­spieler, Menke, mit auf­ge­ris­senen Augen, mit offenem Mund. Er steht dort und staunt über einen, der so viel besser war als er. Seit diesem Foto weiß ich, obwohl ich Mara­dona nie habe spielen sehen, sehr viel mehr über Fuß­ball.

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Warum war ich so begeis­tert?

Uli Hesse

Aus­ge­rechnet in Gel­sen­kir­chen kam ich Diego Mara­dona einmal ziem­lich nah. Das war am 16. Juni 2006, als die argen­ti­ni­sche Natio­nalelf keinen Zweifel daran ließ, wer das Som­mer­mär­chen gewinnen würde. Mit 6:0 über­rannten die Süd­ame­ri­kaner ein bedau­erns­wertes Ser­bien und Mon­te­negro und konnten es sich dabei erlauben, einen gewissen Lionel Messi 75 Minuten lang auf der Bank schmoren zu lassen.

In meiner Erin­ne­rung habe ich das Spiel durchaus inter­es­siert ver­folgt und zeigte mich schwer beein­druckt von den Argen­ti­niern. Doch als ich wieder zu Hause war und die an dem Nach­mittag gemachten Erin­ne­rungs­fotos von meiner Digi­tal­ka­mera auf den Rechner zog, stellte ich fest, dass da nur wenige Bilder vom Geschehen auf dem Rasen waren. Dafür hatte ich sehr viele von der Ehren­tri­büne gemacht, die fast direkt gegen­über von unseren Sitz­plätzen war. Dort turnte näm­lich ein kleiner, dicker Mann in einem blau-weißen Trikot herum. Selbst auf die Ent­fer­nung hatte ich keinen Zweifel, um wen es sich han­delte. Offenbar ver­brachte ich einen Groß­teil des Spiels damit, ihn ver­nünftig aufs Bild zu bekommen. Als die Sta­di­on­regie ihn end­lich ein­fing und sein Kon­terfei auf den Video­würfel unter dem Dach der Arena pro­ji­zierte, machte ich sogar meh­rere Fotos von der Lein­wand.

Fuß­ball konnte sehr häss­lich sein

Warum war ich so begeis­tert, wenigs­tens im selben Sta­dion zu sein wie Mara­dona? Ich weiß es nicht genau; viel­leicht weil wir beide im selben Sommer fest­stellten, wie häss­lich der Fuß­ball sein kann. Das war 1982, als ich wäh­rend der WM in Spa­nien an der Unge­rech­tig­keit des Spiels ver­zwei­felte und es aus so tiefem Herzen ver­dammte, wie man das nur als 16-Jäh­riger tun kann. Es war das Tur­nier, in dem eine arro­gante, zyni­sche und min­der­ta­len­tierte DFB-Elf ins Finale kam, wäh­rend die beste Mann­schaft, die wir je gesehen hatten, früh aus­schied (näm­lich Bra­si­lien) und der beste Spieler, den wir je gesehen hatten, zu Brei getreten wurde. Ein Auf­trags­killer namens Claudio Gen­tile beging beim Spiel Ita­lien gegen Argen­ti­nien nicht weniger als 23 Fouls an Mara­dona. Nein, das ist kein Tipp­fehler. Wie gesagt, Fuß­ball konnte sehr häss­lich sein.

Umso bemer­kens­werte, dass Mara­dona diese und andere Anschläge auf seine Gesund­heit (Andoni Goi­koetxea brach ihm mal absicht­lich das Bein) über­stand und eini­ger­maßen heil aus dem ganzen Wahn­sinn her­auskam. Unter­be­wusst muss ich ihn dafür schon 2006 bewun­dert haben, denn sonst hätte ich nicht all diese unscharfen, ver­wa­ckelten Fotos gemacht. Richtig bewusst wurde mir das alles aber erst vor rund einem Jahr. Im Herbst 2019 schaute ich mir näm­lich in einem Ber­liner Kino den Film über Toni Kroos an. Und nur wenige Tage später prä­sen­tierte ich dann als Ver­treter von 11FREUNDE die Deutsch­land-Pre­miere der Mara­dona-Doku von Asif Kapadia. In ihr geht es vor allem um Mara­donas atem­be­rau­bende Jahre in Neapel, die jedem von uns den Ver­stand geraubt hätten. 

Man kann sich keine zwei Filme des­selben Genres vor­stellen, die unter­schied­li­cher sind. Wie ich zu den Pre­mieren-Besu­chern im Kino sagte: So nett und schön der Kroos-Film ist, er ver­strömt auch kul­ti­vierte Lan­ge­weile. Man fragt sich die ganze Zeit, wo denn eigent­lich die Geschichte sein mag. Wo ist das Drama? Wo sind die Drogen, die Mafia und die Gewalt? Wo ist der Irr­sinn des Lebens? Nun, all das ist hier.“ Und dann begann der Film über ein Leben, das viel­leicht zu kurz war, aber nie­mals lang­weilig.

Mit dem Rücken zur Wand

Rolf Heßbrügge

Es war der 9. Juni 2006. Das weiß ich des­halb so genau, weil an jenem Tag die WM begann und ich gemeinsam mit einem Kol­legen als Bericht­erstatter auf der Tri­büne saß. Deutsch­land gegen Costa Rica in Mün­chen: Aus dem Hin­ter­grund müsste Lahm schießen, Lahm schießt, 1:0. Beim Schluss­pfiff stand es 4:2, doch da waren der Kol­lege und ich längst auf dem Weg in die Kata­komben. Stimmen und Impres­sionen sam­meln. Wir irrten einen endlos langen, men­schen­leeren Kor­ridor ent­lang – links und rechts schnee­weiße Wände, über uns kaltes Neon­licht. Und vor uns plötz­lich eine Offen­ba­rung: Ein kleiner, leicht über­ge­wich­tiger Mann kam uns ent­gegen, mit leicht schlep­pendem Gang, stark schwit­zendem Ant­litz und zwei mus­kel­be­packten Per­so­nen­schüt­zern im Schlepptau. Es war Diego Mara­dona, und wäh­rend ich zum Monu­ment eines Stau­nenden erstarrt war, reagierte mein Kol­lege wie ein Profi: Er drückte mir seine Kom­pakt­ka­mera in die Hand und zischte: Mach ein Foto von mir und vom Diego.“ 

Dann, zu Mara­dona gewandt, fragte er: Ixkjus mi, Diego, känn wie mäk ö Pikt­scha?“ Die Body­guards traten prompt einen halben Schritt vor, doch El Dios“ presste ein bemüht freund­li­ches Si“ hervor, gefolgt von einem betont unfreund­li­chen No“, als der Kol­lege ihm auch noch den Arm um die Schulter legen wollte. Egal. Ich betä­tigte den Aus­löser, einmal, zweimal, dreimal. Dann, gerade als auch ich um ein Erin­ne­rungs­foto mit dem G.O.A.T. bitten wollte, regis­trierte ich Panik in dessen Gesicht: In meinem Rücken näherte sich eine ganze Traube spa­nisch­spra­chiger Jour­na­listen. Aus der Traube wurde binnen Sekunden ein Men­schen­auf­lauf; Mara­dona und den Body­guards blieb nur der Rückzug. Und da stand er nun, dieser kleine große Mann des Welt­fuß­balls: gefangen zwi­schen einer brül­lenden Meute von Fra­ge­stel­lern (in der auch ich und mein Kol­lege fest­steckten) und einer kalten, schnee­weißen Wand am Ende des Kor­ri­dors. 

Die Per­so­nen­schützer bil­deten einen schüt­zenden Halb­kreis und schirmten Mara­dona mit ihren Goril­larü­cken so gut wie mög­lich ab. Dann und wann konnte ich einen Blick auf dessen ent­rücktes und zugleich bedrücktes Gesicht erha­schen, und ich dachte: Es ist garan­tiert nicht gesund, ein Fuß­ball­gott“ zu sein. Nun also ist Diego Armando Mara­dona in sein Him­mel­reich auf­ge­stiegen, viel zu früh. Und ver­mut­lich sind wir alle, die wir ständig und überall etwas von ihm wollten – Reporter, Fans, Berater, Mit­spieler, Gegen­spieler, Pas­santen auf der Straße oder Sitz­nach­barn im Flug­zeug – ein Stück weit mit schuld daran. Bleibt nur zu hoffen, dass El Dios“, dort, wo er jetzt ist, Ruhe und Frieden vor­findet.

Wahn­sinn! Sieb­zehn Tore!

Andreas Bock

Mitte der Acht­ziger hatte ich bei­nahe wöchent­lich einen neuen Lieb­lings­spieler. Ich schwärmte für Olaf Thon, weil er einen feinen Bart­flaum auf der Ober­lippe und auf seinem Trikot der Name meiner Lieb­lings­jeans­marke (Paddock’s) stand. Ich fand HSV-Stürmer Ralf Balzis toll, nachdem er einen Hat­trick gegen Saar­brü­cken erzielt hatte. Und als ein Freund mir ein Frank­reich-Trikot mit der Zehn mit­brachte, lief ich nur noch als Pla­tini“ auf den Bolz­platz. Aber keine Bezie­hung hielt lange, nichts war von Dauer. Bis Mara­dona die Bühne der WM 1986 betrat.

ZDF-Reporter Rolf Kramer erzählte von einem Spieler, der es aus ärmsten Ver­hält­nissen ganz nach oben geschafft hatte. Von einem Wun­der­kind, einem Gold­jungen. Mara­dona sah in seiner Kugel­haf­tig­keit selbst aus wie ein Fuß­ball, er drib­belte zehn Ver­tei­diger aus, er schlug Traum­pässe und schoss Tore, die selbst Ralf Balzis nie­mals hätte schießen können.

Ein Jahr nach der WM gas­tierte der SSC Neapel in meiner Hei­mat­stadt Ham­burg. Überall hingen Pla­kate: Mara­dona kommt – HSV gegen SSC Neapel – Spiel des Jahres!“ Es war ein Freund­schafts­spiel zum 100. Geburtstag des HSV. Aber ich war nicht da, weil wir im Urlaub in Spa­nien waren.

Als ich zurückkam, trugen einige Mit­spieler in meiner F‑Ju­gend-Mann­schaft Mara­dona-Tri­kots, die meisten waren selbst gemacht: die Zahl 10 und den Namen Diego hatten sie mit Edding auf ihre T‑Shirts geschrieben. Ich fragte sie, wie das Spiel im Volks­park­sta­dion gewesen sei. Und dann begannen sie zu schwärmen, wie nur Zehn­jäh­rige schwärmen können: Mara­dona hat gewunken, und dann hat er gedrib­belt, und dann hat er geschossen und zwölf oder sieb­zehn Tore gemacht.“ Und dann über­legten sie, wie sie Mara­dona zum HSV holen könnten.

Ich dachte nur: Wahn­sinn! Sieb­zehn Tore! Und das gegen diesen neuen Tor­hüter, von dem wir nur wussten, dass er ver­mut­lich der beste Tor­hüter der Welt war. Er war von Hajduk Split zum HSV gekommen, ein Mit­bringsel von Trainer Josip Sko­blar. Er sei besser als Uli Stein, besser als Toni Schu­ma­cher. Eine Katze. Ein Pan­ther. Sein Name: Mladen Pra­lija.

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