Heute vor einem Jahr starb Diego Maradona. Wir denken an das, was er uns allen einst geschenkt hat. Hier erinnern sich unsere Autoren an den vielleicht größten Fußballer aller Zeiten.
Maradona in Meppen
Und meine zukünftigen Kinder, die Dich nie gesehen haben werden, was sollen sie jemals über Fußball wissen können? Diese Frage steht in einem Dankesbuch, das die Stadt Neapel zum Abschied von Diego Maradona aufstellen ließ. Bevor Maradona nach Neapel kam, war er in Meppen. Und bestimmt stellten sich auch hier Eltern die Frage, wie sie ihren Kindern begreiflich machen könnten, wer für einen Tag in dieser Stadt war. Denn es ist ja so: Wir beginnen mit dem Fußballspielen, weil wir Vorbildern nacheifern. Weil wir Tore schießen wollen wie Jürgen Klinsmann, weil wir aussehen wollen wie George Best, weil wir aus unerklärlichen Gründen Hans-Jörg Criens sehr gut finden.
Eines meiner Vorbilder war Josef Menke. Ein Zehner, der Zehner, für den SV Meppen. Dabei beendete Josef Menke seine Karriere, als ich zwei Jahre alt war. Und trotzdem wusste ich, dass er besonders war, weil meine Eltern, meine Großeltern, meine ganze Familie immer wieder von ihm sprachen. Menke, das waren Erinnerungen an großen Zeiten. Und ein Versprechen, dass sie zurückkommen werden. Ich habe ihn nur ein einziges Mal spielen sehen, für die Alten Herren. Viele morsche Gelenke, viele gute Ideen und Kämpfe mit dem eigenen Körper. Und ich erinnere mich an dieses Tor: Nach einem Eckball nahm Menke den Ball mit der Brust an, er stand in der Luft, und noch bevor der Ball von seinem Körper abtropfend den Boden berührte, drosch er ihn ins Tor. Unglaublich. Und nur eine Andeutung, wie gut er einst gewesen sein muss.
Im Sommer 1982 spielte Menke gegen Maradona, als er in unsere Stadt kam und für den FC Barcelona sein Debüt gab. Es gibt ein sehr berühmtes Bild von diesem Tag, zumindest hier in der Stadt kennt es jeder. Maradona, 21 Jahre alt, nimmt den Ball hüfthoch mit dem Außenrist seines linken Fußes an, sein rechter Arm hängt hoch oben in der Luft. Das Foto friert die Szene ein, die von ihrer Bewegung lebt und zerstört sie nicht. Neben Maradona steht sein Gegenspieler, Menke, mit aufgerissenen Augen, mit offenem Mund. Er steht dort und staunt über einen, der so viel besser war als er. Seit diesem Foto weiß ich, obwohl ich Maradona nie habe spielen sehen, sehr viel mehr über Fußball.
Warum war ich so begeistert?
Ausgerechnet in Gelsenkirchen kam ich Diego Maradona einmal ziemlich nah. Das war am 16. Juni 2006, als die argentinische Nationalelf keinen Zweifel daran ließ, wer das Sommermärchen gewinnen würde. Mit 6:0 überrannten die Südamerikaner ein bedauernswertes Serbien und Montenegro und konnten es sich dabei erlauben, einen gewissen Lionel Messi 75 Minuten lang auf der Bank schmoren zu lassen.
In meiner Erinnerung habe ich das Spiel durchaus interessiert verfolgt und zeigte mich schwer beeindruckt von den Argentiniern. Doch als ich wieder zu Hause war und die an dem Nachmittag gemachten Erinnerungsfotos von meiner Digitalkamera auf den Rechner zog, stellte ich fest, dass da nur wenige Bilder vom Geschehen auf dem Rasen waren. Dafür hatte ich sehr viele von der Ehrentribüne gemacht, die fast direkt gegenüber von unseren Sitzplätzen war. Dort turnte nämlich ein kleiner, dicker Mann in einem blau-weißen Trikot herum. Selbst auf die Entfernung hatte ich keinen Zweifel, um wen es sich handelte. Offenbar verbrachte ich einen Großteil des Spiels damit, ihn vernünftig aufs Bild zu bekommen. Als die Stadionregie ihn endlich einfing und sein Konterfei auf den Videowürfel unter dem Dach der Arena projizierte, machte ich sogar mehrere Fotos von der Leinwand.
Warum war ich so begeistert, wenigstens im selben Stadion zu sein wie Maradona? Ich weiß es nicht genau; vielleicht weil wir beide im selben Sommer feststellten, wie hässlich der Fußball sein kann. Das war 1982, als ich während der WM in Spanien an der Ungerechtigkeit des Spiels verzweifelte und es aus so tiefem Herzen verdammte, wie man das nur als 16-Jähriger tun kann. Es war das Turnier, in dem eine arrogante, zynische und mindertalentierte DFB-Elf ins Finale kam, während die beste Mannschaft, die wir je gesehen hatten, früh ausschied (nämlich Brasilien) und der beste Spieler, den wir je gesehen hatten, zu Brei getreten wurde. Ein Auftragskiller namens Claudio Gentile beging beim Spiel Italien gegen Argentinien nicht weniger als 23 Fouls an Maradona. Nein, das ist kein Tippfehler. Wie gesagt, Fußball konnte sehr hässlich sein.
Umso bemerkenswerte, dass Maradona diese und andere Anschläge auf seine Gesundheit (Andoni Goikoetxea brach ihm mal absichtlich das Bein) überstand und einigermaßen heil aus dem ganzen Wahnsinn herauskam. Unterbewusst muss ich ihn dafür schon 2006 bewundert haben, denn sonst hätte ich nicht all diese unscharfen, verwackelten Fotos gemacht. Richtig bewusst wurde mir das alles aber erst vor rund einem Jahr. Im Herbst 2019 schaute ich mir nämlich in einem Berliner Kino den Film über Toni Kroos an. Und nur wenige Tage später präsentierte ich dann als Vertreter von 11FREUNDE die Deutschland-Premiere der Maradona-Doku von Asif Kapadia. In ihr geht es vor allem um Maradonas atemberaubende Jahre in Neapel, die jedem von uns den Verstand geraubt hätten.
Man kann sich keine zwei Filme desselben Genres vorstellen, die unterschiedlicher sind. Wie ich zu den Premieren-Besuchern im Kino sagte: „So nett und schön der Kroos-Film ist, er verströmt auch kultivierte Langeweile. Man fragt sich die ganze Zeit, wo denn eigentlich die Geschichte sein mag. Wo ist das Drama? Wo sind die Drogen, die Mafia und die Gewalt? Wo ist der Irrsinn des Lebens? Nun, all das ist hier.“ Und dann begann der Film über ein Leben, das vielleicht zu kurz war, aber niemals langweilig.
Mit dem Rücken zur Wand
Es war der 9. Juni 2006. Das weiß ich deshalb so genau, weil an jenem Tag die WM begann und ich gemeinsam mit einem Kollegen als Berichterstatter auf der Tribüne saß. Deutschland gegen Costa Rica in München: Aus dem Hintergrund müsste Lahm schießen, Lahm schießt, 1:0. Beim Schlusspfiff stand es 4:2, doch da waren der Kollege und ich längst auf dem Weg in die Katakomben. Stimmen und Impressionen sammeln. Wir irrten einen endlos langen, menschenleeren Korridor entlang – links und rechts schneeweiße Wände, über uns kaltes Neonlicht. Und vor uns plötzlich eine Offenbarung: Ein kleiner, leicht übergewichtiger Mann kam uns entgegen, mit leicht schleppendem Gang, stark schwitzendem Antlitz und zwei muskelbepackten Personenschützern im Schlepptau. Es war Diego Maradona, und während ich zum Monument eines Staunenden erstarrt war, reagierte mein Kollege wie ein Profi: Er drückte mir seine Kompaktkamera in die Hand und zischte: „Mach ein Foto von mir und vom Diego.“
Dann, zu Maradona gewandt, fragte er: „Ixkjus mi, Diego, känn wie mäk ö Piktscha?“ Die Bodyguards traten prompt einen halben Schritt vor, doch „El Dios“ presste ein bemüht freundliches „Si“ hervor, gefolgt von einem betont unfreundlichen „No“, als der Kollege ihm auch noch den Arm um die Schulter legen wollte. Egal. Ich betätigte den Auslöser, einmal, zweimal, dreimal. Dann, gerade als auch ich um ein Erinnerungsfoto mit dem G.O.A.T. bitten wollte, registrierte ich Panik in dessen Gesicht: In meinem Rücken näherte sich eine ganze Traube spanischsprachiger Journalisten. Aus der Traube wurde binnen Sekunden ein Menschenauflauf; Maradona und den Bodyguards blieb nur der Rückzug. Und da stand er nun, dieser kleine große Mann des Weltfußballs: gefangen zwischen einer brüllenden Meute von Fragestellern (in der auch ich und mein Kollege feststeckten) und einer kalten, schneeweißen Wand am Ende des Korridors.
Die Personenschützer bildeten einen schützenden Halbkreis und schirmten Maradona mit ihren Gorillarücken so gut wie möglich ab. Dann und wann konnte ich einen Blick auf dessen entrücktes und zugleich bedrücktes Gesicht erhaschen, und ich dachte: Es ist garantiert nicht gesund, ein „Fußballgott“ zu sein. Nun also ist Diego Armando Maradona in sein Himmelreich aufgestiegen, viel zu früh. Und vermutlich sind wir alle, die wir ständig und überall etwas von ihm wollten – Reporter, Fans, Berater, Mitspieler, Gegenspieler, Passanten auf der Straße oder Sitznachbarn im Flugzeug – ein Stück weit mit schuld daran. Bleibt nur zu hoffen, dass „El Dios“, dort, wo er jetzt ist, Ruhe und Frieden vorfindet.
Wahnsinn! Siebzehn Tore!
Mitte der Achtziger hatte ich beinahe wöchentlich einen neuen Lieblingsspieler. Ich schwärmte für Olaf Thon, weil er einen feinen Bartflaum auf der Oberlippe und auf seinem Trikot der Name meiner Lieblingsjeansmarke (Paddock’s) stand. Ich fand HSV-Stürmer Ralf Balzis toll, nachdem er einen Hattrick gegen Saarbrücken erzielt hatte. Und als ein Freund mir ein Frankreich-Trikot mit der Zehn mitbrachte, lief ich nur noch als „Platini“ auf den Bolzplatz. Aber keine Beziehung hielt lange, nichts war von Dauer. Bis Maradona die Bühne der WM 1986 betrat.
ZDF-Reporter Rolf Kramer erzählte von einem Spieler, der es aus ärmsten Verhältnissen ganz nach oben geschafft hatte. Von einem Wunderkind, einem Goldjungen. Maradona sah in seiner Kugelhaftigkeit selbst aus wie ein Fußball, er dribbelte zehn Verteidiger aus, er schlug Traumpässe und schoss Tore, die selbst Ralf Balzis niemals hätte schießen können.
Ein Jahr nach der WM gastierte der SSC Neapel in meiner Heimatstadt Hamburg. Überall hingen Plakate: „Maradona kommt – HSV gegen SSC Neapel – Spiel des Jahres!“ Es war ein Freundschaftsspiel zum 100. Geburtstag des HSV. Aber ich war nicht da, weil wir im Urlaub in Spanien waren.
Als ich zurückkam, trugen einige Mitspieler in meiner F‑Jugend-Mannschaft Maradona-Trikots, die meisten waren selbst gemacht: die Zahl 10 und den Namen Diego hatten sie mit Edding auf ihre T‑Shirts geschrieben. Ich fragte sie, wie das Spiel im Volksparkstadion gewesen sei. Und dann begannen sie zu schwärmen, wie nur Zehnjährige schwärmen können: „Maradona hat gewunken, und dann hat er gedribbelt, und dann hat er geschossen und zwölf oder siebzehn Tore gemacht.“ Und dann überlegten sie, wie sie Maradona zum HSV holen könnten.
Ich dachte nur: Wahnsinn! Siebzehn Tore! Und das gegen diesen neuen Torhüter, von dem wir nur wussten, dass er vermutlich der beste Torhüter der Welt war. Er war von Hajduk Split zum HSV gekommen, ein Mitbringsel von Trainer Josip Skoblar. Er sei besser als Uli Stein, besser als Toni Schumacher. Eine Katze. Ein Panther. Sein Name: Mladen Pralija.
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