Menschen auf der ganzen Welt trauern um Diego Maradona. Und denken an das, was er ihnen einst geschenkt hat. Hier erinnern sich unsere Autoren an den vielleicht größten Fußballer aller Zeiten.
Gott auf dem Acker
Wer einmal in Neapel war, kommt auch Jahrzehnte nach seinem Weggang nicht an Maradona vorbei. Miniaturfiguren, Graffiti und andere Bildnisse säumen die Stadt so wie die Erinnerungen an Diego die Gespräche in den Cafés. Doch viel von der Liebe, die die Menschen hier einem der größten Fußballer der Geschichte entgegen bringen, lässt sich in dem Vorort Accera erklären. Kurz nach Diegos Ankunft in Italien bat dort der Vater eines kranken Jungen seinen Mitspieler Pietro Puzone um Hilfe. Puzone stammte aus Accera, einem bis heute sehr armen Fleckchen, das an Maradonas Wurzeln in Argentinien erinnert. Die Mannschaft des SSC Neapel organisierte ein Freundschaftsspiel gegen die Mannschaft des Ortes, um dem Jungen zu helfen.
Doch der Klub selbst fürchtete die Verletzungsgefahr für seinen neuen Star und weigerte sich, die Versicherung für solch einen Kick zu übernehmen. „D10s“ selbst soll dafür gezahlt und sich mit Haut und Haaren für das Freundschaftsspiel eingesetzt haben. Das Team zog sich die Trikots über – ohne das Plazet des Klubs, aber eben von Maradona. Er war damals schon größer als alle anderen. Wer die Bilder des Spiels sieht, erschreckt über den Acker, auf dem er mit seiner Mannschaft auflief. Neapel gewann 4:0 und sammelte auch dank der Spende Maradonas an die 20 Millionen Lira. Es sind neben den sportlichen Erfolgen und Kunststücken jene Anekdoten, die Diego rund um Neapel zu einer heilandähnlichen Gestalt werden ließen. Gott spielt auf dem Acker für den Jungen aus dem Armenviertel. Die Geschichte ist fast zu kitschig, sie verbindet Tragik und Schönheit – wie so vieles in der Biografie von Diego Armando Maradona.
Ein Wesen vom anderen Stern
In der WhatsApp-Gruppe meiner alten Mindener Clique wird häufig mal Fußball zum Thema, gerne auch spitzzüngig, weil die Vereinsvorlieben breit gestreut sind. Im Moment muss naturgemäß der Schalker unter uns viel einstecken, wobei die bösesten Kommentare ironischerweise von einem Fan des Hamburger Sport-Vereins kommen. Zuletzt kam allerdings oftmals kein wirklicher Schlagabtausch zustande, wird ja auch irgendwann langweilig, auf einen am Boden Liegenden weiter einzudreschen.
Gestern um kurz nach 18 Uhr aber ist unsere WhatsApp-Gruppe explodiert. „Diego ist tot. Was für ein Scheißtag“, ließ einer verlauten, und innerhalb von zwölf Minuten hatten alle, wirklich alle ihre Bestürzung kundgetan. „Wirklich unfassbar“ schrieb einer, „der Held der für mich besten WM aller Zeiten, 1986 in Mexiko.“
Hoppla. Wenn jemanden der Schmerz überwältigt, dann gehen mit ihm schon mal die Pferde durch, aber die 86er Weltmeisterschaft zur besten aller Zeiten zu erklären, das ist ungefähr so, als würde man behaupten, es habe nie wieder eine bessere Rockband als Status Quo gegeben. Die WM 1986 war rein fußballerisch nicht unbedingt das Gelbe vom Ei, mit wenigstens einem Finalisten (nein, nicht Argentinien), dessen Trainer nachher erzählt hat, er wisse selbst nicht so genau, wie seine Truppe es eigentlich ins Endspiel geschafft hat.
Doch je mehr ich darüber nachdenke, desto besser kann ich meinen alten Freund verstehen. Mexiko 1986, das war viel Gebolze und Rumpelfußball, aber eben auch flirrende Hitze, bleiche Farben und: Diego. Das beste Dribbling aller Zeiten, die Hand Gottes, Tricks und Tore vom anderen Stern.
Erschwerend hinzu kommt, dass die meisten aus unserem Freundeskreis die damalige Weltmeisterschaft in Bundeswehr-Kasernen verbracht haben. Man möge deshalb über uns richten, aber so war es nun mal. Und dort saßen wir nun, gelangweilt in schlecht gelüfteten Stuben und freuten uns über die Abwechslung. In diesem Umfeld erschien uns Diego wie ein Wesen vom anderen Stern. Dieser Mann hatte alles, was wir nicht hatten, er konnte alles, was wir nicht konnten, er durfte vorsätzlich den Ball mit der Hand spielen und wurde trotzdem gefeiert, während wir für Nichtigkeiten angebrüllt wurden.
In diesem Sommer war Diego Maradona das schillernde Beispiel dafür, dass es noch ein anderes, schöneres Leben außerhalb des Kasernenhofs gab. Status Quo hätten so etwas beim besten Willen nicht leisten können.
Weihnachtskarten von Diego Maradona
Einer der schönsten Aspekte an der Arbeit bei 11FREUNDE sind die Interviews für die Rubrik „Der Fußball, mein Leben und ich.“ Man trifft die Helden seiner Kindheit und lässt sich all das, was man früher vorm TV verfolgte, nochmal brühwarm aus erster Hand erzählen. Aber mein Wunschtraum, dafür einmal Diego Armando Maradona zu sprechen, blieb stets genau das, ein Wunschtraum. Und doch tauchte Diego relativ häufig in dieser Rubrik auf. Fast jeder Spieler aus der Generation Maradona hatte eine Anekdote zu ihm. Hans Peter Briegel erinnerte sich, wie Diego vor dem Spiel zum Aufwärmen den Ball auf den Schultern jonglierte. Dieter Eckstein erzählte, wie sich Diego barfuß mit einem Tennisball warmmachte. Jürgen Kohler erzählte meinem Kollegen Max Dinkelaker, wie Maradona in einer Halle den Ball auf Basketballkörbe schoss, barfuß und mit seiner Tochter auf dem Arm, und neun von zehn Versuchen traf. Jesses, wenn mir der nächste Fußballer der Achtziger/Neunziger versichert hätte, Maradona hätte vor seinen Augen 5000 Mal eine Haselnuss hochgehalten, ich hätte es geglaubt.
Denn es deckte sich ja mit dem, was ich selbst noch vage aus Diegos Karriereherbst erinnerte. Dinge, die man heute in Youtube-Clips sehen kann, und deren Bild zwar sehr körnig sein mag, dennoch aber ein sehr klares Bild davon vermittelt, was Diego als Fußballer so besonders machte. Diego, wie er den Ball auf den Schultern jongliert. Diego, wie er auf einem Platz voller Matschpfützen kickt. Und Diego, na klar, wie er sich tanzend zu „Live is Life“ aufwärmt. Nie ist der Fußball auf professionellem Niveau seinem Wesenskern näher gekommen, mehr bei sich gewesen, als in dem Spielkind Diego Maradona. Warum fangen wir denn überhaupt an, den Ball vors Garagentor zu kicken oder mit Freunden jede verfügbare Fläche in ein Spielfeld zu verwandeln, Schulranzen als Tore, eine Coladose als Ball? Aus denselben Gründen, aus denen Diego stets aufs Feld ging. Er hat sie sich immer bewahrt.
Ich liebe diese Aufnahmen, auch wenn ich mich dann oft ärgere über die paar Jahre, die seine Blüte und meine Fußballsozialisation trennten. Und heute liebe ich diese Aufnahmen noch mehr als sonst. Weil sie mir versichern, wie die Leute Diego in Erinnerung behalten werden. Mit einem Blick aufs fußballerische Genie, den Spaßmacher, nackt und unverstellt von irgendwelchen Skandalen, Drogengeschichten und sonstigem allzu menschlichen Ballast, den Diego ja stets mit und vor sich her trug. Ein trauriger Clown, klar, aber er wird als Clown erinnert werden, nicht als traurig. Besonders berührt hat mich übrigens die Geschichte Briegels, der in seiner Zeit in Italien Maradona so beeindruckt haben muss, dass dieser ihm jahrelang jedes Weihnachten eine Karte schickte. Weihnachtskarten von Diego Maradona, kann man sich das vorstellen? Dabei hatten Briegel und Maradona eigentlich nicht viel miteinander zu tun, sie waren ja nur Gegner. Briegel konnte auch nie antworten, weil nie eine Adresse auf den Karten stand. Aber was hätte er auch schreiben sollen?
Die große Suche nach der Liebe
Pelé oder Maradona, die Suche nach dem besten Fußballer der Geschichte ist natürlich nur eine Spielerei. Wer will schon die 1000 Tore des Brasilianers gegen die Geniestreiche des Argentiniers abwägen? Die Schönheit des Spiels, die Entdeckung des Raumes, die Magie eines öffnenden Passes, all das haben beide gezeigt, auf einzigartige und unverwechselbare Weise. Was jedoch ebenso unbestreitbar ist: Diego Armando Maradona hat wie kein anderer über das Fußballfeld hinaus in die Gesellschaft hineingewirkt, er hat die Perspektive des Sports geweitet und ihn als Teil des Popkultur konstituiert. Denn Pop ist ja nur die Abkürzung von Populärkultur. Und so wie Sänger und Rockbands die Massen auf Konzerten begeisterten, so sehr brachte Maradona die Zuschauer in den Stadien zum Schreien, zum Singen, zum Jubeln.
In diesem kleinen Argentinier mit den schwarzen Locken steckte alles, was einen großen Popstar ausmacht: Genie und Wahnsinn, Kreativität und Zerstörungswut, Höhenflüge und Abstürze, vor allem aber die große Suche nach Liebe, Anerkennung, Resonanz. Maradona hat keinen Trick, kein Dribbling, keinen Torschuss für sich selbst gemacht, sondern immer für sein Publikum. Ohne die Menschen auf den Rängen, ihre bedingungslose Liebe, hätte Maradona nicht strahlen können. Beide brauchten einander. Zusammen haben sich die Zuschauer und Diego Maradona auf die Suche nach dem großen Glück gemacht und es auf dem Fußballplatz gefunden. Wer es nicht glaubt, schaue sich an, wie die Menschen in Argentinien, in Neapel und überall auf der Welt trauern. Die Suche nach dem großen Glück – das hört sich kitschig an, war aber der Wesenskern dieses überlebensgroßen Fußballers. Und sein Vermächtnis an die Fußballwelt.
Menschen berührt, Menschen erschüttert, Menschen fühlen lassen
Er ist dann gestorben. Kusturicas Maradona-Verdichtung zum hundertsten Mal angeschaut. Diego auf der Bühne, der über den Aufstieg und Fall der Hand Gottes singt. Das Glück in den Augen seiner Kinder. Die Ausgelassenheit. Die Beseeltheit. Cut. Absturz. Erschöpfung. Das Scheitern in der Existenz angelegt. Der Absturz seit 30 Jahren eine Konstante. Oft davon gelesen. Ihn mal hier auf einer Tribüne und dort auf einem Platz gesehen. Am Ende angekommen. Das Wirken auf VHS gesehen, das Leben im Internet. Kusturicas Szene zeigt den Wimpernschlags des Lebens über den Frank Giering sagte: „Und an der Stelle, wo es am allerschönsten ist, da müsste die Platte springen und Du hörst immer nur diesen einen Moment.“ Platten springen nicht. Das wäre auch langweilig. Es geht immer weiter. Maradona war ein Künstler, kein Fußballer. Menschen berührt, Menschen erschüttert, Menschen fühlen lassen. Das letzte Bild, das ich von Maradona sah: Mit Covid-Schutzvisier bei einem Spiel in Argentinien.
Er hat es alles auf sich genommen
So wie er sich im Spiel aus der Umklammerung von oft mehreren Gegenspielern lösen konnte, die ihm hilflose Trainer auf die Füße stellten, widerstand Maradona auch dem Tohuwabuhu, das seit der Volljährigkeit sein Alltag war. Wer sich ein Bild von dem Chaos machen möchte, das zeitlebens um den größten Fußballer aller Zeiten tobte, sollte sich die Eröffnungssequenz der Doku „Diego“ ansehen. Sie zeigt die Reaktionen der Menschen auf Neapels Straßen, gefilmt aus dem Inneren eines Kleinwagens, der mit dem „Pibe d’Oro“ durch die süditalienische Stadt rast.
Der ganze Wahnsinn, der auch heute große Stars umgibt, der Argentinier hat ihn mit voller Wucht und filterlos abbekommen. Maradona hatte keine Medienberater, die seine Eskapaden clever an der Öffentlichkeit vorbeilenkten. Keine schlauen Manager, die seine öffentlichen Auftritte aufs Äußerste verknappten und sie dann wie Staatsempfänge inszenierten. Diego führte ein vorbehaltlos öffentliches Leben. Einerseits, weil es zu seiner Zeit noch nicht üblich war, dass ein Fußballer wie ein Markenartikel gemanagt wurde. Andererseits, – zumindest liegt der Verdacht nahe – weil es der Mensch Maradona auch liebte, der Welt jede seiner zahllosen Facetten zu präsentieren. So wie er es in seinem vielleicht größten Spiel im WM-Viertelfinale 1986 getan hatte, als er uns allen seine einzigartige Gabe mit einem Jahrhundertdribbling demonstrierte, nur wenige Minuten nachdem er mit der „Hand Gottes“ als der größte Schlingel in die Fußballgeschichte eingegangen war.
Wenn die Laufbahn endet, dimmt über den meisten Profis der Scheinwerfer rasant herunter, der sie auf dem Platz stets in ein schillerndes Licht gesetzt hat. Beim Treffen der deutschen Weltmeister von 1990 war das vor kurzem gut zu beobachten. Da trafen sich keine glamourösen Fußballstars mehr, sondern eine Gruppe von in die Jahre gekommenen Herren. Ein schmuckloses Klassentreffen. Auch der Alterungsprozess von Diego Maradona vollzog sich vor den Augen der Welt. Aber der Argentinier hat im Gegensatz zu Guido Buchwald, Andy Brehme oder Thomas Berthold niemals aufgehört, eine große Show zu sein.
Wie Maradona die Welt in Atem hielt, durfte ich beim Eröffnungsspiel zur WM 2006 in München live erleben. Das Stadion quoll über vor Fußballprominenz: In den Katakomben der Allianz Arena wuselten Staatsmänner, FIFA-Bosse, zahllose Alt-Internationale, Popstars, TV-Sternchen und Schauspieler völlig unbehelligt von den Journalisten umher, die hier unten im Medienzentrum hockten und ihre Beiträge zimmerten. Ich saß dort an einem Tisch und schrieb etwa eine Stunde vor dem Beginn der Eröffnungsfeier meine Eindrücke von der Ankunft in München nieder, der positiven Grundstimmung, die an diesem Tag offenbar die Stadt ergriffen hatte.
Doch plötzlich entstand große Unruhe im Raum. Ein Fotograf neben mir griff seine Kamera, ließ den Rest seines Gerödels liegen und rannte los. Als ich ihn fragte, was los sei, rief er nur: „Maradona! Maradona ist angekommen.“ Ich holte meine kleine Digitalkamera aus der Tasche und ging ihm nach. Als ich die Tür des Pressenzentrums öffnete, trat von außen jemand dagegen. Ich bekam sie fast vor den Kopf. Erneut drückte ich die Klinke und erkannte, dass der riesige Tross, in dessen Mitte Diego Maradona wie das Eigelb in einem brutzelnden Spiegelei durch die Empfangshalle geschoben wurde, unmittelbar an mir vorbeizog. Maradona war nur einen knappen Meter von mir entfernt. Nach seiner zwischenzeitlichen „Fetter-Elvis“-Phase hatte er deutlich abgespeckt. Auch sein Haar war nicht mehr blond oder rot gefärbt, sondern glänzte wieder tiefschwarz wie zu seiner aktiven Zeit. Als ich hinter der Tür zum Vorschein kam, blickte er mir direkt ins Gesicht. Es war ein scheuer Blick, so wie Gefangene in Fernsehberichten manchmal schauen, wenn sie vor dem Gerichtssaal aus dem Auto steigen und von einem Blitzlichtgewitter empfangen werden.
Aber er nahm den Trubel um ihn herum – die Leute schubsten, schrien und ruderten – seltsam beteiligungslos hin. Fast sah es aus, als würde ihn die Menschentraube in der Senkrechten halten und wie auf einer unsichtbaren Sänfte seinem Bestimmungsort zuführen. Ich kannte mehrere Kollegen, die in der Vergangenheit vergeblich auf ein Interview mit ihm gehofft hatten. Nun wurde mir bewusst: Maradona kommt deshalb immer zu spät oder gar nicht zu Terminen, weil niemals er es ist, der seinen Zeit- und Reiseplan bestimmt, sondern stets die Welt, die ihn wie erodierende Erdplatten von einem Ort zum anderen schiebt. Aus dem Handgelenk heraus machte ich ein Foto von der Szenerie. Dann war der Pulk schon vorbei.
Ein irrealer Moment. Erst heute wird mir klar: Es war der Beginn des „Sommermärchens“, alle waren da, die Welt zu Gast bei Freunden, so hieß es damals. Aber erst durch die Ankunft des Göttlichen wurde die WM ihrer höheren Bestimmung zugeführt.
Ich habe Diego Maradona etwa eineinhalb Stunden später noch einmal gesehen. Deutschland führte nach dem Traumtor von Philip Lahm bereits mit 1:0 gegen Costa Rica. Ich saß auf der Pressetribüne am Gang direkt an einer Treppe, die in die Katakomben führte. Genau an dieser Stelle betrat er etwa zehn Minuten nach Spielbeginn das Stadion. Er trug ein schwarzes T‑Shirt und eine breite schwarze Sonnenbrille. Ein Macho, der nichts mehr gemein zu haben schien mit dem scheuen Stargast aus der Empfangshalle. Ich musste zwei Mal hinschauen, um sicher zu sein, dass es sich nicht um einen Doppelgänger handelte.
Etwa dreißig Sekunden blieb er direkt neben mir stehen und wartete darauf, dass die Menschen, die gebannt auf den Rasen schauten, von ihm Notiz nahmen. Als die ersten aufsprangen, um ein Bild von ihm zu machen und das Gekreische lauter wurde, drehte er sich um, trabte zurück in den Bauch der Arena und tauchte später in einer VIP-Loge wieder auf. Er war offenbar nur auf die Pressetribüne gekommen, um die Achtzigtausend im Stadion die frohe Kunde von seiner Anwesenheit zu überbringen.
„Und die ganze Stadt sang, Marado, Marado“
Es gibt diese Szene in „Maradona by Kusturica“, einem Film, den sie gern dokumentarisch nennen können, der aber eigentlich ein Liebesfilm ist. Weil Emir Kusturica, selbst ein herrlicher Spinner, der Welt zeigt, wer das ist, der Mensch Maradona. Und was ihn antreibt: Liebe. Zum Spiel, zum Leben und zu den Menschen, die das Schicksal an seine Seite gestellt hat. In dieser Szene also singt Diego Armando Maradona in einem Keller-Klub von Buenos Aires ein Lied. Über sich. „La Mano de Dios“ heißt es – die Hand Gottes. Maradona singt verdammt gut. Auch deshalb kann man sich das nicht anschauen, ohne zeitgleich auf einer Schicht aus Rührung und Gänsehaut zu sitzen.
Man würde jetzt trotzdem gern aufstehen, rausgehen und das Leben von nun an jeden weiteren Moment auskosten. So wie Diego. Aber man schaut einfach weiter, weil man in Maradonas Augen schaut, die so voller Wärme nach mehr Wärme flehen, nach seinen Töchtern, die im Publikum sitzen und die doch besser an seiner Seite sein sollten jetzt. Findet Diego. Die Töchter, sie zieren sich. Und das Lied, es geht voran: „Und die ganze Stadt sang, Marado, Marado. Die Hand Gottes wurde geboren, Marado, Marado, Freude in die Menschen gesät.“ Kurz darauf stehen sie zusammen auf der Bühne, die ganze Familie, glücksbesoffen: „Olé, olé, olé, Diego, Diego.“ Und wer genau hinschaut, kann genau diesen Diego in jeder einzelnen Sekunde erkennen, die der Welt von seinem flirrenden Leben überliefert ist. Und jede Sekunde davon: für immer ein Geschenk.
Trauriger Clown?
Um das fußballerische Schaffen von Diego Maradona zu erfassen, war ich seinerzeit viel zu klein – und zu verliebt in Andy Brehmes Oberschenkel. Für mich war Maradona lange Zeit der eitle Gockel, der nach dem verlorenen WM Finale 1990 erst wild auf dem Platz gestikulierte und dann trotzig durch die schöne Blumen im Stadio Olimpico stapfte. Ein trauriger Clown.
Seine wahre Faszination strahlte El Diez dann eher neben dem Platz für mich aus. Skandale, Drogen, emotionale Ausbrüche, Tränen. Mal hing er halbnackt vom Balkon des Bombonera, mal schunkelte er im Che Guevara Tattoo neben Hugo Chavez.
Doch dann sah ich die sagenhafte Kusturica-Doku über Maradona, sah ihn in einer vollbesetzten Bar ein Lied über sich selbst schmettern und verstand.
Dieser Mann kannte nur Vollgas. Am Ball. Mit der Nase im Schnee. Im Interview. Maradona hat den Ball geliebt. Das Spiel vergöttert. Und sich selbst darin verloren.
Spieler wie er gaben den Fans das komplette Paket. Magie auf dem Rasen. Wahnsinn daneben. Das ist wichtiger als jedes Dribbling, jedes Tor, jeder Titel.
Das ist Fußball, wie wir ihn einst liebten. Mit Maradona geht ein Teil davon. Reiche ihm da oben die Hand Gottes, El Diez!
Ein Lied bei YouTube
Zum ersten Mal hörte ich von Diego Maradona im Fußballverein. Kinder sind ja häufig auf der Suche nach Superlativen und so ging es damals, es muss in der E‑Jugend gewesen sein, um die Frage, wer denn eigentlich der beste Fußballer überhaupt sei. Mein Idol war damals Ronaldo, mein Vater schwärmte von Zidane und auch den Namen Pelé hatte ich schon gehört. Doch die Väter der anderen Jungs hatten ihren Söhnen einen anderen Floh ins Ohr gesetzt: „Maradona“, sagten sie, „der war der Allerbeste!“
Wir stritten uns ein bisschen, weil jeder natürlich überzeugt war, dass der eigene Papa recht hatte. Aber wie das bei Kindern so ist, waren dann auch schnell wieder andere Themen wichtig. Dragonball oder so. Auch in den Jahren danach spielte Maradona keine besonders große Rolle für mich. Erst als ich das Internet für mich entdeckte, entdecke ich auch Maradona wieder. Sein lässiges Aufwärmprogramm zu „Live is life“. Sein 40. Geburtstag, auf dem er sich selbst besingt. Dieses Video fesselte mich. Wie er dort steht, die Augen geschlossen, während um ihn herum mal wieder alle durchdrehen. Seine Töchter, die ihn mit leuchtenden Augen ansehen. Noch heute ist das meine prägendste Maradona-Erinnerung. Keine Spielszene, kein Tor, kein Solo. Ein Lied bei YouTube. Voller Kraft, voller Leidenschaft. Voller Pathos. Das berührte mich tief und das tut es noch immer. Es dürfte eines der Videos sein, die ich in meinem Leben am häufigsten gesehen habe. Um mit einem leicht abgeänderten Zitat aus einem weiteren berühmten Video abzuschließen: „Oh Mama, Mama, Mama! Weißt du, warum mein Herz so schlägt? Ich habe Maradona bei YouTube gesehen! Und Mama: Ich bin verliebt!“
Sie alle schwärmten von ihm
Ich habe Maradona nicht spielen sehen, weder im Stadion noch im Fernsehen. Als er bei der WM 94 vor der Weltöffentlichkeit zum Buhmann wurde, war ich fünf Jahre alt. Das ist insofern tragisch, als dass ich so nur beim Absturz live dabei war, mit eigenen Augen gesehen habe ich den verschwitzten Fan-Maradona auf der Tribüne, den seltsam karikaturhaften Trainer-Maradona bei der WM 2010 oder den körperlich und irgendwie auch mental verkrüppelten Netflix-Maradona in der mexikanischen Prärie. Für Menschen, die den Fußballgott bei der WM 86 oder in Neapel erlebt hatten, die für ihn spät ins Bett gegangen oder früh aufgestanden waren, dürften manche der eben erwähnten Bilder schmerzhafter gewesen sein als für mich, so als hätten sie den besten Grundschuldfreund plötzlich verwahrlost in der Fußgängerzone getroffen. Gleichzeitig empfanden sie dem Mann gegenüber eine so tiefe Dankbarkeit, eine Zuneigung und ja, wahrscheinlich war es Liebe, dass sie jetzt, Jahrzehnte später, milder mit ihm umgehen konnten. Was waren die kleinen Skandälchen schon gegen all das, was er ihnen einst geschenkt hatte?
Für sie war Maradona schon lange kein Mensch mehr, er war Rockstar und Heiliger, ein Mythos, eine Fabelfigur, ein Gott, und Götter ändern sich nicht, sie verlieren nicht plötzlich an Würde, sie sind einfach das, was sie sind und werden genau das auch immer bleiben. Für mich dagegen war Maradona lange, und heute, am Tag nach seinem Tod, schäme ich mich fast ein bisschen dafür, eine Art Clown. Es gab Doppelgänger, die in deutschen TV-Shows mit Zigarre im Mund auftraten und auf Fantasie-Spanisch irgendwelchen Schwachsinn erzählten, alle paar Monate tauchte ein anderer vermeintlich peinlicher Schnappschuss auf, Maradona im Rausch und mit Plauze, Maradona erzählt Quatsch, Maradona macht Blödsinn. Auf den Kult, der um Maradona in Neapel und Argentinien entstanden war, blickte ich, blickten vermutlich viele andere aus meiner Generation, mit einem Mix aus deutscher Überheblichkeit und Spott. Jaja, mi corazón und so, alles klar, ist in Ordnung, macht ihr mal.
Je älter ich wurde, desto neugieriger wurde ich auf das, was Maradona früher war. Ich schaute YouTube-Highlights, Dokumentationen und Fotos an, ich sah das Aufwärm-Video vom Uefa-Cup-Spiel und das Video aus der Napoli-Kabine nach dem ersten Titel, außerdem das Video vom Matsch-Training und Zusammenschnitte von der WM 1986. Ich fing an, für 11FREUNDE zu arbeiten, ich reiste nach Neapel und sah den Stolz der Menschen, die leuchtenden Augen, wenn sie von Maradona erzählten. Ich sprach mit Fußballern, die gegen Maradona gespielt hatten. Egal ob Kohler oder Littbarski oder Häßler, sie alle schwärmten von ihm, von dem, was er mit dem Ball konnte, von der Freude, die er selbst Konkurrenten wie ihnen bereitet hatte. Er spielte Fußball, weil er Spaß daran hatte, er ging ein WM-Finale so an wie wir ein Spiel in der großen Pause gegen die Typen aus der Nachbarklasse. Nur war er halt viel, viel besser als alle anderen. Zumindest das habe ich mittlerweile kapiert.
„Diego hat uns das Leben gerettet“
Was Diego Maradona dieser Welt bedeutet hat? Es gibt eine Anekdote, die es besser beschreibt, als jede andere:
Im Mai 2003 werden Journalisten der argentinischen Zeitung „Clarin“ bei einer Reportage nahe Bagdad von irakischen Soldaten aufgegriffen und mit vorgehaltenen Waffen bedroht. Die Situation ist nicht nur kritisch, sie ist lebensbedrohlich. Und löst sich wie von Zauberhand in Wohlgefallen auf, als die Soldaten erfahren, aus welchem Land die festgenommen Reporter stammen. „Argentinien? Maradona!“ Zitat eines betroffenen Journalisten: „Ihre Stimmung schlug um, sie begannen zu lachen und ließen uns gehen, ohne einen Kratzer. Diego hat uns das Leben gerettet.“
Und uns allen, die den Fußball lieben, das Leben ein Stück weit aufregender und spannender gemacht.
Aber Du, mein Freund, währst ewig
Ihn in den letzten zwanzig, dreißig Jahren beim Leben zu beobachten, das war, als würde man jemandem dabei zusehen, wie er ohne Fallschirm aus dem Flugzeug springt. Bis hierher, so dachte man auf halber Strecke und sogar noch bis kurz vor dem Aufprall, ist ja alles gut gegangen, vielleicht wird er es heil überstehen.
Aber dann kam gegen halb sechs am Mittwoch, dem 25. November 2020, dem fünfzehnten Todestag George Bests, die Textnachricht eines Freundes, fünf Buchstaben nur: „DIEGO.“
Und sofort war klar, was das hieß: Er hatte es nicht überstanden. Der ewig fallende Engel war zerschellt.
Das vollkommen Absehbare, Unausweichliche, Zwangsläufige war eingetreten: Dieses Leben, das eine einzige Überdosis an Begabung, Liebe, Wahnsinn, Steaks und Drogen gewesen war, konnte er doch nur mit dem Leben bezahlen.
Warum um alles in der Welt bin ich dann so erschüttert von der Wucht dieser Nachricht? Habe ich ihn tatsächlich für unsterblich gehalten? Bin ich immer noch der Achtjährige, der ihn unter den hundert Sonnen von Mexiko hat zaubern sehen? Und wenn ich „zaubern“ sage, dann meine ich nicht, dass er bloß etwas tat, das alle andere nicht konnten, nicht einmal im Geiste, und das sie in Ermangelung besserer Beschreibungen als Zauberei bezeichneten, nein, wenn ich „zaubern“ sage, dann meine ich wirklich: Magie. Bin ich immer noch der kleine Junge, der sich weigert anzuerkennen, dass jede Gegenwart Vergangenheit werden muss? Dass alles einmal vorüber sein wird? Die WM 1986, die Kindheit, die Karriere des größten Fußballers aller Zeiten, das Leben an sich? Dass auch dieser Unsterbliche eines Tages stirbt?
Später am Abend schrieb Carlo Ancelotti, der in jener Zeit sein Rivale in den epischen Schlachten zwischen dem SSC Neapel und dem AC Milan gewesen war, bei Twitter: „But you, my friend, are eternal.“ Aber du, mein Freund, währst ewig: Das war ein Trost. Ein Trost, der selbst schon traurig ist. Ich hätte vor dem gestrigen Abend nicht für möglich gehalten, dass Carlo Ancelotti mich jemals zum Weinen bringen würde.
Wo warst du, als dies und jenes geschah? Das ist eine oft gestellte Frage im Rückblick auf etwas, das einen umzuwerfen drohte. Man stellt sie sich wohl, um sich zu vergewissern, dass man an einem Fleck geblieben ist und nicht davon gerissen wurde vom tosenden Sturm.
Wo warst du also, als Diego Armando Maradona starb?
Ich weiß es: Ich stand in der Küche und ließ den Milchreis für meine Kinder anbrennen.
Aber viel besser weiß ich, wo ich war, als er noch lebte: Ich saß im Schlafanzug vor dem Fernseher, im grünen Schein, den der Rasen des Aztekenstadions in unser Wohnzimmer warf, und sah sein magisches Tor zum 2:0 gegen England im Viertelfinale der WM 1986.
Es war, als neigte sich das Spielfeld plötzlich senkrecht in Richtung des Tors von Peter Shilton, es war, als fiele ein Engel vom Himmel. Sein ganzes Leben in einem Sechzigmetersolo, eine Verdichtung des Schicksals, eine Prophezeiung.
Aber er zerschellte nicht. Er schoss das schönste Tor, das jemals geschossen wurde, und wird es immer wieder schießen.
You, my friend, are eternal.
Maradona oder Messi?
Ich brauchte etwas, bis ich kapierte. Das Ergebnis meiner kleinen Umfrage vor ein paar Jahren in Buenos Aires, bei Taxifahrern, Leuten in der Kneipe oder im Stadion – „Wer ist besser: Maradona oder Messi?“ – war von gewaltiger Eindeutigkeit: Maradona! Ohne dass ich aufgrund meines mikroskopischen Wortschatzes die sich anschließenden, übersprudelnden Ausführungen wirklich verstanden hätte, verstand ich sie irgendwann doch. Und dass ich die falsche Frage gestellt hatte. Denn letztlich ging es beim Aufzählen seiner Triumphe und vor allem dass er Argentinien zum Weltmeister gemacht hatte, beim Sprechen über seiner besten Tricks und größten Spiele um etwas ganz anderes: Maradona war wie wir. Oder besser: auch wie wir.
Denn auf dem Rasen war er ein Gott. „Wenn man auf dem Spielfeld steht, verschwindet das Leben. Alles verschwindet“, hat Diego Armando Maradona mal gesagt. Wenn man ihm zuschaute, war es ebenfalls so, das Leben spielte für neunzig Minuten keine Rolle mehr. Aber wenn er den Rasen verließ, war seine nächste Tragödie nicht weit, der nächste Fehler und das nächste Scheitern. So war Maradona ein Gott, zu dem wir aufschauen konnten, der uns aber zugleich nahe war in seiner Einsamkeit, Depression und Sucht sowie seinen endlosen Versuchen, wieder von vorne anzufangen. Deshalb hatte ich die falsche Frage gestellt, in der Stadt, wo auch zwei Jahrzehnte, nachdem er das Trikot zum letzten Mal ausgezogen hatte, überall Wandgemälde und Graffitis zu sehen waren, die ihn zeigten. Die Frage ob Maradona besser war als Messi, vielleicht der beste Fußballspieler aller Zeiten, war banal und überflüssig, denn er hatte die Herzen erreicht wie kein anderer.
Maradona in Meppen
Und meine zukünftigen Kinder, die Dich nie gesehen haben werden, was sollen sie jemals über Fußball wissen können? Diese Frage steht in einem Dankesbuch, das die Stadt Neapel zum Abschied von Diego Maradona aufstellen ließ. Bevor Maradona nach Neapel kam, war er in Meppen. Und bestimmt stellten sich auch hier Eltern die Frage, wie sie ihren Kindern begreiflich machen könnten, wer für einen Tag in dieser Stadt war. Denn es ist ja so: Wir beginnen mit dem Fußballspielen, weil wir Vorbildern nacheifern. Weil wir Tore schießen wollen wie Jürgen Klinsmann, weil wir aussehen wollen wie George Best, weil wir aus unerklärlichen Gründen Hans-Jörg Criens sehr gut finden.
Eines meiner Vorbilder war Josef Menke. Ein Zehner, der Zehner, für den SV Meppen. Dabei beendete Josef Menke seine Karriere, als ich zwei Jahre alt war. Und trotzdem wusste ich, dass er besonders war, weil meine Eltern, meine Großeltern, meine ganze Familie immer wieder von ihm sprachen. Menke, das waren Erinnerungen an großen Zeiten. Und ein Versprechen, dass sie zurückkommen werden. Ich habe ihn nur ein einziges Mal spielen sehen, für die Alten Herren. Viele morsche Gelenke, viele gute Ideen und Kämpfe mit dem eigenen Körper. Und ich erinnere mich an dieses Tor: Nach einem Eckball nahm Menke den Ball mit der Brust an, er stand in der Luft, und noch bevor der Ball von seinem Körper abtropfend den Boden berührte, drosch er ihn ins Tor. Unglaublich. Und nur eine Andeutung, wie gut er einst gewesen sein muss.
Im Sommer 1982 spielte Menke gegen Maradona, als er in unsere Stadt kam und für den FC Barcelona sein Debüt gab. Es gibt ein sehr berühmtes Bild von diesem Tag, zumindest hier in der Stadt kennt es jeder. Maradona, 21 Jahre alt, nimmt den Ball hüfthoch mit dem Außenrist seines linken Fußes an, sein rechter Arm hängt hoch oben in der Luft. Das Foto friert die Szene ein, die von ihrer Bewegung lebt und zerstört sie nicht. Neben Maradona steht sein Gegenspieler, Menke, mit aufgerissenen Augen, mit offenem Mund. Er steht dort und staunt über einen, der so viel besser war als er. Seit diesem Foto weiß ich, obwohl ich Maradona nie habe spielen sehen, sehr viel mehr über Fußball.
Warum war ich so begeistert?
Ausgerechnet in Gelsenkirchen kam ich Diego Maradona einmal ziemlich nah. Das war am 16. Juni 2006, als die argentinische Nationalelf keinen Zweifel daran ließ, wer das Sommermärchen gewinnen würde. Mit 6:0 überrannten die Südamerikaner ein bedauernswertes Serbien und Montenegro und konnten es sich dabei erlauben, einen gewissen Lionel Messi 75 Minuten lang auf der Bank schmoren zu lassen.
In meiner Erinnerung habe ich das Spiel durchaus interessiert verfolgt und zeigte mich schwer beeindruckt von den Argentiniern. Doch als ich wieder zu Hause war und die an dem Nachmittag gemachten Erinnerungsfotos von meiner Digitalkamera auf den Rechner zog, stellte ich fest, dass da nur wenige Bilder vom Geschehen auf dem Rasen waren. Dafür hatte ich sehr viele von der Ehrentribüne gemacht, die fast direkt gegenüber von unseren Sitzplätzen war. Dort turnte nämlich ein kleiner, dicker Mann in einem blau-weißen Trikot herum. Selbst auf die Entfernung hatte ich keinen Zweifel, um wen es sich handelte. Offenbar verbrachte ich einen Großteil des Spiels damit, ihn vernünftig aufs Bild zu bekommen. Als die Stadionregie ihn endlich einfing und sein Konterfei auf den Videowürfel unter dem Dach der Arena projizierte, machte ich sogar mehrere Fotos von der Leinwand.
Warum war ich so begeistert, wenigstens im selben Stadion zu sein wie Maradona? Ich weiß es nicht genau; vielleicht weil wir beide im selben Sommer feststellten, wie hässlich der Fußball sein kann. Das war 1982, als ich während der WM in Spanien an der Ungerechtigkeit des Spiels verzweifelte und es aus so tiefem Herzen verdammte, wie man das nur als 16-Jähriger tun kann. Es war das Turnier, in dem eine arrogante, zynische und mindertalentierte DFB-Elf ins Finale kam, während die beste Mannschaft, die wir je gesehen hatten, früh ausschied (nämlich Brasilien) und der beste Spieler, den wir je gesehen hatten, zu Brei getreten wurde. Ein Auftragskiller namens Claudio Gentile beging beim Spiel Italien gegen Argentinien nicht weniger als 23 Fouls an Maradona. Nein, das ist kein Tippfehler. Wie gesagt, Fußball konnte sehr hässlich sein.
Umso bemerkenswerte, dass Maradona diese und andere Anschläge auf seine Gesundheit (Andoni Goikoetxea brach ihm mal absichtlich das Bein) überstand und einigermaßen heil aus dem ganzen Wahnsinn herauskam. Unterbewusst muss ich ihn dafür schon 2006 bewundert haben, denn sonst hätte ich nicht all diese unscharfen, verwackelten Fotos gemacht. Richtig bewusst wurde mir das alles aber erst vor rund einem Jahr. Im Herbst 2019 schaute ich mir nämlich in einem Berliner Kino den Film über Toni Kroos an. Und nur wenige Tage später präsentierte ich dann als Vertreter von 11FREUNDE die Deutschland-Premiere der Maradona-Doku von Asif Kapadia. In ihr geht es vor allem um Maradonas atemberaubende Jahre in Neapel, die jedem von uns den Verstand geraubt hätten.
Man kann sich keine zwei Filme desselben Genres vorstellen, die unterschiedlicher sind. Wie ich zu den Premieren-Besuchern im Kino sagte: „So nett und schön der Kroos-Film ist, er verströmt auch kultivierte Langeweile. Man fragt sich die ganze Zeit, wo denn eigentlich die Geschichte sein mag. Wo ist das Drama? Wo sind die Drogen, die Mafia und die Gewalt? Wo ist der Irrsinn des Lebens? Nun, all das ist hier.“ Und dann begann der Film über ein Leben, das vielleicht zu kurz war, aber niemals langweilig.
Mit dem Rücken zur Wand
Es war der 9. Juni 2006. Das weiß ich deshalb so genau, weil an jenem Tag die WM begann und ich gemeinsam mit einem Kollegen als Berichterstatter auf der Tribüne saß. Deutschland gegen Costa Rica in München: Aus dem Hintergrund müsste Lahm schießen, Lahm schießt, 1:0. Beim Schlusspfiff stand es 4:2, doch da waren der Kollege und ich längst auf dem Weg in die Katakomben. Stimmen und Impressionen sammeln. Wir irrten einen endlos langen, menschenleeren Korridor entlang – links und rechts schneeweiße Wände, über uns kaltes Neonlicht. Und vor uns plötzlich eine Offenbarung: Ein kleiner, leicht übergewichtiger Mann kam uns entgegen, mit leicht schleppendem Gang, stark schwitzendem Antlitz und zwei muskelbepackten Personenschützern im Schlepptau. Es war Diego Maradona, und während ich zum Monument eines Staunenden erstarrt war, reagierte mein Kollege wie ein Profi: Er drückte mir seine Kompaktkamera in die Hand und zischte: „Mach ein Foto von mir und vom Diego.“
Dann, zu Maradona gewandt, fragte er: „Ixkjus mi, Diego, känn wie mäk ö Piktscha?“ Die Bodyguards traten prompt einen halben Schritt vor, doch „El Dios“ presste ein bemüht freundliches „Si“ hervor, gefolgt von einem betont unfreundlichen „No“, als der Kollege ihm auch noch den Arm um die Schulter legen wollte. Egal. Ich betätigte den Auslöser, einmal, zweimal, dreimal. Dann, gerade als auch ich um ein Erinnerungsfoto mit dem G.O.A.T. bitten wollte, registrierte ich Panik in dessen Gesicht: In meinem Rücken näherte sich eine ganze Traube spanischsprachiger Journalisten. Aus der Traube wurde binnen Sekunden ein Menschenauflauf; Maradona und den Bodyguards blieb nur der Rückzug. Und da stand er nun, dieser kleine große Mann des Weltfußballs: gefangen zwischen einer brüllenden Meute von Fragestellern (in der auch ich und mein Kollege feststeckten) und einer kalten, schneeweißen Wand am Ende des Korridors.
Die Personenschützer bildeten einen schützenden Halbkreis und schirmten Maradona mit ihren Gorillarücken so gut wie möglich ab. Dann und wann konnte ich einen Blick auf dessen entrücktes und zugleich bedrücktes Gesicht erhaschen, und ich dachte: Es ist garantiert nicht gesund, ein „Fußballgott“ zu sein. Nun also ist Diego Armando Maradona in sein Himmelreich aufgestiegen, viel zu früh. Und vermutlich sind wir alle, die wir ständig und überall etwas von ihm wollten – Reporter, Fans, Berater, Mitspieler, Gegenspieler, Passanten auf der Straße oder Sitznachbarn im Flugzeug – ein Stück weit mit schuld daran. Bleibt nur zu hoffen, dass „El Dios“, dort, wo er jetzt ist, Ruhe und Frieden vorfindet.
Wahnsinn! Siebzehn Tore!
Mitte der Achtziger hatte ich beinahe wöchentlich einen neuen Lieblingsspieler. Ich schwärmte für Olaf Thon, weil er einen feinen Bartflaum auf der Oberlippe und auf seinem Trikot der Name meiner Lieblingsjeansmarke (Paddock’s) stand. Ich fand HSV-Stürmer Ralf Balzis toll, nachdem er einen Hattrick gegen Saarbrücken erzielt hatte. Und als ein Freund mir ein Frankreich-Trikot mit der Zehn mitbrachte, lief ich nur noch als „Platini“ auf den Bolzplatz. Aber keine Beziehung hielt lange, nichts war von Dauer. Bis Maradona die Bühne der WM 1986 betrat.
ZDF-Reporter Rolf Kramer erzählte von einem Spieler, der es aus ärmsten Verhältnissen ganz nach oben geschafft hatte. Von einem Wunderkind, einem Goldjungen. Maradona sah in seiner Kugelhaftigkeit selbst aus wie ein Fußball, er dribbelte zehn Verteidiger aus, er schlug Traumpässe und schoss Tore, die selbst Ralf Balzis niemals hätte schießen können.
Ein Jahr nach der WM gastierte der SSC Neapel in meiner Heimatstadt Hamburg. Überall hingen Plakate: „Maradona kommt – HSV gegen SSC Neapel – Spiel des Jahres!“ Es war ein Freundschaftsspiel zum 100. Geburtstag des HSV. Aber ich war nicht da, weil wir im Urlaub in Spanien waren.
Als ich zurückkam, trugen einige Mitspieler in meiner F‑Jugend-Mannschaft Maradona-Trikots, die meisten waren selbst gemacht: die Zahl 10 und den Namen Diego hatten sie mit Edding auf ihre T‑Shirts geschrieben. Ich fragte sie, wie das Spiel im Volksparkstadion gewesen sei. Und dann begannen sie zu schwärmen, wie nur Zehnjährige schwärmen können: „Maradona hat gewunken, und dann hat er gedribbelt, und dann hat er geschossen und zwölf oder siebzehn Tore gemacht.“ Und dann überlegten sie, wie sie Maradona zum HSV holen könnten.
Ich dachte nur: Wahnsinn! Siebzehn Tore! Und das gegen diesen neuen Torhüter, von dem wir nur wussten, dass er vermutlich der beste Torhüter der Welt war. Er war von Hajduk Split zum HSV gekommen, ein Mitbringsel von Trainer Josip Skoblar. Er sei besser als Uli Stein, besser als Toni Schumacher. Eine Katze. Ein Panther. Sein Name: Mladen Pralija.
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