Heute vor einem Jahr starb Diego Maradona. Wir denken an das, was er uns allen einst geschenkt hat. Hier erinnern sich unsere Autoren an den vielleicht größten Fußballer aller Zeiten.
Gott auf dem Acker
Wer einmal in Neapel war, kommt auch Jahrzehnte nach seinem Weggang nicht an Maradona vorbei. Miniaturfiguren, Graffiti und andere Bildnisse säumen die Stadt so wie die Erinnerungen an Diego die Gespräche in den Cafés. Doch viel von der Liebe, die die Menschen hier einem der größten Fußballer der Geschichte entgegen bringen, lässt sich in dem Vorort Accera erklären. Kurz nach Diegos Ankunft in Italien bat dort der Vater eines kranken Jungen seinen Mitspieler Pietro Puzone um Hilfe. Puzone stammte aus Accera, einem bis heute sehr armen Fleckchen, das an Maradonas Wurzeln in Argentinien erinnert. Die Mannschaft des SSC Neapel organisierte ein Freundschaftsspiel gegen die Mannschaft des Ortes, um dem Jungen zu helfen.
Doch der Klub selbst fürchtete die Verletzungsgefahr für seinen neuen Star und weigerte sich, die Versicherung für solch einen Kick zu übernehmen. „D10s“ selbst soll dafür gezahlt und sich mit Haut und Haaren für das Freundschaftsspiel eingesetzt haben. Das Team zog sich die Trikots über – ohne das Plazet des Klubs, aber eben von Maradona. Er war damals schon größer als alle anderen. Wer die Bilder des Spiels sieht, erschreckt über den Acker, auf dem er mit seiner Mannschaft auflief. Neapel gewann 4:0 und sammelte auch dank der Spende Maradonas an die 20 Millionen Lira. Es sind neben den sportlichen Erfolgen und Kunststücken jene Anekdoten, die Diego rund um Neapel zu einer heilandähnlichen Gestalt werden ließen. Gott spielt auf dem Acker für den Jungen aus dem Armenviertel. Die Geschichte ist fast zu kitschig, sie verbindet Tragik und Schönheit – wie so vieles in der Biografie von Diego Armando Maradona.
Ein Wesen vom anderen Stern
In der WhatsApp-Gruppe meiner alten Mindener Clique wird häufig mal Fußball zum Thema, gerne auch spitzzüngig, weil die Vereinsvorlieben breit gestreut sind. Im Moment muss naturgemäß der Schalker unter uns viel einstecken, wobei die bösesten Kommentare ironischerweise von einem Fan des Hamburger Sport-Vereins kommen. Zuletzt kam allerdings oftmals kein wirklicher Schlagabtausch zustande, wird ja auch irgendwann langweilig, auf einen am Boden Liegenden weiter einzudreschen.
Gestern um kurz nach 18 Uhr aber ist unsere WhatsApp-Gruppe explodiert. „Diego ist tot. Was für ein Scheißtag“, ließ einer verlauten, und innerhalb von zwölf Minuten hatten alle, wirklich alle ihre Bestürzung kundgetan. „Wirklich unfassbar“ schrieb einer, „der Held der für mich besten WM aller Zeiten, 1986 in Mexiko.“
Hoppla. Wenn jemanden der Schmerz überwältigt, dann gehen mit ihm schon mal die Pferde durch, aber die 86er Weltmeisterschaft zur besten aller Zeiten zu erklären, das ist ungefähr so, als würde man behaupten, es habe nie wieder eine bessere Rockband als Status Quo gegeben. Die WM 1986 war rein fußballerisch nicht unbedingt das Gelbe vom Ei, mit wenigstens einem Finalisten (nein, nicht Argentinien), dessen Trainer nachher erzählt hat, er wisse selbst nicht so genau, wie seine Truppe es eigentlich ins Endspiel geschafft hat.
Doch je mehr ich darüber nachdenke, desto besser kann ich meinen alten Freund verstehen. Mexiko 1986, das war viel Gebolze und Rumpelfußball, aber eben auch flirrende Hitze, bleiche Farben und: Diego. Das beste Dribbling aller Zeiten, die Hand Gottes, Tricks und Tore vom anderen Stern.
Erschwerend hinzu kommt, dass die meisten aus unserem Freundeskreis die damalige Weltmeisterschaft in Bundeswehr-Kasernen verbracht haben. Man möge deshalb über uns richten, aber so war es nun mal. Und dort saßen wir nun, gelangweilt in schlecht gelüfteten Stuben und freuten uns über die Abwechslung. In diesem Umfeld erschien uns Diego wie ein Wesen vom anderen Stern. Dieser Mann hatte alles, was wir nicht hatten, er konnte alles, was wir nicht konnten, er durfte vorsätzlich den Ball mit der Hand spielen und wurde trotzdem gefeiert, während wir für Nichtigkeiten angebrüllt wurden.
In diesem Sommer war Diego Maradona das schillernde Beispiel dafür, dass es noch ein anderes, schöneres Leben außerhalb des Kasernenhofs gab. Status Quo hätten so etwas beim besten Willen nicht leisten können.
Weihnachtskarten von Diego Maradona
Einer der schönsten Aspekte an der Arbeit bei 11FREUNDE sind die Interviews für die Rubrik „Der Fußball, mein Leben und ich.“ Man trifft die Helden seiner Kindheit und lässt sich all das, was man früher vorm TV verfolgte, nochmal brühwarm aus erster Hand erzählen. Aber mein Wunschtraum, dafür einmal Diego Armando Maradona zu sprechen, blieb stets genau das, ein Wunschtraum. Und doch tauchte Diego relativ häufig in dieser Rubrik auf. Fast jeder Spieler aus der Generation Maradona hatte eine Anekdote zu ihm. Hans Peter Briegel erinnerte sich, wie Diego vor dem Spiel zum Aufwärmen den Ball auf den Schultern jonglierte. Dieter Eckstein erzählte, wie sich Diego barfuß mit einem Tennisball warmmachte. Jürgen Kohler erzählte meinem Kollegen Max Dinkelaker, wie Maradona in einer Halle den Ball auf Basketballkörbe schoss, barfuß und mit seiner Tochter auf dem Arm, und neun von zehn Versuchen traf. Jesses, wenn mir der nächste Fußballer der Achtziger/Neunziger versichert hätte, Maradona hätte vor seinen Augen 5000 Mal eine Haselnuss hochgehalten, ich hätte es geglaubt.
Denn es deckte sich ja mit dem, was ich selbst noch vage aus Diegos Karriereherbst erinnerte. Dinge, die man heute in Youtube-Clips sehen kann, und deren Bild zwar sehr körnig sein mag, dennoch aber ein sehr klares Bild davon vermittelt, was Diego als Fußballer so besonders machte. Diego, wie er den Ball auf den Schultern jongliert. Diego, wie er auf einem Platz voller Matschpfützen kickt. Und Diego, na klar, wie er sich tanzend zu „Live is Life“ aufwärmt. Nie ist der Fußball auf professionellem Niveau seinem Wesenskern näher gekommen, mehr bei sich gewesen, als in dem Spielkind Diego Maradona. Warum fangen wir denn überhaupt an, den Ball vors Garagentor zu kicken oder mit Freunden jede verfügbare Fläche in ein Spielfeld zu verwandeln, Schulranzen als Tore, eine Coladose als Ball? Aus denselben Gründen, aus denen Diego stets aufs Feld ging. Er hat sie sich immer bewahrt.
Ich liebe diese Aufnahmen, auch wenn ich mich dann oft ärgere über die paar Jahre, die seine Blüte und meine Fußballsozialisation trennten. Und heute liebe ich diese Aufnahmen noch mehr als sonst. Weil sie mir versichern, wie die Leute Diego in Erinnerung behalten werden. Mit einem Blick aufs fußballerische Genie, den Spaßmacher, nackt und unverstellt von irgendwelchen Skandalen, Drogengeschichten und sonstigem allzu menschlichen Ballast, den Diego ja stets mit und vor sich her trug. Ein trauriger Clown, klar, aber er wird als Clown erinnert werden, nicht als traurig. Besonders berührt hat mich übrigens die Geschichte Briegels, der in seiner Zeit in Italien Maradona so beeindruckt haben muss, dass dieser ihm jahrelang jedes Weihnachten eine Karte schickte. Weihnachtskarten von Diego Maradona, kann man sich das vorstellen? Dabei hatten Briegel und Maradona eigentlich nicht viel miteinander zu tun, sie waren ja nur Gegner. Briegel konnte auch nie antworten, weil nie eine Adresse auf den Karten stand. Aber was hätte er auch schreiben sollen?