Für Diego Maradona gab es Regeln nur, um sie zu brechen. Auf dem Platz und auch im Leben. Sein alter Trainer César Luis Menotti erklärt, warum ihn das zum Fußballgott machte.
Dieser Text erschien erstmals im März 2013 in unserem 11FREUNDE SPEZIAL „Rebellen“. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Als ich Diego zum ersten Mal sah, war er noch ein Kind. Ein Kind, das in der ersten Liga debütierte. Ich war Nationaltrainer, und einer meiner ehemaligen Spieler trainierte die Argentinos Juniors. Er sagte mir, dass er da einen Jungen habe, der unglaublich sei, ich solle ihn mir anschauen. Ich gab erst nicht viel darauf. „Gut“, sagte ich, „du hast da diesen unglaublichen Jungen, ruf mich wieder an, wenn er in der ersten Liga spielt.“
Ein paar Wochen später war es dann soweit: Beim Spiel gegen Talleres de Cordoba stand Diego auf dem Platz. Das war im Herbst 1976, kurz vor seinem 16. Geburtstag. Er war noch nicht der, der er einmal werden sollte, aber er zeigte schon damals außergewöhnliche Fähigkeiten. Ich saß auf der Tribüne und sah seine Spielwut, er traute sich etwas, in einem Spiel gegen einen starken Gegner. Von da an war ich sicher der Trainer, der am längsten mit ihm gearbeitet hat: Ich holte ihn 1977 in die Nationalmannschaft, später waren wir bis 1984 gemeinsam beim FC Barcelona.
Diego war ein reinrassiger Fußballer. Er hatte eine enorme Kapazität zu lernen, wollte sich immer verbessern, sich alle Fußballer anschauen und über Fußball lesen. Er begnügte sich nicht mit seinem Talent. Aber als die WM 1978 anstand, nahm ich ihn nicht in den Kader auf. Ich hatte erfahrenere Spieler, und gerade wenn man ein Turnier zu Hause spielt, braucht man Persönlichkeiten, die den Druck aushalten. Im Nachhinein sagten immer alle: „Warum hast du ihn nicht spielen lassen?“ Aber was wäre passiert, wenn wir nicht gewonnen hätten und er wäre dabei gewesen? Gerade mal 18 Jahre alt? Ich hatte damals den Eindruck, dass er für so ein Erlebnis noch nicht reif genug war. Ich wollte ihn schützen. Im Grunde habe ich das immer versucht: Ihn zu schützen und ihn nicht auszunutzen, so wie viele andere es getan haben.
Unsere Beziehung damals war sehr eng. Nicht so wie Vater und Sohn, aber doch liebevoll. Als Bilbaos Verteidiger Andoni Goikoetxea Diego in Barcelona mit seinem brutalen Foul das Wadenbein brach, da fühlte ich den Schmerz so wie er. Ich war während der Operation bei seiner Familie im Krankenhaus. Wir haben einige solcher Momente gemeinsam durchgemacht. Ich habe versucht, ihm alles zu sagen, was man einem Jungen wie Diego sagen kann. Alles, was ihm dabei helfen konnte, reifer zu werden. Aber ihn vorbereiten auf das, was kam, das konnte man nicht.
Ich glaube, die Verrücktheit von Diegos Leben begann mit der WM 1986 in Mexiko. Mit seinen beiden Toren gegen die Engländer. Für die Argentinier waren sie eine Art Wiedergutmachung für den verlorenen Falkland-Krieg, ein Sieg, der Fußball und Politik miteinander vermischte. Die Engländer haben uns die Falkland-Inseln genommen, dachten sich die Leute, und jetzt schicken wir sie nach Hause! Vor allem das Tor mit der Hand wurde gefeiert. So sind die Menschen: Sie lieben es, wenn jemand die Regeln bricht. Und Diego hatte die Fußballregeln gleich im doppelten Sinn gebrochen: mit der Hand beim ersten Tor die geschriebenen Regeln des Spiels. Und mit dem Fuß beim zweiten Tor die physischen Regeln des Spiels. Da wurde sein Mythos geboren. Der Gott des Fußballs. Die ganze Welt hatte dabei zugesehen. Und von da an würde sie für den Rest seines Lebens nicht mehr die Augen von ihm abwenden.
Das war Diegos Schicksal, und ich glaube, das ist es, was ihn auch von allen anderen unterscheidet: Als Pelé oder Johan Cruyff die Größten waren, da gab es diese Aufmerksamkeit noch nicht, diesen Medienrummel. Das fing erst mit ihm an. Und dann spielte er zu der Zeit ja auch noch ausgerechnet in Neapel. Einer Stadt, die leidenschaftlicher liebt als alle anderen. Er schenkte den Neapolitanern die Meisterschaft und sie machten ihn zum Heiligen. Natürlich war das eine tolle Zeit für ihn, die Erfolge, die Anerkennung, die Verehrung. Aber es ist auch nicht leicht, mit all dem klarzukommen. Ich glaube, er hat sich dort tatsächlich für einen Moment unverwundbar gefühlt. Wie ein Gott. Ein Gefühl, für das er bezahlen musste, mit seiner Gesundheit.
Er lebte in einer Welt, in der er seinen Platz nicht mehr fand. Manchmal verläuft man sich im Leben, dann braucht man einen Ort, an den man zurückkehren kann. Aber die Personen, zu denen Diego sich zurückziehen konnte, waren nicht gut für ihn. Wir dürfen nicht vergessen, dass er wirklich krank war. Er ist sehr missbraucht worden. Von Menschen, von den Medien. Das hat ihm sehr weh getan. Aber er war selbst dafür verantwortlich. Er hat diese Orte, die nicht gut für ihn waren, auch gesucht.
Andere große Fußballer hören irgendwann auf und gehen nach Hause. Diego nicht. Er machte immer weiter. Und da begann sein wirklicher Kampf. Denn als er die Macht des Balls an seinem Fuß verlor, wurde er angreifbar. Ich sagte ihm einmal, dass er der Jesse James des Fußballs sei. Der Ball an seinem Fuß war für ihn wie für Jesse James die Pistole in der Hand. Und in dem einen Moment, in dem Jesse James die Pistole aus der Hand legte, haben sie ihn erschossen. Ich sagte ihm: „Wenn du mit dem Fußballspielen aufhörst, wirst auch du verwundbar sein.“
Aber Diego ist ein guter Kämpfer, er ist stark, ein Überlebenskünstler. Man muss sich nur daran erinnern, wie dick er war, so dick, dass er fast gestorben wäre, und dann sah er plötzlich wieder aus wie mit 30 und moderierte eine Fernsehshow. Und zwar erfolgreich! Ich habe das Gefühl, dass er sich mittlerweile weit entfernt hat von den Dingen, die ihm schaden. Und ich bin sehr glücklich, dass er das alles überlebt hat.
Ein Rebell war Diego eigentlich nie. Aber wenn einer aus einem Armenviertel kommt, von ganz unten, und so weit nach oben aufsteigt, dann gibt ihm das ein Gefühl von Allmächtigkeit. Diego hatte das Gefühl, dass er alles sagen konnte, was er wollte. Seit der WM 1986 hielten auch die Fans Diego für einen, der aufsässig ist, der sich nicht zähmen lässt, der für die Gerechtigkeit kämpft. Sie glaubten, er vertrete ihre Forderungen, ihre Rechte. Aber sie haben sich getäuscht: Diego hat immer nur für sich gekämpft. Es waren seine persönlichen Kämpfe. Mit einem revolutionären Führer hat er nichts gemein.
Natürlich sieht er sich selbst als Rebell, spätestens nachdem ihn die FIFA von der WM 1994 in den USA ausgeschlossen hatte. Die USA verboten ihm danach auch lange Zeit die Einreise, wegen seiner Drogenprobleme. Vielleicht fühlt er sich deswegen so zu Che Guevara, Fidel Castro und Hugo Chavez hingezogen: Die Feinde der USA sind seine Freunde. Sie erscheinen ihm in seiner Welt wie Robin Hoods, wie Legenden, die politische Analyse interessiert ihn dabei wenig. Er handelt nun mal rein intuitiv.
Im Grunde ist das das einzig Rebellische an Diego: dass er intuitiv handelt, nicht rational. Er schert sich nicht um Konventionen. Er war sich immer darin treu, heute dies zu tun und morgen das Gegenteil. Diego kann heute die Präsidentin kritisieren und sie nächste Woche herzlich umarmen und mit ihr einen Kaffee trinken. Am einen Tag trifft er sich mit Fidel Castro, am nächsten hängt er mit der Schickeria im noblen Badeort Punte del Este ab; erst besucht er ein Armenviertel, dann fliegt er mit Hugo Chavez nach Mar del Plata. Er hat einfach immer das gemacht, wozu er gerade Lust hatte.
Es ist schwierig zu sagen, wer und wie Diego Armando Maradona eigentlich ist. Ich glaube, den authentischen Diego gab es nur auf dem Fußballplatz. Abseits des Platzes jedoch legte er sich eine Persönlichkeit zu, er wurde zu einem Schauspieler seines eigenen Lebens. Seine Suchtprobleme etwa zeigte er so öffentlich, als würde er sie nur spielen. Als er nach Kuba reiste, war er ein Schauspieler der Revolution. Als Nationaltrainer Argentiniens setzte er ein Trainergesicht auf, wie einstudiert für eine Rolle. Aber für mich ist das nicht der Diego, den ich kenne. Für mich ist Diego der Fußballer, der auf dem Platz so genial war. Über den keiner seiner Mitspieler etwas Negatives sagen würde, weil er immer solidarisch war, seine Kameraden verteidigt hat.
Diego ist kein Typ für ein wohlgeordnetes Leben. Da ist immer irgendein Konflikt, jetzt gerade ist, so schreibt es die hiesige Klatschpresse, seine Exfreundin schwanger und er hat sich angeblich von ihr getrennt, weil er kein Kind mehr will. Sein Leben gleicht in gewisser Weise einem unentwirrbaren, wüsten Durcheinander. Es ist ein Leben, das man nicht richtig versteht. Er könnte hier in Argentinien trainieren, aber er treibt sich irgendwo in Arabien rum oder was weiß ich wo. Aber es ist sein Leben. Er lebt so.
Und wer sind wir, dass wir das in Frage stellen?