Jürgen Klinsmann hat seinen Ruf in den letzten Wochen nachhaltig beschädigt. Schlimm ist das – für unseren Autor. Denn Klinsmann war sein Held.
Mein Leben als Fußballfan begann am 25. Juni 1998, etwa in der 57. Spielminute, als Jörg Heinrich den Ball an den Kopf bekam. Ich wusste das nicht, ich musste es noch einmal nachsehen, aber es sind ja meist Gefühle und nicht Daten, die uns erinnern lassen. Meine Erinnerungen an diesen Sommer 1998 sind rar, aber doch intensiv. Heiß war es. Und ich sah die Weltmeisterschaft als Fünfjähriger auf dem Rücken meines Vaters, der sich auf den Bauch und vor unseren kleinen Röhrenfernseher gelegt hatte.
Von Heinrichs Kopf segelte der Ball – es war das dritte und letzte Gruppenspiel der deutschen Nationalmannschaft – an die Strafraumkante zu Oliver Bierhoff. Sein Schuss? An den Pfosten. Doch am Fünfer wartete Jürgen Klinsmann, der den Ball per Flugkopfball zum 2:0 gegen Iran ins Tor wuchtete.
Ich erinnere mich nicht mehr an dieses Tor. Ich erinnere mich nur an den Jubel. Klinsmann, der ekstatisch das Tornetz in beiden Händen hielt und daran riss, denn mit dem Sieg war Deutschland Gruppensieger. Dieses Bild wurde für eine Woche zum Symbol des deutschen Fußballs. Und fasste auch vieles zusammen, was im Naturell Klinsmanns lag: Improvisation, Emotion, der unbedingte Siegeswille.
Wir Menschen brauchen Vorbilder. Deshalb blicken wir hinauf zu älteren Geschwistern, dem Schläger aus der 6a, oder wir lesen Comics. Wir richten uns auf an Mohamed Ali, Han Solo oder Malaika Mihambo. Mein Idol war Jürgen Klinsmann.
Was zu allererst zu einem logopädischen Problem führte. Denn mit vier Jahren konnte ich noch kein „KL” aussprechen. Weshalb ich fortan einen gewissen „Jürgen Tlinnsmann” anhimmelte.
Vielleicht nutzte mir bei der Legendenbildung, dass ich noch nicht lesen konnte. Denn schon damals war das Bild von Jürgen Klinsmann ein zerrüttetes. In München hatte er sich mit Otto Rehhagel und Giovanni Trapattoni angelegt, in Genua geriet er mit Cesar Menotti und Vujadin Boskov aneinander. Tottenham verließ er, nachdem er Trainer Christian Gross wegen dessen taktischer Entscheidungen angeschrien hatte. „Es ist nicht zu übersehen, daß in mir viel, viel Frust entstanden ist“, hatte Klinsmann zum Ende seiner Karriere gesagt. Als ihm viele schon rieten, endlich abzutreten.
In dieser Zeit jubelte Klinsmann oft ganz ähnlich wie nach seinem Tor gegen Iran. Mit ausgestreckten Händen, leicht gebeugt und mit offenem Mund. Die Augen in Richtung Fankurve. Als wolle er sagen: „Ich kann es immer noch! Ist das nicht unglaublich?” Findet ihr mich nicht unglaublich? Der Journalist Ronald Reng mahnte im März 1998: „Menschen – und Fußballer besonders – tendieren dazu, in schlechten Zeiten die Schuld bei anderen zu suchen.“ Klinsmann, so Reng, kämpfe um sein Image.
Und deshalb machte Klinsmann weiter, auch weil Berti Vogts bedingungslos auf ihn setzte. Ein letztes großes Turnier, die WM 1998, sollte folgen. So jubelten wir gemeinsam, das Tornetz in den Händen, er gegen Iran, ich beim örtlichen Training der G‑Jugend. Wir schieden zusammen gegen die Kroaten aus. Später trug ich jedes Spiel, jedes Tor in eine Kladde ein, weil ich gelesen hatte, dass es der Klinsi in seiner Jugendzeit genauso machte. Und auch ich weinte, als Klinsmann weinte, im Sommer 1999 bei seinem Abschiedsspiel in Stuttgart, weil ich – mittlerweile sechs Jahre alt – dachte, mit dem Ende von Klinsmann würde auch der Fußball enden.
Aber der Fußball endete nicht, im Gegenteil, er stand aus der Sicht eines kleinen Jungen aus der niedersächsischen Provinz gerade erst vor seinem nächsten Höhepunkt. Und natürlich, das Sommermärchen 2006, es war alles sein Verdienst. Daran konnten, in meinen Augen, auch Joachim Löw und dessen Flipchart nichts ändern. Wer hatte Arne Friedrich denn gesagt, dass der Tevez seinen Atem spüre?! Im allgemeinen Rausch ging auch unter, dass Klinsmann und DFB-Vizepräsident Franz Beckenbauer ein angespanntes Verhältnis während der WM pflegten. Dort Beckenbauer, der Klinsmann für einen Blender gehalten haben soll. Dort Klinsmann, der Beckenbauer als alternden Kritiker empfand, wie es Der Spiegel am Morgen nach dem Eröffnungsspiel gegen Costa Rica schrieb.
Davon bekam ich redlich wenig mit. Nach Jahren geprägt von peinlichen Turnieren, Nationalspielern wie Marco Engelhardt oder Christian Rahn und einem 0:0 gegen Island hatte Klinsmann den deutschen Fußball zurückgeführt. Im unangenehmen Anflug von Nationalstolz kaufte ich mir später dann ein sündhaft teures, aber erhaltenes Trikot der WM 1994. Rückennummer 18. Klinsmann.
Helden verzeiht man vieles. Super- und Batman wurden sogar „Dawn of Justice” verziehen. Aber Klinsmann und Hertha BSC – das ist etwas anderes.
Seit einem Dienstagmorgen Anfang Februar, als Jürgen Klinsmann auf „Posten” klickte, als er seinen Rücktritt via Facebook ankündigte, gibt es kein Zurück mehr. Im Gegenteil: Es wurde ja nur noch schlimmer. Ein Live-Video, in dem Fragen geklärt werden sollten, und doch nur mehr Fragen aufkamen. Zum Beispiel: Warum? Die öffentliche Schlammschlacht, die durchgestochenen Tagebücher, die offensichtlich größenwahnsinnige Selbstwahrnehmung. Bisher sind all das Argumente für die These, dass Menschen – und Fußballer besonders – dazu tendieren, in schlechten Zeiten die Schuld bei anderen zu suchen.
Im Sommer 1998 konnte Klinsmann den Verdacht, dass es ihm ein wenig an Hang zur Selbstkritik mangele, noch mit Toren gegen Iran vergessen lassen. Diesmal ist das anders. Mit der Melange aus Alleingängen, Mehrwerten und absurden Überhöhungen von Mannschaftsabenden auf Investorenyachten hat sich Jürgen Klinsmann der Lächerlichkeit preisgegeben.
Damit kann ich mich nur schwer abfinden. Und das ist absurd. Denn ich kann mich nicht daran erinnern, dass Jürgen Klinsmann jemals darum gebeten hätte, mein unfehlbares Vorbild zu sein. Wie bei der Meinungsfreiheit existiert für jeden Menschen schließlich ein Recht auf Idiotie. Jeder darf bei Facebook ohne Nachdenken Beiträge verfassen – und, so sehr Binsenweisheit es auch ist, Fußballer sind eben auch nur Menschen.
Wir stellen sie auf ein Podest, überhöhen sie. Und sind selbst Schuld daran, wenn wir am Ende nur enttäuscht werden. Es könnte ja auch viel schlimmer kommen. Im Vergleich zu anderen hat sich Jürgen Klinsmann nur auf peinliche Weise die Aussicht auf einen weiteren Job als Trainer verbaut. Wie muss es jenen armen Teufeln ergehen, die sich seit den 90ern hoffnungslos an Mario Basler klammern? Oder jenen, die einst beim Anblick des jungen Sepp Blatter dachten: Ei der Daus, der Mann hat das Zeug, um die verkrusteten Strukturen des Weltfußballs aufzubrechen! So gesehen habe ich es noch gut getroffen.
Und doch habe ich in Gedanken Abschied genommen von einem Idol. Von einer Freundschaft, die zugegebenermaßen eher einseitig verlaufen war. Von Jürgen Klinsmann. Ich werde mir einen neuen Helden, einen neuen Freund, suchen müssen, wenn ich dafür nicht längst zu alt geworden bin. Denn wozu braucht es ein Vorbild in meinem alltäglichen Gang von daheim zur Legebatterie, die sich Arbeit nennt? Dessen bezeichnender Klimax oft ein Mettbrötchen ohne Zwiebeln darstellt. Dafür braucht es keinen Nationalspieler, eher einen Archetypen des Nine-to-Five-Arbeitstages. Oder anders gefragt: Weiß irgendwer, was Jörg Heinrich heute macht?