Zum ersten Mal seit 21 Jahren steht Union Berlin wieder im Pokal-Halbfinale. Held des Abends ist Andreas Voglsammer. Damit war noch vor wenigen Wochen nicht unbedingt zu rechnen.
Im DFB-Pokal-Viertelfinale zwischen Union Berlin und dem FC St. Pauli läuft die 65. Spielminute, als der an diesem Abend glücklose Taiwo Awoniyi seine Rückennummer 14 in Form roter LEDs auf der elektronischen Auswechseltafel erblickt. Gewohnt freundlich verabschiedet das Publikum im Stadion an der Alten Försterei den teuersten Einkauf der Vereinsgeschichte mit den choreografierten „Fußballgott“-Rufen in den Feierabend. Jedoch ist eine latente Unzufriedenheit über den bisherigen Verlauf des Abends spürbar. Es steht 1:1, zunächst hatten die Eisernen gegen den Zweitligisten sogar zurückgelegen.
Der Gemütszustand der 9.000 zugelassenen Union-Fans verbessert sich jedoch merklich, als im Gegenzug Andreas Voglsammer den Rasen betritt – mit vor Energie strotzenden Schritten. Der 30-jährige Angreifer soll dem bisher ideenlosen Spiel der Köpenicker die dringend benötigte Durchschlagskraft im letzten Angriffsdrittel bringen. Den Beweis, dass diese Hoffnung gut begründet ist, erbringt Voglsammer keine fünf Minuten später. Nach geschickter Kopfballablage von Grischa Prömel, behauptet sich der Stürmer im 5‑Meter Raum ohne Probleme gegen die 15 (!) Zentimeter größere Abwehrkante Jakov Medic und kommt nach intensivem Armeinsatz des Verteidigers zu Fall. Auch wenn Schiedsrichter Florian Badstübner den Eisernen in dieser Situation den Elfmeterpfiff verwehrt, läutet diese Aktion die wohl beste Phase der Köpenicker an diesem Pokalabend ein.
Dass Urs Fischer mit der Einwechslung von Andreas Voglsammer sowohl auf dem Platz als auch auf den Rängen für einen derartigen Stimmungsumschwung sorgt, hätte man nach der Hinrunde der aktuellen Saison eigentlich kaum erwartet.
Trotz Aufholjagd und Klassenerhalt lehnte Voglsammer im vergangen Juni nach fünf erfolgreichen Jahren bei Arminia Bielefeld ein Vertragsangebot ab und wechselte ablösefrei nach Berlin-Köpenick. Dort fand die Leihe von Taiwo Awoniyi zunächst keine Fortsetzung, sodass auf der zweiten Stürmerposition neben Max Kruse im 5−3−2 System von Urs Fischer eine Vakanz entstand. Mit Sheraldo Becker und dem von Sandhausen losgeeisten Kevin Behrens deutete während der Sommervorbereitung alles auf einen Dreikampf um den Stammplatz im Angriff hin. Der überraschende Kauf von Awoniyi entschied dieses Triell jeddoch vor dem Bundesligaauftakt gegen Leverkusen zugunsten des lachenden Vierten.
Für Voglsammer, der mit seiner Laufstärke und kampfbetonten Spielweise sowohl auf dem Flügel als auch im Zentrum einsetzbar ist, blieb während der Hinrunde der laufenden Bundesligaspielzeit bis auf einen Startelfeinsatz gegen seinen Ex-Verein Bielefeld nur die undankbare Rolle des Einwechselspielers. In 278 von möglichen 1530 Einsatzminuten, gelangen dem abschlussstarken Rechtsfuß lediglich zwei Scorerpunkte (ein Tor, eine Vorlage).
Auch in den Pokalwettbewerben verlief der Start schleppend. Während der enttäuschend verlaufenden Gruppenphase der Conference League stand Voglsammer lediglich am zweiten Spieltag gegen Maccabi Haifa in der Startelf, was der ehemalige U18-Nationalspieler mit dem 1:0‑Führungstreffer rechtfertigte. In den folgenden vier Spielen reichte es dennoch nur für vier Kurzeinsätze nach Einwechslung. Und auch die ersten beiden Runden des DFB-Pokals gegen Türkcücü München und Mannheim liefen für Voglsammer nicht optimal. Zwar stand er in beiden Begegnungen in der Startelf, hinterließ jedoch bis auf den Assist zum wichtigen Ausgleichstor gegen den Waldhof keinen bleibenden Eindruck.
Nach der kurzen Winterpause und begünstigt durch die Abwesenheit von Taiwo Awoniyi, der mit Nigeria beim Afrika Cup weilte, erhielt Voglsammer am 18. Spieltag gegen die TSG Hoffenheim den Vorzug vor Kevin Behrens und erzielte seinen zweiten Bundesligatreffer. Und nur vier Tage später sollte der Knoten endgültig platzen. Im Achtelfinale des DFB-Pokals gegen den kriselnden Stadtrivalen Hertha BSC zeigte Voglsammer seine bis zu diesem Zeitpunkt beste Saisonleistung und krönte einen grandiosen Auftritt mit einer spektakulären Direktabnahme, die in der Sportschau zum Tor des Monats „Januar“ gekürt wurde.
Seit diesem Januarabend im Berliner Olympiastadion verbucht das Minutenkonto Voglsammers auch in der Bundesliga stark anwachsende Einsatzzeiten. Das hängt sicherlich auch mit dem spektakulären Abgang von Max Kruse und den nach der hohen Belastungen des Afrika Cups schwankenden Leistungen Taiwo Awoniyis zusammen. Viel entscheidender für Vogelsammers wachsende Bedeutung im Spiel von Union Berlin ist aber seine stark ansteigende Formkurve, die auch der FC St. Pauli eindrucksvoll erleben musste.
Nur fünf Minuten nach der strittigen Elfmetersituation schlägt die Unioner Hintermannschaft erneut einen der zahlreichen langen Bälle, die den ersatzgeschwächten Kiezkickern bis auf eine Slapstick-Einlage von Keeper Smarsch vor dem Ausgleichstreffer durch Sheraldo Becker im bisherigen Verlauf des Spiels keine Probleme bereiteten. Im Gegensatz zu seinem glücklosen Vorgänger Awoniyi setzt Voglsammer dem bereits verloren geglaubten Ball jedoch energisch nach, behält in der Neuauflage des Duells mit Verteidiger Medic die Oberhand und stößt mit einem überlegten Rechtsschuss das Tor zum Halbfinale entscheidend auf.
Mit diesem beeindruckenden Auftritt gegen den FC St. Pauli verdichten sich die Anzeichen, dass die Anlaufschwierigkeiten von Andreas Voglsammer endgültig überwunden sind und Sportchef Oliver Ruhnert erneut ein richtig guter Griff gelungen ist. Und auch der noch zu ermittelnde Gegner im Pokal-Halbfinale dürfte ein besonderes Augenmerk auf den Aktionsradius von Voglsammer legen.