Kaum zu fassen, was manche Fans veranstalten, um den Fußballgott gnädig zu stimmen.
Doch es gibt in Deutschland Fans, bei denen der Glaube an die Notwendigkeit von Ritualen noch stärker ausgeprägt ist als bei den Gladbachern. „Ich bin mir ganz sicher: Im Fußball werden die unerklärlichen Momente durch den Aberglauben und die verrückten Rituale der Fans ausgelöst“, sagt der 42-jährige Kai Wisznewski aus Hamm. „Und weil es auf Schalke so viele Freaks gibt, die an ihre Rituale glauben, gibt es auf Schalke auch so unglaublich viele ungewöhnliche Momente.“
Diese Theorie ist nicht von der Hand zu weisen. Schließlich wusste schon Luther: „Der Glaube ist nimmermehr stärker und herrlicher, denn wenn die Trübsal und Anfechtung am größten sind.“ Mit anderen Worten: Da die Mächte des Schicksals dem FC Schalke offenkundig feindselig gegenüberstehen, müssen die Anhänger des Klubs besonders ausgetüftelten Ritualen folgen. Wisznewski, der sogar seinen Job aufgab und sich selbständig machte, damit er mehr Schalke-Spiele sehen kann, hat selbst schon eine Menge königsblauer Zeremonien mitgemacht. Zum Beispiel die Sache mit den weißen Mäusen.
„Hat einwandfrei funktioniert“
In seinem Buch „Fever Pitch“ beschreibt der Engländer Nick Hornby einen „Abwehrzauber“ von Cambridge-United-Fans, die Schaummäusen den Kopf abbeißen und dann die Rümpfe unter vorbeifahrende Autos schleudern. Was in Cambridge klappt, könnte auch in Gelsenkirchen Erfolg haben, dachte sich ein Kumpel von Kai namens Eppi im Verlauf der Saison 1996/97 und verteilte die Süßigkeit unter seinen Freunden. „Je mehr platte kopflose Mäuse, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass Schalke gewinnt“, erinnert Eppi sich an diese glorreichen Tage, die durch den UEFA-Cup-Sieg in Mailand gekrönt wurden. „Das waren tatsächlich schöne Bilder, wie Mäuse aus dem fünften Stock flogen. Sehr beliebt war auch, das während der Fahrt auf der Autobahn zu machen, wegen der hohen Trefferwahrscheinlichkeit.“
Bei den Heimspielen trafen sich die Mäusekiller hinter der Nordkurve des Parkstadions und bildeten einen Kreis. „Vorwärts wie rückwärts: Latal!“, riefen sie, dann wünschten sie sich etwas für die kommenden 90 Minuten, bevor sie den Mäusen den Kopf abbissen. „Hat einwandfrei funktioniert“, sagt Wisznewski. Bis zum letzten Spieltag der Saison 2001. Da wünschten sich die Schalker, dass der FC Bayern in Hamburg in der 90. Minute in Rückstand geraten möge. Obwohl die magische Kraft der Mäuse genau das eintreten ließ, wurde das Ritual an diesem Tag abgeschafft. Zu schmerzhaft war Bayerns Ausgleich tief in der Nachspielzeit.
„Selbst die 3:0‑Führung konnte mich nicht beruhigen.“
Doch das Ritual mit der Kastanie, das behielt Kai bei. Er hatte sie im Herbst 1983 gefunden und zum ersten Mal mit ins Stadion genommen, als der Zweitligist Schalke den Bayern das unvergessliche 6:6 im Pokal abtrotzte. Danach war die Glückskastanie fast ein Vierteljahrhundert lang Wisznewskis treuer Begleiter beim Fußball. „Ausgerechnet vor dem Derby im September 2008 konnte ich sie dann nicht finden“, sagt er. „Verlegt, verloren? Ich wusste es nicht. Jedenfalls musste ich das ganze Spiel daran denken, selbst die 3:0‑Führung konnte mich nicht beruhigen.“
Um 16.50 Uhr an jenem Tag flankte Rafinha an den langen Pfosten, wo Schalkes Mittelstürmer Kevin Kuranyi den Ball nur noch ins Netz nicken musste. Hinter dem Tor machten sich die Fans der Königsblauen bereit, den vierten Treffer ihrer Elf beim Rivalen zu feiern. Doch Wisznewski verfolgte den Flug des Balles mit einem mulmigen Gefühl. Tief in seinem Innern wusste er, dass dieser bislang so herrliche Nachmittag böse enden musste. Aus kaum zwei Metern Entfernung köpfte Kuranyi den Ball neben das Tor. Kurz danach fiel das 1:3. Dann das 2:3. Dann wurden zwei Schalker vom Platz gestellt. In der letzten Minute führte ein umstrittener Elfmeter zum 3:3.
Vielleicht sähe die jüngere Geschichte der Bundesliga völlig anders aus
„Das Ergebnis fühlte sich wie eine Niederlage an und hat uns die gesamte Saison versaut“, sagt Wisznewski. Keine sechs Monate später wurde Trainer Fred Rutten entlassen. Hätte man das auch getan, wenn Kuranyi getroffen und Schalke in Dortmund 4:0 gewonnen hätte? Und wie wäre wohl die Geschichte des BVB weitergegangen, wenn Jürgen Klopp diese Partie – sein erstes Derby als Dortmunder Trainer! – mit 0:4 verloren hätte? Vielleicht sähe die jüngere Geschichte der Bundesliga völlig anders aus. Und das alles nur wegen einer verschwundenen Kastanie.
Ja, manchmal sind es die ganz kleinen Dinge, die den Unterschied ausmachen können. Niemand weiß das besser als Chris Hastings aus dem englischen Ort Clevedon, etwa 20 Kilometer westlich von Bristol. Hastings gehört zu jenen Fans, die nicht nur ein einziges Ritual haben, sondern die auf Nummer sicher gehen und mehrere davon kombinieren. Wenn er mit seiner Ehefrau Rowena zu einem Auswärtsspiel der Bristol Rovers fährt, kauft er sich eine Stadionzeitung, schlägt sie aber niemals vor der Halbzeitpause auf. Auch für Rowena ist die Pause wichtig. Sie hat nämlich eine Tasche dabei, in der sich ein Teddybär namens Jason befindet. Die Tasche muss das ganze Spiel über unter Rowenas Sitz stehen und bleibt während der ersten Hälfte geschlossen. Nach der Pause hingegen darf, oder besser: muss, Jasons Kopf herausschauen. Gelingt es den Eheleuten dann noch, ein Foto von Rowena zusammen mit dem Maskottchen der Heimelf zu machen, ist wenigstens ein Unentschieden schon mal gesichert, denn dann haben die Rovers noch nie verloren.