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Steffen Kirchner, wie groß ist der Faktor Heim­vor­teil für Bra­si­lien im Halb­fi­nale?
Ziem­lich groß. Es gibt eine kine­sio­lo­gi­sche Übung, die ich mit Mann­schaften manchmal mache: den Arm­test. Einer streckt den Arm aus, ein anderer ver­sucht ihn her­un­ter­zu­drü­cken. Wenn man auf etwas Nega­tives blickt oder an etwas Nega­tives denkt, dann hat man über­haupt keine Chance, den Arm oben zu halten. Wenn man auf etwas Posi­tives schaut oder posi­tive Gedanken hat, dann ist dieser Arm extrem stark. Der Test funk­tio­niert sogar indi­rekt, wenn Men­schen im direkten Umfeld auf Anwei­sung positiv oder negativ über diese Person denken.

Warum ist das so?
Das ist wis­sen­schaft­lich hun­dert­pro­zentig nach­weisbar und erklärbar. Es gibt wohl irgendwie die Mög­lich­keit, Umfeld­ein­flüsse unter­be­wusst wahr­zu­nehmen. So ent­steht unter anderem der Heim­vor­teil. Wenn in einem Sta­dion 50 000 Leute für mich sind, spüre ich diese Energie.

Tränen und Gebete – wäh­rend der Bra­si­li­en­spiele herr­schen fast schon reli­giöse Zustände. Sind diese über­bor­denden Emo­tionen Stärke oder Schwäche Bra­si­liens?
Die Bra­si­lianer leben stark von ihrem Stolz und ihren Emo­tionen. Aber wie sie die ganze Sache diesmal spi­ri­tuell auf­laden, das hat tat­säch­lich mit reinen Emo­tionen nur noch wenig zu tun. Ihr Glaube ist so eine tiefe Kraft­quelle für die Bra­si­lianer, das trägt und stärkt sie. Über den Geist holen sie die letzten Pro­zente heraus, auch wenn der Körper gar nicht mehr kann. Das ist der Zustand, den jeder Mara­thon­läufer kennt, der soge­nannte Run­ner’s High, an dem man nur noch übers Men­tale läuft.

Und welche Schwäche könnte das deut­sche Team hier nutzen?
Wo der Glaube ist, ist auch schnell der Aber­glaube. Wenn es mal nicht so gut läuft, glauben die Bra­si­lianer wie andere süd­ame­ri­ka­ni­sche Mann­schaften schnell an eine Ver­schwö­rung. Die Götter sind gegen uns, der Schieds­richter, die Fifa. Irgend­wann ver­lieren sie den Spaß, da sind sie bestimmt insta­biler als die deut­sche Mann­schaft. Genau so kann man die Bra­si­lianer auch ärgern: über harte Arbeit und kom­plette Kom­pro­miss­lo­sig­keit.

Den Emo­tionen der Bra­si­lianer sollte das deut­sche Team emo­ti­onslos begegnen?
Lei­den­schaft muss schon da sein. Aber ich würde nicht mit den Bra­si­lia­nern das Spiel der Emo­tionen spielen, das können sie besser. Die Deut­schen haben andere Stärken, sie sind härter, stärker, breiter auf­ge­stellt und haben eine andere indi­vi­du­elle Qua­lität.

Wie sähe Ihr men­taler Match­plan im Hexen­kessel von Belo Hori­zonte aus?
Die Deut­schen dürfen sich nicht beein­dru­cken lassen, keine emo­tio­nalen Dis­kus­sionen anfangen und müssen Pro­vo­ka­tionen igno­rieren. Sie dürfen auch nicht zu schnell die Ent­schei­dung suchen, der Druck wird für die Bra­si­lianer mit jeder Minute expo­nen­tiell größer. Im End­ef­fekt muss das deut­sche Team quasi maschi­nell, dis­zi­pli­niert und tak­tisch klug spielen. Cool bleiben, zuschlagen – und weg.

Welche deut­schen Spieler sind Ihrer Mei­nung nach dafür beson­ders geeignet und welche nicht? Jerome Boateng gilt als men­taler Wackel­kan­didat.
Ja, das ist so. Er ist zwar mitt­ler­weile sehr erfahren, aber man muss ihm ein paar Sätze mit auf den Weg geben. Er muss sich kon­kret als Ziel vor­nehmen, cool zu bleiben. Über Mesut Özil würde ich jetzt ernst­haft nach­denken. Er ist emo­tional ange­schlagen und der größte Wackel­kan­didat. Rein sport­psy­cho­lo­gisch ist so jemand in so einem Spiel nicht die erste Wahl. Aber Schwein­steiger, Lahm, Müller, Khe­dira, das sind alles coole Jungs. Das ist unsere Stärke.

Ist diese Cool­ness stärker als Bra­si­liens Glaube?
Ohne Glaube geht nix, aber er allein kann keine Berge ver­setzen. Das ist eine große Moti­va­ti­ons­lüge. Irgend­wann ist der Punkt erreicht, an dem der größte inspi­rierte Geist am Ende ist mit seinen Kräften – und dann punkten harte Fak­toren wie indi­vi­du­elle Fähig­keiten und Geschlos­sen­heit. Der Glaube allein reicht nicht, auch nicht bei den Bra­si­lia­nern.

Ist es psy­cho­lo­gisch ein Vor­teil für Löws Elf, dass in Neymar und Thiago Silva Bra­si­liens wich­tigste Spieler fehlen?
Das Spie­le­risch-Tak­ti­sche müssen andere beur­teilen. Aber emo­tional und mental ist der Aus­fall von Neymar ein ganz klarer Nach­teil für Deutsch­land. Weil die Soli­da­rität der Fans und der Nation mit der Mann­schaft noch einmal deut­lich gestärkt worden ist. Dazu kommt die Art und Weise seines Aus­falls, die als große Unge­rech­tig­keit emp­funden wird. Man wird ihn rächen wollen.

Die Deut­schen haben den Aus­fall von Neymar öffent­lich bedauert und die Bra­si­lianer vor dem Spiel auch sonst verbal umschmei­chelt. Ist das Taktik?
Natür­lich, das ist absolut clever. Das ist kal­ku­lierter Respekt, ein Teil der Wett­kampf­stra­tegie. Wie gesagt, das hat fast reli­giöse Dimen­sionen, und wir wissen, was pas­siert, wenn man Gläu­bige angreift. Da schaffe ich nur noch mehr Stärke und Wider­stand beim Gegner. Die bes­sere Stra­tegie ist, ihn quasi zu Tode zu loben. So bestä­tigt man ihn zwar verbal, ent­nervt ihn aber mit der eigenen Härte und Cool­ness. Loben Sie Ihren Gegner beim Tennis mal, wenn er einen Schlag nicht trifft: War aber eine gute Idee.“ Das macht einen irgend­wann wahn­sinnig.