Jamie Vardy ist derzeit erfolgreichster Knipser der Premier League. Wo kommt dieser pfeilschnelle Kerl mit dem windschnittigen Kinn auf einmal her?
Eine knappe Stunde ist gespielt im King Power Stadium von Leicester City. Jamie Vardy stößt pfeilschnell in die Spitze vor, lupft den Ball am gegnerischen Keeper vorbei und bringt den Ball im Netz unter. Der Neuner dreht mit hochrotem Kopf ab und zählt mithilfe seiner Finger demonstrativ nach. Zehn Buden in zehn Spielen. In Fingern: Zehn. Bei seinem Jubelschrei hat er etwas Greifvogelartiges an sich und erinnert mit seinem ausladenden Kinn ein wenig an Ebenezer Scrooge aus Dickens Weihnachtsgeschichte.
Obwohl er Brite ist, lässt er damit sogar Stürmerstars wie Sergio Agüero oder Alexis Sánchez mit ihren schnöden sechs Treffern blass aussehen. Der Name Jamie Vardy taucht plötzlich überall auf. Nicht nur an der Spitze der englischen Torjägerliste, sondern nach seinem letzten Tor gegen Manchester United auch vor Ruud van Nistelrooy, der mit zehn Toren in zehn aufeinanderfolgenden Spielen nun die längste Zeit alleiniger Rekordhalter in dieser Kategorie gewesen ist. Gegen Van Nistelrooys Ex-Klub traf Vardy bereits zum elften Mal in Folge. Sogar auf dem Weihnachts-Wunschzettel von Real Madrid soll der Name Jamie Vardy deshalb schon aufgetaucht sein.
Vardy ist mit 28 Jahren allerdings alles andere als ein verheißungsvolles Wunderkind. Es sei an dieser Stelle also die Frage erlaubt: Wo waren Sie all die Jahre, Mr. Vardy? Und wer sind Sie überhaupt?
Vom Bordstein zur Skyline
Es ist das klassische „From-rags-to-riches-Narrativ“, das Zuschauer auf der ganzen Welt, ob nun im Fußball oder im Kino, so gern nachfühlen. Als Arbeiterkind wächst Vardy in Hillsborough auf, spielt für Sheffield Wednesday und träumt von einer Profikarriere. Mit 15 wird er aufgrund seiner geringen Körpergröße aus dem Team geworfen und hört, am Boden zerstört, mit dem Fußball auf. Vardy beginnt alternative Karrierepläne zu schmieden und arbeitet in einer Kohlefaserfabrik.
Der Frust sitzt tief. Bei einem Clubbesuch gerät er in eine Schlägerei und handelt sich eine Anzeige wegen Körperverletzung ein. Später erklärt er, dass einer seiner Freunde wegen eines Hörgeräts beleidigt wurde und er ihn bloß habe verteidigen wollen.
Fußgefesselt aber dennoch entfesselt
Lange hält er es aber nicht ohne Fußball aus. Bei den Stocksbridge Park Steelers wagt er einen zweiten Anlauf. Selbst eine elektronische Fußfessel, die er sechs Monate lang tragen muss, hindert ihn nicht daran, wie entfesselt aufzuspielen. „Ich musste zwar manchmal direkt nach Abpfiff über den Zaun klettern, um vor meiner Ausgangssperre wieder zu Hause zu sein, aber ich habe dennoch weitergespielt. Bei Auswärtsspielen konnte ich deshalb meistens nur für eine Stunde dabei sein“, erinnert sich Vardy.
66 Tore in 107 Spielen gelingen ihm für den Achtligisten und treiben den pfeilschnellen Stürmer in die Arme von Halifax Town. Dort braucht er nur eine Saison, um Andy Pilley, Eigentümer des Fünftligisten Fleetwood Town, ein Sümmchen von umgerechnet etwa 200.000 Euro wert zu sein. Ein Betrag, den Reinigungskräfte bei den großen Premier-League-Klubs abends im Kehrblech haben, der auf Amateurniveau aber einen Rekord darstellt.