Der Wissenschaftler Geir Jordet hat sein Berufsleben genau einer Sache gewidmet: dem Elfmeterschießen. Seine Erkenntnisse sind erstaunlich. Der Norweger über Fehlschüsse von Superstars, die panische Angst der Engländer und die Körpersprache von Alvaro Morata.
Geir Jordet, wissen Sie noch, was Sie am 03. Juli 2018 gemacht haben?
Ähm… nein?
Am 03. Juli spielte England bei der WM gegen Kolumbien. Und gewann im Elfmeterschießen.
Daran erinnere ich mich natürlich.
Dachten Sie damals: „Mist, die versauen mir meine kompletten Forschungsergebnisse?“ Immerhin hatten Sie vorher herausgefunden, dass die Engländer offenbar psychische Probleme mit dem Elfmeterschießen hatten, dass sich ihre Schwäche vom Punkt sogar von Generation zu Generation weitervererbt hatte.
Das dachte ich nicht, im Gegenteil. Aber dazu muss ich ein bisschen ausholen. Denn England ist in der Tat ein extrem interessanter Fall, ich habe sogar mal einen kompletten wissenschaftlichen Artikel darüber geschrieben, dass die Spieler im Elfmeterschießen immer wieder versagt hatten. 2018 sagte Nationaltrainer Gareth Southgate allerdings: genug ist genug. Er wollte dieses Problem nicht verschweigen, sondern endlich angehen. Er beauftragte ein vierköpfiges Team, dieses wälzte sich durch alles, was es an Forschung zu dem Thema gab. Und so kamen sie unter anderem auch auf mich. Sie fragten mich, was ich als Sportpsychologe über das Elfmeterschießen wisse, was ich über bestimmte Aspekte und Übungen denken würde. Und mit den gesammelten Informationen bereitete sich die englische Mannschaft akribischer als jedes andere Team auf ein mögliches Elfmeterschießen vor.
Was war bis 2018 denn das Problem der englischen Mannschaften?
Es gibt beim Elfmeterschießen eine einfache Regel, die keinen Fußballfan der Welt überraschen dürfte: Je höher der Druck, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ein Spieler verschießt. Bei den Engländern hat sich dieser Druck irgendwann verselbstständigt, die Schwäche vom Punkt wurde gewissermaßen – darauf kann ich nachher gerne noch eingehen – an spätere Generationen weitergegeben. Zu beobachten waren bei den Engländern bis 2018 vor allem zwei Probleme: Sie waren extrem schnell und hatten eine auffallend schlechte Körpersprache. Ihre Körper schrieen förmlich: „Hauptsache, das alles geht schnell vorbei, Hauptsache, wir bringen es hinter uns!“
Extrem schnell? Wie meinen Sie das?
Die englischen Spieler waren über Generationen hinweg die schnellsten Schützen. Niemand sonst legte sich den Ball so schnell auf den Punkt, niemand sonst reagierte so schnell auf den Pfiff des Schiedsrichters. Statistisch gesehen ist es allerdings so: Wer schneller schießt, verschießt öfter. Dazu kam die Sache mit der Körpersprache: Die Engländer trauten sich nicht, dem Torwart ins Gesicht zu schauen. Sie vermieden den direkten Blickkontakt, und das signifikant öfter als Spieler aus anderen Ländern. Ein Zeichen für Angst und Stress.
Ist ein norwegischer Wissenschaftler und Professor, der sich auf die Sportpsychologie spezialisiert hat. Aktuell lehrt er an der „Norwegian School of Sport Science“. Außerdem arbeitet er als Sportpsychologe, auch für aktive Profis. Als das englische Nationalteam sich auf die WM 2018 vorbereitete, wurde er von der FA um Rat gebeten.
Also ließ Gareth Southgate vor der WM 2018 sogar den Gang vom Mittelkreis zum Elfmeterpunkt trainieren. In Deutschland wurde darüber gelächelt.
Aber Southgate lag mit seiner Herangehensweise meiner Meinung nach genau richtig. Bei dem Elfmeterschießen gegen Kolumbien konnte man wunderbar beobachten, wie viel ruhiger seine Spieler waren, wie viel mehr Zeit sie sich ließen, bevor sie nach dem Pfiff des Schiedsrichters anliefen. Sie atmeten nochmal durch, so lange, bis sie sich wirklich bereit fühlten. Sie kontrollierten die Situation, wirkten nicht gehetzt. Und am Ende haben sie gewonnen.
Eben haben sie gesagt: Die Schwäche vom Punkt sei an spätere Generationen weitergegeben worden. Wie war das gemeint?
Die Vergangenheit spielt eine Rolle. Das lässt sich leicht statistisch belegen. Wenn du in einer Mannschaft spielst, die ihr letztes Elfmeterschießen gewonnen hat – egal ob dieses schon zehn Jahre her ist und die Spieler damals völlig andere waren –, dann ist deine Chance, deinen eigenen Elfer zu verwandeln, größer. Wenn du in einem Team spielst, das sein letztes Elfmeterschießen verloren hat, ist wiederum die Chance zu versagen größer. Hat deine Mannschaft die letzten zwei Elfmeterschießen gewonnen oder verloren, verstärkt sich dieser Effekt sogar noch. Insofern kann man schon davon reden, dass sich die Stärke oder Schwäche „vererbt“. Das zeigen zumindest die Daten.
Sie sind Wissenschaftler und Sportpsychologe, seit fast 20 Jahren beschäftigen Sie sich mit dem Thema Elfmeterschießen. Wieso? Haben Sie mal einen entscheidenen Elfer verschossen und wollen endlich wissen, wie das passieren konnte?
Das nicht. Aber ich war früher wirklich Fußballer, mit 18 Jahren habe ich sogar bei einem semi-professionellen Verein einen Vertrag unterschrieben. Allerdings habe ich mich damals im ersten Vorbereitungsspiel schwer verletzt, danach war ich Invalide. Das war natürlich traumatisch – doch ich habe mich von dem Schock erholt und seitdem alles an Energie, was ich für den Fußball in mir trage, in meine wissenschaftliche Forschung gesteckt. Ich bin also nicht durch ein Elfmeterschießen zu meinem heutigen Beruf gekommen, sondern durch eine schwere Verletzung.
„Was der Typ da labert, ist totaler Quatsch!“
Aber wieso genau forschen Sie über das Elfmeterschießen?
Dafür muss ich wiederum etwas weiter ausholen. Ich habe Anfang der 2000er-Jahre meine Doktorarbeit beendet, damals ging es noch nicht um Elfmeter, aber auch schon um die Verbindung zwischen Psychologie und Fußball. Durch meine Arbeit wurden ein paar norwegische Medien auf mich aufmerksam, während der EM 2004 gab ich ab und zu Interviews. Bei dem Turnier selbst kam es zu zwei Elfmeterschießen: Schweden gegen die Niederlande und Portugal gegen England. Nach dem England-Spiel gab ich ein Radiointerview, bei dem Gespräch war auch der Ex-Profi Henning Berg zugeschaltet, eine große Nummer in Norwegen, Berg hat früher unter anderem für Manchester United gespielt. Ich sollte damals meine Meinung zu einem Fehlschuss von David Beckham abgeben – er hatte gleich den ersten Elfer gegen Portugal verschossen. Ich weiß meine genauen Worte nicht mehr, aber sinngemäß erklärte ich das Versagen psychologisch, damit, dass Beckham mit dem Druck nicht klar gekommen sei. Woraufhin Berg nur meinte: „Was der Typ da labert, ist totaler Quatsch! Ich kenne David Beckham persönlich, er ist mental unglaublich stark, ihm würden die Nerven niemals versagen, es lag nicht am Druck!“ Ich verlor die Debatte gegen Berg und dachte mir danach nur: Ich muss mehr über das Elfmeterschießen an sich erfahren, versuchen, es besser zu verstehen. Wenig später durfte ich mit den schwedischen Spielern, die das Elfmeterschießen verloren hatten, sprechen. Wieder ein paar Wochen später zog ich in die Niederlande, wo ich über Kontakte beim niederländischen Verband landete. Und auch mit den niederländischen Spielern über das Elfmeterschießen sprechen konnte.