Am 7. November 1973 traf Dynamo Dresden im Rückspiel der 2. Runde des Europapokals der Landesmeister auf Bayern München. Unser Autor erinnert sich an das Rückspiel im deutsch-deutschen Fußballgipfel.
Als in der Nacht nach dem Hinspiel, im Oktober 1973, die Delegation der „Sportgemeinschaft Dynamo Dresden“ wieder vollzählig in Ostberlin landete, standen die Wetten für das Rückspiel vielerorts gegen die Bayern. Ganz Fußball-Dresden wusste nach der knappen 3:4‑Niederlage: „Zu Hause reicht uns schon ein 1:0. Dann sind wir weiter.“ Damals war die Frage in Dresden also nicht: „Wer gewinnt das Traumduell?“, sondern „Wie kann ich dabei sein?“ – als einer von 35.000 glücklichen Augenzeugen im Rudolf-Harbig-Stadion. 100.000 Karten hätte man verkaufen können, so viele träumten damals in Dresden und Umgebung davon, bei dem Sieg des Besten aus dem Osten über den Besten aus dem Westen dabei zu sein.
Der größte Teil der Eintrittskarten wurde in Dresden über die Betriebe verteilt, und einer der Ersten, der eine Karte ergattern konnte, war Karsten O., ein Bohrer im VEB Kupplungs– und Triebwerksausbau. Doch die Freude ward nicht lang.
„Müller, nimm mich mit in den Westen!“
Einer der vielen Inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit meldete bald: ‚Danach äußerte er, dass er am 07.11.1973 dem BRD Spieler Müller zurufen will: „Müller, nimm mich mit in den Westen!“ Zu diesem Zweck will er seine Karte mit seinem Freund tauschen, der einen Sitzplatz auf der 3. Reihe hat, um nahe am Spielfeldrand zu sein.’ Karsten O. wurde nicht nur die Karte entzogen. ‚Zusätzlich wurden durch die Volkspolizei Maßnahmen eingeleitet, ihn am Spieltag vom Spiel fernzuhalten.’ Welche Maßnahmen das sein konnten, steht im Bericht über Peter H., ein gerade erst ‚Amnestierter’, über den gemeldet wurde, dass er ‚bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Dresden Abt.21 vorgesprochen hat. Er teilte mit, dass er im Besitz einer Eintrittskarte für das Fußballspiel sei und fragte, ob es für ihn strafbar sei, wenn er die Fahne der BRD schwenken würde. Er stehe fest hinter der Mannschaft von Bayern München. Die weitere Bearbeitung erfolgte durch die Kreisdienststelle des MfS Dresden – Stadt.’ Ein Mitarbeiter der Stasi schlug vor, ‚Peter H. am Nachmittag des 7.11. in die Untersuchungsabteilung der BV Dresden zu bestellen, zwecks Aushändigung restlicher Sachen.’
Negative Ereignisse im Zusammenhang mit der Begegnung Dynamo Dresden gegen Bayern München sollten im eigenen Land mit aller Macht verhindert werden. Ganz wie es Erich Mielke in der spielbegleitenden „Aktion Vorstoß“ gefordert hatte. Ein Befehl, dem seine Mitarbeiter in Dresden schon seit dem Hinspiel eifrig nachgekommen waren: ‚Während der Fernsehübertragung des Fußballspiels aus München bei einem Gemeinschaftsempfang von 60 Lehrlingen und einiger Erzieher im Lehrlingswohnheim der Berufsschule Lockwitz, brachten 6 Lehrlinge offen ihre Sympathie für die BRD-Mannschaft zum Ausdruck. Trotzdem bekamen 3 von ihnen durch den Betrieb Karten für das Rückspiel am 07.11.1973. In Gesprächen unter Mitwirkung des MfS zeigte sich danach, dass es sich bei der Begeisterung der Personen um keine spontane Reaktion handelte, sondern sich bei diesen Jugendlichen bereits seit längerem eine zustimmende Haltung zum kapitalistischen Profifußball herausgebildet hat.’
Es blieben noch 11 Tage bis zum Spiel, als am Morgen des 27. Oktobers der öffentliche Vorverkauf der 8000 Restkarten für den „deutsch-deutschen Fußballgipfel“ in Dresden begann. Am Abend davor sah es in der Stadt so aus: ‚Bereits in den frühen Abendstunden des 26.10.1973 begannen sich an den 5 Vorverkaufsstellen Menschen anzusammeln, die auf die Öffnung warteten. Dieser Personenkreis, der in den Abend und Nachtstunden anwuchs, erreichte gegen 24 Uhr den Umfang von 1000 Personen, bei Dresden Information Prager Straße, 600 bei HO-Sportartikel Pirnascher Platz, je 300 bei Modehelfer Schäferstraße und Haushaltwaren Bodenbacher Straße. Die vorwiegend jugendlichen Personen richteten sich auf eine Übernachtung ein und nahmen zum Teil reichlich Alkohol zu sich. Durch die Verwendung von verschiedensten Sitz- und Liegemöglichkeiten entstand ein unwürdiges Bild. In den frühen Morgenstunden wuchs die Zahl der Wartenden so an, dass nur durch den Einsatz zusätzlicher Sicherungskräfte die Aufrechterhaltung der Disziplin möglich war. Gegen 02.00 Uhr wurden Sportfunktionäre und Angehörige der Sicherungskräfte eingesetzt, um durch Agitation ein weiteres Anwachsen dieser Personen zu verhindern, was sich in der Folgezeit bewährte. Gegen 10 Uhr war der Vorverkauf beendet.’ Für einen Sitzplatz auf der Ost-Tribüne, der teuersten Preiskategorie, bezahlte man damals 8,10 Mark. Auf dem Schwarzmarkt waren diese Karten bald 250 Mark wert, doch die Möglichkeit, Beckenbauer, Hoeneß und Müller einmal mit eigenen Augen zu sehen, war unverkäuflich.
Die Mannschaft des FC Bayern München sollte am 5. November in Dresden ankommen. Für die Stasi begann mit diesem Tag die heißeste Phase der „Aktion Vorstoß“. Alle Kontaktaufnahmen der Bevölkerung mit der Mannschaft sollten unbedingt verhindert werden. Doch schon bevor die Gäste aus Westdeutschland in ihrem Hotel in Dresden angekommen waren, lag Post für sie bereit: ‚Im Interhotel „Newa“ gingen bisher 5 Briefsendungen ein, welche an die Mannschaft von Bayern München adressiert sind, und in dem Einzelpersonen Autogrammwünsche zum Ausdruck bringen.’
Am Abend des 5. Novembers warteten ca. 1000 Personen auf die Ankunft der Mannschaft, doch umsonst, denn es gab Informationen, wonach der FC Bayern im Hotel „Strauß“ in Hof übernachten sollte, und die Anreise erst einen Tag später erfolgen würde. Dafür erschien vor dem Hotel der weltbekannte Helmut Schön, Nationaltrainer der Westdeutschen. Der gebürtige Dresdner nutzte zusammen mit seiner Frau das Spiel für einem Besuch in seiner alten Heimat.
Beckenbauer und Co ließen die Fans weiter auf sich warten. Am 6. November wurde Dynamo Dresden seitens des FC Bayern mitgeteilt, dass die Anreise erst am Spieltag stattfinden würde, obwohl der Gegner laut UEFA-Reglement einen Tag vor dem Spiel anreisen muss. Die Bayern befürchteten Akklimatisationsschwierigkeiten – durch den Höhenunterschied zwischen München und Dresden. Dynamo Dresden verbreitete angesichts dieser 106 Meter etwas süffisant: „Wir akzeptieren den Münchner Beschluss, auch wenn wir davon überrascht wurden. Unsere Sportmediziner haben längst in Erfahrung gebracht, dass bis zu 1200 Metern keinerlei Akklimatisationsprobleme auftauchen.“ Der wahre Grund der kurzfristigen Ankunft war die Angst vor einer Vergiftung: Bei einem UEFA-Jugendturnier in Leipzig ist Uli Hoeneß und Paul Breitner vor einem Spiel einst ganz schlecht geworden.
Am 6. November trafen die Schlachtenbummler der Bayern ein – 159 Mark bezahlten sie für Übernachtung und Stehplatzkarte. Ein Reporter der Münchner „Abendzeitung“ notierte nach der Ankunft der Westdeutschen in Ostdeutschland: „Die 1567 Männer und Frauen, die mit einem Sonderzug und 23 Bussen anreisten, feierten bereits auf dem Bahnsteig 5 und in der Halle des Dresdner Hauptbahnhofes bewegtes Wiedersehen mit Geschwistern und Freunden, die sie teils jahrelang nicht mehr gesehen haben.“ Am folgenden Tag traf um 14.35 Uhr endlich auch die Mannschaft der Bayern ein. Getrennt von 1000 Polizisten bekamen nur die wenigsten Fans ein Autogramm.