Die WM in Katar boykottieren oder nicht? In Norwegen stimmt der Verband am Sonntag über diese Frage ab. So ist die Lage im Land vor der Entscheidung.
Norwegen ist eine kleine Fußballnation mit wenigen Erfolgen. Das letzte große Turnier, für das sich die Skandinavier qualifizierten, war die EM 2000. Eine schreckliche Bilanz. Selbst mit Spielern wie Erling Haaland und Martin Ødegaard im Kader wäre eine erfolgreiche Qualifikation für die WM in Katar im Winter 2022 also alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Mit zwei Siegen aus den ersten drei Spielen ist die Mannschaft gut in die Qualifikation gestartet, aktuell liegt die Elf von Ståle Solbakken auf Rang vier, hinter der Türkei, der Niederlande und Montenegro. Es gibt also realistische Chancen auf die erste Turnierteilnahme seit über 20 Jahren. Dennoch kämpfen viele Fans in Norwegen für einen Boykott der WM im Golfstaat. Warum?
„Die Gegner eines Boykotts behaupten, es sei wichtig, dass der Fußball in Katar präsent ist, um die Lage dort zu verbessern. Aber nichts deutet darauf hin, dass die Anwesenheit des Fußballs die Verhältnisse dort verbessert hat“, sagt Ole Kristian Sandvik, Sprecher der Norwegischen Supporterallianz (NSA). Die Organisation vertritt Interessen der Fans im Land und setzt sich für einen Boykott der WM 2022 ein. Sandvik ist der Auffassung, ein norwegischer Boykott könne auch international etwas bewirken: „Im März haben wir gesehen, dass die deutsche, niederländische und dänische Nationalmannschaften der norwegischen Aktion für Menschenrechte in Katar gefolgt sind.“ Mit verschiedenen Bannern und T‑Shirts setzten Spieler der genannten Aktion sich damals für Menschenrechte ein. Sandvik findet: Kein Land sei zu klein, um das Richtige zu tun.
Doch was ist das Richtige? Der norwegische Fußballverband (NFF) ist hinsichtlich eines Boykotts jedenfalls anderer Meinung. „Unsere Haltung beruht auf dem Bericht des Sonderausschusses für Katar. Dort heißt es, ein Boykott sei nicht die richtige Maßnahme, weder um die Menschenrechte noch die Arbeitsbedingungen in Katar zu verbessern“, so Verbandspräsident Terje Svendsen. Der NFF setze zusammen mit den anderen nordischen Fußballverbänden auf Kooperation mit Menschenrechts- und Arbeitnehmerorganisationen vor Ort.
Den angesprochenen Bericht zur Boykottfrage und zur Lage im Wüstenstaat veröffentlichte ein vom Fußballverband nominierter Sonderausschuss im Mai. Eine Mehrheit von zwölf Mitgliedern des Ausschusses kam zum Ergebnis, ein Boykott sei nicht „das wirksamste Mittel, um die Menschenrechte und die Arbeitsbedingungen in Katar zu verbessern.“ Zwei Mitglieder stimmten für einen Boykott. Es sei nicht zu erwarten, dass Katar „in der Lage sei noch Interesse daran habe, die nötigen Änderungen durchzuführen.“
Wegen der Coronapandemie findet die Generalversammlung des norwegischen Verbandes, auf der über die Boykottfrage abgestimmt werden soll, in diesem Jahr digital statt. Dort hat neben den acht Vorstandsmitgliedern des Verbandes und den 18 Kreisverbänden des Landes jeder der rund 1750 Vereine ein Stimmrecht. Die Stimmen der Vereine aus den drei oberen Ligen des Herrenfußballs und aus den zwei oberen Ligen des Frauenfußballs zählen dabei doppelt, die restlichen einfach.
Allerdings haben sich nur 420 Vereine für die Versammlung angemeldet. Wie sie abstimmen werden, ist noch völlig offen. Der norwegische Sender TV2 hat insgesamt 80 Vereine aus den drei höchsten Männer-Ligen und den zwei oberen Frauen-Ligen befragt. 39 von ihnen gaben an, dass sie gegen einen Boykott stimmen würden, zwölf sprachen sich für einen Boykott aus und 13 teilten mit, dass sie noch unentschlossen seien. 16 ließen die Frage unbeantwortet. Zumindest unter den großen Vereinen scheint sich also die Mehrheit gegen einen Boykott auszusprechen. In der Bevölkerung sieht das anders aus: In einer Befragung durchgeführt von Respons Analyse für die Zeitung VG sprachen sich 49 Prozent der Befragten für einen Boykott der WM in Katar aus. 29 Prozent waren dagegen, 22 Prozent hatten sich noch nicht entschieden.
Im März hatte der Guardian von 6.500 Gastarbeitern berichtet, die auf den Baustellen für die WM in Katar ums Leben gekommen seien. NFF-Präsident Svendsen zeigt sich dennoch zuversichtlich: „Der Bericht des Ausschusses, aber auch Amnesty International bestätigen, dass in Katar positive Entwicklungen stattgefunden haben.“ Der 65-Jährige gibt aber zu, dass es noch an der Implementierung der beschlossenen Gesetze für bessere Arbeitsbedingungen fehle. NSA-Sprecher Sandvik winkt hingegen ab: „Die Veränderungen existieren nur auf dem Papier. In der Realität ist die Lage für die Gastarbeiter immer noch sehr schlecht.“ Er gibt zu bedenken: Ein Boykott wäre nicht nötig gewesen, wenn die Linie des Dialogs tatsächlich funktioniert hätte.
Für die NSA geht es mit ihrer Kritik aber nicht nur um die Lage in Katar, sondern auch um die Zukunft des Fußballs. Ole Kristian Sandvik erklärt: „Wir müssen die FIFA verändern. Sie ist heute eine durch und durch korrupte Organisation, in der Diktaturen mehr Einfluss haben als liberale Demokratien.“ Auch hier ist Verbandspräsident Svendsen anderer Meinung. Er sagt: „Seit 2015 hat die FIFA ihre Bedingungen für eine Zuteilung der WM verschärft. Jetzt werden zum Beispiel Menschenrechte und Arbeitsbedingungen berücksichtigt.“
„Man kann keinen Preis auf ein Menschenleben setzen“
Sollten die Delegierten am Sonntag tatsächlich für einen Boykott stimmen, müssen die Skandinavier wohl mit finanziellen Konsequenzen rechnen. Der NFF warnte bereits vor Verlusten in Höhe von 205 Millionen Kronen (etwa 20 Millionen Euro). NSA-Sprecher Ole Kristian Sandvik macht sich diesbezüglich keine große Sorgen: „Man kann keinen Preis auf ein Menschenleben setzen. Wir können nicht zuerst sagen, dass wir die WM boykottieren werden und dann zurückrudern wenn es heißt, dass wir deshalb 200 Milionen Kronen verlieren würden. So funktioniert das nicht.“
Zumal unklar ist, ob ein Boykott Norwegen tatsächlich 20 Millionen Euro kosten würde. Verbandspräsident Terje Svendsen sagt: „Die FIFA hat uns deutlich gesagt, dass sie einen Boykott als einen Rücktritt vom Wettbewerb verstehen würden. Das würde erhebliche sportliche und wirtschaftliche Konsequenzen für den norwegischen Fußball haben.“ Sandvik wiegelt auch hier ab: „Die Voraussetzung für dieses Argument ist, dass wir auch von der Qualifikation zurücktreten. Das fordern wir nicht.“ Aussage gegen Aussage. Auffassung gegen Auffassung. Es ist dieser Duktus der die Boykott-Debatte prägt. Wer damit die meisten Leute überzeugen konnte, wird sich am Sonntag zeigen. Dann könnte Norwegen das erste Land der Welt werden, das für einen Boykott der WM in Katar abstimmt.