England hatte immer ein zutiefst gespaltenes Verhältnis zu Wayne Rooney. Das liegt an dem, was er ist, und an dem, was er nicht ist. Vor allem aber liegt es an allem, was er hätte sein sollen. Nun hat er seine Spielerkarriere beendet.
Dieser Text erschien erstmals im November 2017. In der Titelgeschichte von 11FREUNDE #192 gingen wir dem schwierigen Verhältnis von England zu Wayne Rooney nach. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich. Am Freitag gab Rooney das offizielle Ende seiner Spielerkarriere bekannt. Er übernimmt den Cheftrainer-Posten bei Derby County, wo er zuvor schon als Spielertrainer gewirkt hatte.
Wenn eines fernen Tages Historiker nach genau dem Moment suchen, in dem der englische Fußball vom Weg abkam, dann sollten sie nach Baden-Baden reisen. Denn an diesem Ort ging die letzte wirklich talentierte Generation der „Three Lions“ aus dem Leim.
Sven-Göran Erikssons Zeit als englischer Nationaltrainer fand bei der WM 2006 ihr Ende. Aber erst nachdem sein Wanderzirkus, verfolgt von einem Schwarm von Fotografen, drei Wochen lang durch die Weinbars und Boutiquen des berühmten Kurortes gezogen war und zum Sinnbild wurde für eine Fußballkultur der Promi-Exzesse, etwa der offenbar unstillbaren Sehnsucht, die am teuersten verzierte Handtasche aus Chinchillafell zu finden, die der Menschheit bekannt ist. Eriksson betrachtete das alles mit müder Resignation. Er befand sich bereits auf Abschiedstour, nachdem er in eine Falle der Boulevardzeitung „News of the World“ getappt war, die eine Superyacht mietete und den schwedischen Trainer von einem Schauspieler, der sich als milliardenschwerer arabischer Scheich ausgab, mit Champagner für 600 Euro die Flasche abfüllen ließ.
„Lasst Wayne Rooney leben!“
Doch bevor Eriksson endgültig abtrat, sagte er noch etwas Interessantes. Nach der verheerenden Niederlage im Viertelfinale gegen Portugal warnte er das englische Volk: „Lasst Wayne Rooney leben!“ Der Spieler war gerade vom Platz gestellt worden, weil er Ricardo Carvalhos Hoden mit seinem Schuh bearbeitet hatte, wobei in Anbetracht von Rooneys Form das Überraschende daran war, dass er nicht danebentrat. „Lasst Wayne Rooney leben!“, sagte Eriksson also. „Denn ihr braucht ihn.“
Er hatte Recht. Es sollte sich zeigen, dass England Wayne Rooney brauchte. Nur vielleicht anders als gedacht. Als abschreckendes Beispiel.
Mehr als 15 Jahre sind seit seinem großen Erweckungsmoment vergangen, dem spektakulären ersten Tor in der Premier League gegen Arsenal, das im Oktober 2002 der Welt die Ankunft eines großen Talents verkündete. Hier kommt er, der blasse, sommersprossige Junge mit den Segelohren! Der Held, der aussieht, als hätte er sich vom Parkplatz draußen ins Stadion geschlichen und wäre, den Ordnern ausweichend, über die Werbebande gehüpft, um den nächsten herrenlosen Ball in den Winkel zu hämmern.
Es ist schwierig, einem Außenstehenden zu erklären, wie anstrengend und zermürbend das Verhältnis der englischen Fans zu Rooney seither ist. Es ähnelt einer seltsam giftigen, seltsam leeren Obsession. Rooney hat große Leistungen gezeigt, er brach Torrekorde und stand mit Manchester United dreimal im Finale der Champions League. Zugleich war er der Gegenstand eines fast überwältigenden gemeinschaftlichen Verlusts aller Maßstäbe. Er wurde erst in den Himmel gelobt und dann verhöhnt als Symbol der fußballerischen Bankrotterklärung Englands. Am Ende war er doch nicht der Retter, nach dem sich der englische Fußball sehnte, und auch nicht der Held aus der Arbeiterklasse, von dem man dachte, dass man ihn sucht.
Wayne-Rooney-Reisegepäck und Wayne-Rooney-Maus-pads
Eines aber war er unzweifelhaft: eine kulturelle und kommerzielle Urgewalt. Rooney mag bei einem großen Turnier nie weiter als bis ins Viertelfinale gekommen sein, nie eine Rolle bei der Wahl zum Weltfußballer gespielt haben und außerhalb Englands nie für Furore gesorgt haben. Aber er war ein wirtschaftlicher Erfolg.
Er ist der viertreichste Fußballer der Welt. Aktuell kann man eine Kollektion Wayne-Rooney-Geschirr kaufen, ebenso Wayne-Rooney-Wohntextilien, Wayne-Rooney-Mode, Wayne-Rooney-Kunstobjekte, Wayne-Rooney-Reisegepäck, Wayne-Rooney-Schreibwaren und ‑Geburtstagskarten, Wayne-Rooney-Maus-pads und mindestens vier verschiedene Wayne-Rooney-Masken. Es sind 36 englischsprachige Bücher im Handel, die sich den vielen Gesichtern des Wayne Rooney widmen, dazu gibt es noch eine Reihe Werke, die aus der Feder seiner Frau Coleen stammen, sowie eines von einer Prostituierten, mit der er mal Sex hatte. Rooney hat 16,4 Millionen Follower auf Twitter – mehr als die Vereinten Nationen und die englische Premierministerin zusammen. Nicht schlecht für einen Fußballer, der noch immer keine einzige öffentliche Aussage getätigt hat, die einer Erwähnung wert gewesen wäre.
Denn selbst wer all die 36 Bücher gelesen hat, weiß nicht viel über Rooney. Löffelweise werden einem Nichtigkeiten eingetrichtert, denn ein wichtiger Aspekt des Mannes, der sich willentlich zur Ware machen ließ, ist seine fast totale persönliche Omertà, sein Schweigegelübde. Es fällt sogar schwer, aus dem Stand zu sagen, wie seine Stimme klingt. (Fürs Protokoll: dünn, flach, nasal, mit Liverpool-Akzent.) Zuerst sagte er aus Furcht und Schüchternheit so gut wie nichts, später unter dem Einfluss diverser Berater, die seine deprimierend fade und charakterfreie öffentliche Darstellung kontrollierten.
Aber so läuft das Spiel in England. Für einen Artikel wie diesen hätte ich zum Beispiel mit Rooney selbst sprechen sollen. In der Theorie klingt das gut. In der Praxis hätte es ein monatelanges Manövrieren durch den kommerziellen Kokon bedeutet, der ihn umgibt, und an dessen Ende wäre ich wahrscheinlich trotzdem gescheitert. Doch selbst wenn ich wie durch ein Wunder einen günstigen Zeitpunkt erwischt hätte oder durch pure Hartnäckigkeit und die Zusage diverser Gefallen an mein Ziel gelangt wäre, würde ein Gespräch mit Rooney mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nichts Substantielles hervorbringen. Außer vielleicht einen kurzen Hinweis am Schluss, dass er diese oder jene Schuhmarke trägt und für eine bestimmte Supermarktkette wirbt.
Geschichte der nicht eingehaltenen Versprechen
Obwohl sie in der Öffentlichkeit stehen und enorme finanzielle Forderungen stellen, reden englische Fußballer nicht. Manchmal ist man versucht zu vermuten, dass sie es gar nicht können, so vorsichtig treten sie auf, nachdem man ihnen seit frühester Jugend eingebläut hat, jedes aussagekräftige Statement zu vermeiden. In den 15 Jahren, in denen ich über Fußball schreibe, habe ich Rooney mal in einer Gruppe befragt, hielt ein anderes Mal ein Mikro unter seine Nase, während er sprach, und habe zahllose Fernsehinterviews mit ihm gesehen. Doch ich habe keine Ahnung, wie er abseits des Platzes ist. Er ist überall und doch nirgends. Hilflos greift man nach den Büchern und starrt mit leerem Blick ihre Umschläge an, nimmt einen Schluck aus seiner Wayne-Rooney-Kaffeetasse und erneuert das Pay-TV-Abo.
Wie auch immer, in jedem Fall sind wir nun endlich beim Schlusskapitel der Rooney-Saga angekommen. Im Sommer verließ er United und kehrte zu seinem Stammverein Everton zurück, mit bislang erstaunlich vielen Toren aber mit durchwachsenem Ergebnis. Rooney ist 32. Er sieht erheblich älter aus. Aber es wirkten ja auch große Fliehkräfte auf seine Laufbahn ein. An ihrem Ende wird man vielleicht sagen müssen, dass England keinen Sportler hervorgebracht hat, der so polarisierte und zur Weißglut trieb wie Rooney. Denn seine Karriere ist eine Geschichte der nicht eingehaltenen Versprechen.
„Er ist … ein Phänomen!“
„Erst 16, mit brutaler Power und furchteinflößender Geschwindigkeit. Der Junge in Männergestalt hat Nerven aus Stahl und fürchtet niemanden. Er ist Wayne Rooney. Er ist … ein Phänomen!“ Die englische Presse neigt nicht zum Understatement, und so hieß der „Daily Mirror“ Rooney im September 2002 auf typisch überhitzte Weise in der Premier League willkommen. Er war noch immer bloß eine Idee, eine leere Leinwand. Ihn umgab etwas Verlorenes und Unfertiges. So wurde aus ihm der Junge in Männergestalt, der gebrauchsfertig in irgendeinem verlassenen Stadtzentrum aus der Mülltonne gekrochen war.
Dabei war Rooney da schon seit sieben Jahre beim FC Everton. Einige Monate zuvor hatte er für Englands U17 ein Tor von frühreifer Raffinesse gegen Holland geschossen, als er einen Schuss mit links antäuschte, dann einen Haken nach rechts schlug und den Ball im Eck versenkte. Bei United würde er zu einem effektiven und vielseitigen Spieler heranwachsen, doch von Anfang an wurde er zum letzten Straßenfuß-baller hochstilisiert, zum Gossenjunge mit göttlichen Füßen.
Jenes erste Ligator gegen Arsenal gilt als definierender Moment in der Frühphase seiner Karriere, aber der eigentliche Durchbruch war sein erstes Länderspiel von Beginn an, im April 2003 in Sunderland gegen die Türkei. Die Gäste hatten eine gute, erfahrene Mannschaft, die in den ersten zwanzig Minuten zweimal die Führung verpasste. Doch plötzlich schnappte Rooney sich die Bälle und lief dann einfach los. Einmal rollte er wie eine Planierraupe über den kantigen, gefürchteten Verteidiger Alpay hinweg. Etwas später ließ er zwei Gegner stehen und jonglierte dreist den Ball im Mittelkreis. England gewann 2:0.
Sechs Monate später brauchte die Elf beim Rückspiel einen Punkt, um zur EM 2004 zu fahren. Mitte der ersten Hälfte eines überharten Spiels vergab David Beckham einen Elfmeter. Danach provozierte Alpay den englischen Kapitän, er schrie ihm ins Gesicht und steckte ihm sogar einen Finger in die Nase. Deswegen kam es auf dem Weg zur Halbzeitpause zu einem Tumult im Spielertunnel. Beckham und Alpay standen sich drohend gegenüber. Da ging Rooney an seinem Kapitän vorbei und holte Alpay mit einem einzigen Schlag von den Füßen. Er war gerade 18. Die Presse schmolz nur so dahin.
Er wurde einmal zu oft ausgeknockt
Vielleicht hätte man Alpay sagen sollen, dass Rooney in der Arbeitersiedlung Croxteth aufgewachsen war, einem der ärmsten und härtesten Gebiete von Liverpool. Sein Vater, Wayne Senior, war Hilfsarbeiter, seine Mutter Jeanette arbeitete in einer Schulküche. Sein Onkel Richie Rooney leitete die lokale Boxhalle, wo Wayne mit sieben Jahren an Säcken zu trainieren begann, die von Klebeband zusammengehalten wurden. Bei seiner Geburt hatte sein Vater, ebenfalls ein Boxer, die stattliche Größe seines Stammhalters bewundert und gesagt: „Wir habe hier einen Preiskämpfer!“ Doch Rooney Junior ging es wie seinem Dad, er wurde einmal zu oft ausgeknockt.
So wurde es stattdessen Fußball. Rooney spielte erst auf die Garagen in seiner Straße, später folgte die Schulmannschaft, dann die Nachwuchsab-teilung des FC Everton. Die Rooneys waren alle fanatische Everton-Fans, fast hätte Wayne den Namen Adrian bekommen, nach dem Stürmer Adrian Heath, der in den Achtzigern zweimal Meister mit Everton war. (Waynes Bruder heißt Graeme Sharp Rooney, nach dem Sturmpartner von Heath.)
Als er zehn war, schoss Rooney sechs Tore gegen ein Jugendteam von Manchester United, darunter ein Fallrückzieher. „Es war totenstill auf dem Platz“, erinnerte sich sein Trainer Ray Hall. „Dann fing ein Elternteil an zu klatschen und bald applaudierten alle wie verrückt.“ Als er elf war, durfte Rooney die erste Mannschaft zum Derby gegen Liverpool an der Anfield Road auf den Rasen führen. Er machte beim Aufwärmen mit und lupfte den Ball über Evertons Keeper Neville Southall hinweg ins Netz – das hatte er die ganze Woche über geübt. Als er zwölf war, traf er Coleen, die später zu seiner (leidgeprüften) Ehefrau und Mutter seiner drei Kinder werden sollte. Vorher allerdings sorgte er schon für die ersten Skandalschlagzeilen in der Regenbogenpresse.
„Für Charlotte, die ich am 28. Dezember gebumst habe. In Liebe, Wayne Rooney.“
Kurz nach der EM 2004 kam heraus, dass Rooney in den zwielichtigen Ecken seiner Heimatstadt die Dienste von Prostituierten in Anspruch genommen hatte, von denen eine zur ewigen Freude der Boulevardzeitungen 48 Jahre alt war – und Großmutter. Eine andere bat ihn um ein Autogramm und bekam einen Zettel, auf dem stand: „Für Charlotte, die ich am 28. Dezember gebumst habe. In Liebe, Wayne Rooney.“ Was es, abgesehen von allen anderen Dingen, schwierig für ihn machte, die Sache zu dementieren. Wer hätte ahnen können, dass große Jungs – so stark, so mutig, so frühreif – so viel Ärger machen können?
Es ist Rooneys Pech, eine Karriere im Rückwärtsgang gelebt zu haben. Das Beste von ihm war das Erste von ihm. Ein Jahr nach der Türkei-Partie spielte er bei der EM in Lissabon sensationell gegen eine starke französische Elf. Mitte der ersten Hälfte tunnelte er Robert Pires und Claude Makélélé an der englischen Strafraumgrenze und bekam Beifall auf offener Szene. Er ging mit dem Zidane-Trick an dessen Namensgeber vorbei und wurde dafür umgehauen. Nach dem Wechsel startete er ein Solo in der eigenen Hälfte, ließ drei Mann aussteigen und holte einen Elfmeter heraus, den Beckham verschoss. Da war er gerade seit 15 Monaten Profi. In den nächsten beiden Länderspielen traf er viermal, aber England schied im Viertelfinale aus. Dann ging Rooney für 37,5 Millionen Euro zu United, damals Weltrekordablöse für einen Teenager.
Wie sind wir von damals ins Jetzt gekommen? Es ist verblüffend, dass ein Spieler, der einst wie eine Naturgewalt erschien, so jugendlich und dynamisch, seine Karriere dermaßen statisch beenden soll, als Zielscheibe der Frustration einer jüngeren Generation, die nur mit dem langsamen Dahinsiechen seiner späten Jahren vertraut ist.
Im Sommer 2016 verabschiedete sich ein mal wieder auf dem kollektiven Rückzug befindliches England mit einem 1:2 gegen Island in Nizza von der EM. Für Rooney war es der letzte Auftritt bei einem großen Turnier, diesmal in seiner Altersrolle als schwerfälliger Spielmacher im Mittelfeld. Er war schauderhaft. Vor der Pause lief er beim Versuch eines Dribblings einfach mitten in Gylfi Sigurdsson rein, weil seine Füße den Richtungswechsel nicht hinbekamen. Später fingen die Kameras ein, wie er auf den Ball trat und im Mittelkreis umfiel, eine Szene, die im Internet endlos recycelt wurde, eine altbekannte und reflexartige Ausprägung des Rooney rage, des Zornes, der in den letzten sieben Jahren seiner internationalen Karriere so ziemlich jedes seiner Spiele begleitet hat.
In Old Trafford, und auch in Wembley, wurde Rooney immer gefeiert, bis zum Ende. Doch außerhalb dieser Mauern ist die Wucht der allgegenwärtigen Wut, die ihm entgegenschlägt, erstaunlich. Es scheint viel mit dem Gefühl zu tun zu haben, betrogen worden zu sein, als betrachte man einen sterbenden Stern, der sich einfach weigert zu verlöschen.
Vielleicht ist das Problem, dass England während Rooneys Zeit keine anderen Stars produziert hat. Da geht es uns wie Coleen – wir sind bei unserer Jugendliebe hängengeblieben. Insgesamt 95 Spieler haben seit Rooneys erstem Länderspiel ihr Debüt für England gegeben, aber mehr als die Hälfte von ihnen hat es nie auch nur auf zehn Einsätze gebracht. Nicht weniger als 21 haben nur ein Spiel gemacht. In dieser Zeit gelangen Rooney 53 Tore im Nationaltrikot. Er ist alles, was wir haben, ob es uns gefällt oder nicht. Here we are. Stuck in the middle with Wayne.
26 Tüten Kartoffelchips und eine Fertigmahlzeit für die Mikrowelle
Rooney ist auch das Opfer einer strukturellen Spannung, die mit dem englischen Klassendenken zu tun hat. Ein normaler Typ, der gerne was trinkt, ab und zu in Raufereien gerät und ansonsten einfach nur einem Ball nachrennen will? Nein, in England liegen die Dinge nie so einfach.
Rooney ging ohne jeden Abschluss von der Schule ab. Er hat viele Autos und ein protziges Haus. Im März hat er in zwei Stunden beim Roulette und Black Jack 600 000 Euro verloren. Er wird oft als beschränkt dargestellt, obwohl das offenkundig nicht der Fall ist und bei einem so erfolgreichen Sportler auch gar nicht sein könnte. Seine Frau wird ständig für die Wahl ihrer Kleider oder Accessoires verspottet. Die „Sun“ veröffentlichte mal einen Artikel, in dem es einzig und allein um einen Einkaufsbeleg von Coleen über 45 Pfund ging (für, unter anderem, 26 Tüten Kartoffelchips, eine Fertigmahlzeit für die Mikrowelle und viele Tafeln Schokolade).
Rooney zu verunglimpfen und über seine Eskapaden zu spotten, bedeutet in England, einen bestimmten Teil der Gesellschaft zu verunglimpfen: die angeberische Arbeiterklasse – die Chavs (was mit „Prolls“ nur unzureichend übersetzt wäre). Früher liebte der englische Fußball seine Typen und Galgenstricke, aber damals wurden sie auch nicht im Teenageralter Multimillionäre. Fußball ist eben kein Arbeitersport mehr, sondern ein glattes Unterhaltungsprodukt.
Rooney raucht – und er trinkt viel
Im Fall von Rooney verkompliziert sich die Sache dadurch, dass er die Chuzpe hatte, mehr zu versprechen. Er nährte die Hoffnung, er könnte ein wirklich Großer werden. Und dies in einem Land, das eine belastete Beziehung zum Konzept des Erfolges hat, eine komische Mischung aus Selbsthass und aus imperialen Zeiten herrührender Arroganz. Wer droht, etwas sehr gut zu können, dem werden Engländer andauernd vorhalten, dass er nicht der Allerbeste ist. Das erklärt zum Teil die Frustgefühle, die Rooney auslöst. Für eine Nation, die heimlich glaubt, sie müsste durch Geburtsrecht in allem an der Spitze stehen, waren seine Anflüge von jugendlichem Genie berauschend. Wie konnte er es danach wagen, einfach nur effektiv zu sein, bloß sehr gut?
Sein körperlicher Niedergang hat diesen Zorn zusätzlich befeuert. Die letzte Saison, in der ein beweglicher, dynamischer Rooney Tore schoss, liegt fünf Jahre zurück. Seither ist er sichtbar langsamer geworden und franst an den Ecken aus. Ein Prozess, der durch das periodische Aufpolstern seines fusseligen roten Schopfes mit Haartransplantationen nur teilweise gelindert wird.
Einige verweisen darauf, dass Rooney so jung angefangen hat und stets in einer höheren Altersklasse spielte, bis hin zur Premier League, wo er mit 16 Jahren gegen gestandene Männer antrat. Vielleicht musste er in der härtesten Liga der Welt ausbrennen. Andere erwähnen seine Lebensweise. Rooney raucht. Er trinkt viel. Auf seiner letzten Reise mit der Nationalelf schloss er sich uneingeladen Hochzeitsgästen an, die im Mannschaftshotel feierten, und becherte mit ihnen bis drei Uhr morgens. Im September wurde er wegen einer Alkoholfahrt verurteilt. Die Polizei stoppte ihn am Steuer eines VW-Käfers, der einem Mädchen gehörte, das er im Pub getroffen hatte. Kein Zweifel: Das Missverhältnis zwischen Rooneys Gehalt und seinem unprofessionellem Lebenswandel hat die öffentlichen Sympathien verschlissen.
Und schließlich steht Rooney wie kaum jemand sonst für ein kaltes, freudloses System. Seit 25 Jahren ertrinkt der englische Fußball in Fernsehgeldern. Er ist ein von Gier getriebener Industriezweig, verseucht von einem kleinen Kreis höchst berechnender Berater. Rooney und seine Leute haben dieses System gnadenlos gemolken und pressten auch noch den letzten Cent raus. Vor einigen Jahren saß ein Journalist bei einer Preisverleihung zufällig am selben Tisch wie Rooney. Er nutzte die seltene Gelegenheit, ein paar Worte mit dem berühmtesten englischen Spieler seiner Generation zu wechseln und fragte ihn, was seine Ziele im Fußball wären. Die WM gewinnen? Weltfußballer werden? Der große Junge und Instinktfußballer Rooney antwortete, dass er „der am besten bezahlte Spieler der Welt“ sein wolle.
Trotz allem hatte er eine bemerkenswerte Karriere. In der vergangenen Saison brach Rooney einen der heiligen Rekorde des britischen Fußballs und wurde zum besten Torschützen in Uniteds Vereinsgeschichte. Er brauchte dazu 212 Spiele weniger als der alte Rekordhalter, der untadelige Sir Bobby Charlton. In seiner Zeit in Old Trafford hat Rooney jede Rolle im Sturm und im Mittelfeld ausgefüllt, vom zentralen Angreifer bis zum Sechser – vom knurrenden, spuckenden Teeniegenie zum knurrenden, spuckenden Routinier. Seine besten Jahre waren wohl die fünf an der Seite von Cristiano Ronaldo, als die körperliche Nähe zu einem noch größeren Talent mit noch unbegrenzteren physischen Möglichkeiten Rooney zu beflügeln schien.
Ein Liebesbrief an Ronaldo
Ein Highlight dieser Karriere war der 5. Mai 2009, als United im Halbfinale der Champions League bei Arsenal mit 3:1 gewann. Das dritte Tor war zugleich Höhepunkt und Schlusspunkt der Rooney-Ronnie-Jahre, in denen United Konterfußball mit brutaler Geschwindigkeit und Kraft zelebrierte. Das Tor entstand aus einer Ecke für Arsenal. Nemanja Vidic köpft den Ball aus dem Strafraum. In diesem Moment sprinten Rooney und Ronaldo mit solchem Hunger und einer solchen Entschlossenheit nach vorne, dass man schon ahnen kann, was nun kommt. Ronaldo spielt den Ball mit der Hacke in den Lauf von Park Ji-sung. Der überquert die Mittellinie und spielt einen Steilpass auf Rooney. In höchstem Tempo nimmt Rooney den Ball mit und schlägt die perfekte Flanke vors Tor, ein Liebesbrief an Ronaldo, den der Portugiese im Strafraum annimmt und verwandelt. Dreizehn Sekunden und sieben Ballberührungen, um von einem Ende des Feldes zum anderen zu kommen: Für solche Angriffe war Rooney gemacht.
Aber das Finale verlor United dann, und Ronaldo ging zu Real Madrid. Da war Rooney 24 Jahre alt. Er wechselte auf die Position des Mittelstürmers und schoss in den nächsten drei Jahren 84 Tore, während sein Klub – wie auch er selbst – in die Phase des langsamen, gelegentlich immer noch begeisternden Niederganges glitt. Ja, es gab begeisternde Momente, etwa das Ausgleichstor im Finale der Champions League 2011, bevor Lionel Messi Ernst machte und das Spiel eintütete. Doch bald folgte eine schleppende Odyssee durch Uniteds Jahre nach der Ära von Alex Ferguson, nach Ronaldo.
Vielleicht ist der Vergleich mit Ronaldo am erhellendsten, weil er die Feinheiten ausleuchtet, die auf diesem Level den Unterschied machen und zeigen, wie schwierig es ist, zu den wahrhaft Großen zu gehören. Ronaldo ist acht Monate älter als Rooney. Sie kamen zur selben Zeit bei United heraus. Mit 19 war Rooney in seiner Entwicklung Ronaldo voraus. Von den beiden schien er die besseren Chancen zu haben, zu einem Phänomen zu werden, Preise abzuräumen und den europäischen Vereinsfußball zu dominieren. Vielleicht ist die Sache ganz simpel. Rooney wurde dazu angehalten, seine Dynamik einzubringen und sein Straßenfußballer-Image zu pflegen, bis man ihm mit 17 sagte, dass er es nun geschafft habe. Er hat sein Spiel nie verfeinert. Als sein Antritt und sein Tempo sich verabschiedeten, als er die Fähigkeit verlor, sich durch Wucht Raum zu verschaffen, konnte er nichts Außergewöhnliches mehr leisten. Professionellere Spieler – Arjen Robben, Ronaldo, Messi – können die Spritzigkeit bis in ihre Dreißiger behalten. Technisch beschlagenere Spieler können ihre Rolle auf dem Feld neu erfinden. Aber da Rooney sich nie weiterentwickelt hatte, wurde die Abwesenheit subtilerer Fertigkeiten zum Merkmal seiner letzten Jahre.
Rooney ist im Herbst 32 geworden. Er sieht älter aus. Sein Vertrag bei Everton läuft bis zum Sommer 2019. Danach wird er wohl den üblichen Weg des alternden Promi-Profis einschlagen und in eine Operettenliga wechseln, wenn auch nur, um sein Imperium vor dem Ruhestand noch etwas auszubauen oder sich ein wenig länger vor dem zu schützen, was droht – Langeweile, Spielschulden, Eheprobleme und die Leere, die bleibt, wenn man das Einzige, was man je getan hat, nicht mehr tut.
Es hätte nicht so kommen müssen. Rooneys Karriere hätte anders aussehen können. Stattdessen fühlt es sich auf eine ganz eigene Art schon wie ein Triumph an, dass er sich weigert, seinen langsamen Niedergang abzukürzen.