Seit Wochen befindet sich Frankreich aufgrund der Gelbwesten-Proteste im Ausnahmezustand. Was nicht nur Folgen für den Profifußball hat.
Am 15. Juli war die Welt in Frankreich noch in Ordnung. In Nantes, Marseille, Bordeaux und Nizza, aber vor allem natürlich in Paris feierte ein ganzes Land begeistert den zweiten Weltmeistertitel. Auf den Champs-Elysées in Paris waren Hunderttausende restlos begeistert, und viele wünschten sich, dass dieser Traum, dieser Rausch des WM-Sommers für immer anhalten würde. Heute, knapp vier Monate später, sind die Menschen in Frankreich wieder auf den Straßen. Aber sie feiern nicht mehr.
Sie protestieren. Gegen zu hohe Benzinpreise, zu hohe Steuern und zu niedrige Gehälter, gegen eine politische Elite, der sie vorwerfen, die Sorgen der Menschen nicht ernst zu nehmen. Aus allen Bevölkerungsschichten sind Bürger bei den Demonstrationen dabei, sogar von einer „neuen Revolution“ ist zu lesen. Präsident Emmanuel Macron ist unbeliebter als je zuvor. All das hat natürlich auch Auswirkungen auf den Fußball. Was auch mit der Rolle zu tun hat, die die Ultraszene bei den Protesten spielt.
„Keiner konnte damals ahnen, wie groß die Bewegung werden wird“
Als die Gelbwesten am 17. November erstmals auf die Straße gingen, wurden in zahlreichen Regionen des Landes Spiele im Amateur- und Jugendbereich abgesagt. Nicht in erster Linie aus Sicherheits‑, sondern vielmehr aus organisatorischen Gründen. „Keiner konnte damals ahnen, wie groß die Bewegung werden wird. Wir wussten aber, dass die Demonstranten vorhatten, die Straßen und Autobahnen zu blockieren. Um zu vermeiden, dass die Kinder auf dem Weg zu den Spielen plötzlich fünf oder sechs Stunden im Auto sitzen müssen und Angst haben, war die Absage das Sinnvollste“, sagt Roger Desheulles, Generalsekretär des Fußballverbandes der Normandie, im Gespräch mit 11FREUNDE.
Offiziell äußert sich Desheulles jedoch nicht zu den Protesten, der Verband möchte in der Öffentlichkeit unpolitisch bleiben. Er weiß aber auch, dass viele Spieler im Amateurfußball Sympathie für die Gelbwesten empfinden. „Das hängt vor allem damit zusammen, dass die Armut bei uns in der Normandie immer größer wird.“ Einer dieser Spieler ist Timoléon Cornu, der gegenüber der französischen Zeitschrift „SoFoot“ erklärt: „Das freiwillige Engagement rund um den Fußball ist in dieser Region enorm hoch. Der Fußball dient für viele als Ankerpunkt im Leben, auf und neben des Platzes trifft man am Wochenende seine Freunde. Aber die Erhöhung der Benzinpreise, die ja der Auslöser der Demonstrationen war, macht selbst banale Dinge wie Auswärtsfahrten für Amateurklubs schwieriger. Es ist für mich daher kein Wunder, dass viele bei uns im Verein die Proteste unterstützen.“
Aber auch der Profifußball blieb von den Protesten nicht verschont. Ohnehin werden die Ligue1-Partien seit den Terroranschlägen im Jahr 2015 und dem anschließenden, mehrere Monate lang andauernden Ausnahmezustand stets von einer hohen Polizeipräsenz begleitet. Auch Auswärtsfans sind häufig nicht zugelassen. Offenbar war das französische Innenministerium am vergangenen Wochenende nun der Ansicht, die Beamten, die zur Sicherung der Spiele eingeplant waren, lieber auf der Straße einzusetzen. Kurzerhand wurde der halbe Spieltag abgesagt.
Eine Woche zuvor blockierten wütende Bürger die Zufahrt zum Flughafen in Saint-Etienne, was dazu führte, dass der Mannschaftsbus des FC Nantes nach einem Auswärtsspiel stundenlang nicht vom Fleck kam. Doch die Spieler gingen souverän mit der Situation um, stiegen aus, sprachen mit den Demonstranten und machten Selfies. Äußern möchte sich dazu im Nachgang beim Verein allerdings niemand, und die Begründung der Pressesprecherin mutet für ein Land, das die Meinungsfreiheit als Grundrecht garantiert, reichlich skurril an: „Wir werden darüber nicht sprechen, da das Thema einfach zu politisch für uns ist.“
„Sie wollen mit dem Strom schwimmen“
Auch die Ultraszenen der Grande Nation gehen bislang vorsichtig mit dem hochexplosiven Thema um, lediglich die „Ultràs populaires Sud“ aus Nizza sowie die „South Winners“ aus Marseille solidarisierten sich mit dem Gelbwesten. Erstere vergleichen die Ziele der aktiven Fans mit denen der Demonstranten. Sie sehen Parallelen im Kampf für mehr Demokratie und gegen zunehmende Repressionen sowie willkürliche Stadionverbote. Was auch Mathieu Grégoire von der Pariser Sportzeitung „L’Équipe“ konstatiert: „In Nizza geht man stark auf die politische Ebene der Ultraszene ein.“
Die Marseiller Fans beäugt er hingegen kritisch: „Ich denke, dass ihre Haltung sehr oberflächlich ist, sie sich nicht wirklich Gedanken über die Komplexität der Thematik gemacht haben und auch nicht wirklich hinter dem stehen, was sie vorgeben zu unterstützen. Sie wollen eher mit dem Strom schwimmen.“ Emmanuel Macron sollte also hoffen, dass sich die Stimmung im Land bald wieder zu seinen Gunsten verbessert. Macron ist bekennender OM-Fan.