Mit Franz Beckenbauer als Teamchef gewann die Nationalelf in Rom ihren dritten WM-Titel. Es war der krönende Abschluss eines unvergesslichen Sommers – für die Spieler, die Trainer, Journalisten und Funktionäre. Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit des Fußballs, an rauschende Partys und einen Kaiser, der mit leichter Hand regierte.
4. Juli 1990, 0:31 Uhr, Stadio delle Alpi, Turin. ZDF-Ü-Wagen
Rolf Töpperwien versteht die Welt nicht mehr: Seine Cutterin startet bereits zum wiederholten Mal das Videoband mit dem Littbarski-Interview. Doch auf der Kassette ist – nichts. Axel Mewes druckst herum: „Könnte sein,“ so der erfahrene Kameramann, „dass ich vergessen habe, die Aufnahme zu starten.“ Wie bitte? Töppi ist ausnahmsweise sprachlos. Mewes, diesem Reporterschlachtross, unterläuft ausgerechnet bei dieser Sternstunde ein Anfängerfehler? Was er nicht weiß: DFB-Pressesprecher Niersbach hat auf verantwortlicher Ebene beim ZDF insistiert und gebeten, „Littis“ Wutanfall nicht auszustrahlen. Mewes hat die Schuld auf sich geladen, sich die technische Panne ausgedacht und den Mitschnitt verschwinden lassen. Er wird das Geheimnis viele Jahre für sich behalten. Erst Niersbach lüftet bei Töpperwiens Abschied vom ZDF im September 2010 das Rätsel.
7. Juli 1990, 16 Uhr, Busfahrt zur Villa Borghesiana, Rom
Jürgen Klinsmann reicht eine Musikkassette zum Busfahrer nach vorn. Aus den Boxen schallt die Stimme von Phil Collins. Doch kaum sind die ersten Takte von „Another day in paradise“ erklungen, regt sich lautstarker Widerstand – namentlich von Matthäus und Brehme. Phil Collins verstummt und wird durch Gianna Nannini ersetzt: „Un’estate Italiana“, der Song, der auf immer den Soundtrack des späteren Titelgewinns definieren soll. Für die Musik im Mannschaftkreis ist eigentlich Pierre Littbarski zuständig, er rezensiert für einen Kölner Plattenladen Neuerscheinungen, ist ständig up to date und stellt Mixtapes für die Teamabende zusammen. Er weiß: „War klar, dass die Kassette vom Jürgen nicht lang läuft. Der hätte auch die größten Hits der Beatles einlegen können und die anderen hätten sich aufgeregt…“
7. Juli 1990, 19:28 Uhr, Villa Borghesiana
Es klopft an der Zimmertür von Paul Steiner und Thomas Häßler. Beckenbauer fragt: „Paul, was mach ma? Willst im Finale auf die Bank? Ich könnt da auch einen Mittelfeldspieler gebrauchen.“ Steiner weiß, was das bedeutet: Für ihn geht die WM 4:3 aus – vier Mal „Bratwurst“, drei Mal „Loser“. Der Kaiser hat sich entschieden, im Finale auf die internationale Erfahrung von Littbarski zu setzen – und auf Thomas Häßler, weil er das Team in der Quali mit seinem Tor gegen Wales erlöst hat. Steiner und Uwe Bein erleben das Finale auf der Tribüne.
8. Juli 1990, 21:40 Uhr, Stadio Olimpico, Rom
Andreas Brehme steht am Elfmeterpunkt und wartet. Seit Ewigkeiten diskutieren die argentinischen Spieler mit Schiedsrichter Mendéz. Er hat sich den Ball schon mehrmals zurechtgelegt, doch immer wieder kickt ein Gegner die Kugel vom Punkt. Matthäus hat in der Halbzeit seine Schuhe gewechselt. Das alte Paar hat er acht Jahre lang in jedem Länderspiel getragen, die neuen Töppen sitzen noch nicht. Er überträgt die Strafstoß-Verantwortung fünf Minuten vor Ende des Finals an seinen Kumpel Andy. Brehme versucht die Ruhe zu behalten, als in dem Tohuwabohu Rudi Völler auf ihn zukommt und flüstert: „Wenn Du den reinmachst, sind wir Weltmeister!“ Da wird selbst dem Barmbeker Jung für einen Moment mulmig: „Herzlichen Dank, Rudi! Kannst gern übernehmen.“
8. Juli 1990, 22:59 Uhr, Stadio Olimpico
Frank Mill klopft an die Kabinentür der Argentinier. Zur Halbzeit ging er hinter Diego Maradona auf der Treppe in den Katakomben und hat ihn spontan gefragt, ob er nach dem Match dessen Trikot haben könne. Der Goldjunge hat zugesagt. Ob er sich nach dem verlorenen Finale, dem tränenreichen Ende, nun noch erinnert? Die Tür geht einen Spalt auf, ein Zwei-Meter-Mann öffnet und fragt Mill, was er wolle. Der erklärt unter Zuhilfenahme von Händen und Füßen sein Begehr. Die Tür geht wieder zu, kurz darauf öffnet Maradona und bittet Mill herein. In der Mitte der Kabine beglückwünscht er den Deutschen, die beiden umarmen sich. Mill drückt gerade behelfsmäßig sein Bedauern aus, als der Argentinier in seine gepackte Tasche greift, das Jersey herausfischt und es ihm in die Hand drückt. Als Mill in die DFB-Kabine zurückkommt, wird neben ihm gerade Bundeskanzler Helmut Kohl von zwei Nationalspielern mit Schampus nassgespritzt.
8. Juli 1990, 23:48 Uhr, Stadio Olimpico
Der Kaiser betritt als einer der letzten den Mannschaftsbus. Er ist ganz euphorisch, der Champagner wirkt. Als er Berti Vogts, seinen Co-Trainer und designierten Nachfolger sieht, fällt es ihm wieder ein. „Berti, ich glaube, ich habe grad Schmarrn erzählt.“ Ein Journalist aus Osteuropa hat bei der Pressekonferenz gesagt, dass Deutschland zurecht Weltmeister sei und gefragt, was passiere, wenn nun auch noch die Top-Spieler aus dem Osten den Kader bereicherten. Wer die Deutschen überhaupt noch schlagen solle? Und Beckenbauer ist ihm im Überschwang auf den Leim gegangen: Deutschland sei nun wohl auf Jahre hin unschlagbar. Als Beckenbauer Vogts seinen Faux-Pas beichtet, sagt dieser kalt lächelnd: „Danke, Franz.“ Und denkt sich insgeheim: „Dieser Typ, man kann ihm einfach nicht böse sein.“
9. Juli 1990, 0:48 Uhr, Stadio Olimpico
Klaus Augenthaler sitzt neben einem knapp 70-jährigen FIFA-Arzt im Dopingraum und lässt sich warmes Wasser über die Hände laufen. Seit mehr als zwei Stunden hofft der Libero darauf, endlich seine Dopingprobe abzugeben. Doch egal, was er auch in sich hineinkippt, unten tröpfelt es nur. Schließlich unternimmt „Auge“ einen kleinen Bestechungsversuch: Er bietet dem FIFA-Mediziner seinen DFB-Sweater an, falls der sich mit der kargen Menge Urin zufrieden gäbe. Das Flutlicht im Stadioninneren ist längst erloschen. Der Dopingarzt nimmt den Pulli – und lässt Augenthaler gehen.
„Ab sofort bin ich für alle der Franz. Doch ich biete euch nicht nur das Du an, sondern auch meine Freundschaft!“
9. Juli 1990, 0:56 Uhr, Villa Borghesiana
Bei der letzten Teamsitzung vor Eröffnung des WM-Banketts sagt Beckenbauer seinen Spielern: „Ab sofort bin ich für alle der Franz. Doch ich biete euch nicht nur das Du an, sondern auch meine Freundschaft!“ Matthäus überreicht dem Teamchef zum Abschied im Namen des Kaders ein silbernes Kaffee-Service. Co-Trainer Osieck bekommt eine Standuhr.
9. Juli 1990, 6:42 Uhr, Rom, Villa Borghesiana
Augenthaler ist von seiner zweimonatigen Tochter geweckt worden. Nach der späten Rückkunft im Hotel hat er sich bald Schlafen gelegt. Stocknüchtern blickt er aus dem Fenster und sieht, wie im Garten Thomas Häßler im nagelneuen Kinderwagen der Augenthalers sitzt und vom schwer angeschickerten Sepp Maier auf der Flucht vor der Fontäne des Rasensprengers im Kreis geschoben wird.
9. Juli 1990, 10:36 Uhr, Empfangshalle Villa Borghesiana
Die DFB-Spieler tragen hellblaue Hemden und Krawatten, als sie den Bus zum Flughafen Rom-Ciampino besteigen. Einige haben schon ein Weißbierfrühstück hinter sich. Nur Pierre Littbarski hat ein WM-Touri-Shirt an, über das lässig der schwarze DFB-Schlips lappt. Kanzler Kohl hat verfügt, dass die Flugbereitschaft der Bundeswehr die Weltmeister zurück nach Frankfurt bringt. Um kurz vor zwölf starten Oberstleutnant Hoyer und sein Adjudant Major Wilhelms die Motoren der Boeing 707 „August Euler“. Flug 1003 bringt das Team sicher zu den Feierlichkeiten am „Römer“.
16. April 2020, 11:12 Uhr, SMS von Wolfgang Niersbach an Pierre Littbarski
„Lieber Litti! Alles Gute zum 60sten Geburtstag! Bleib gesund!“
16. April 2020, 11:23 Uhr, SMS von Littbarski
„Lieber Wolfgang! Danke für Deine Glückwünsche. Und danke, dass Du mich 1990 vor einer großen Dummheit bewahrt hast!“