Mit Franz Beckenbauer als Teamchef gewann die Nationalelf in Rom ihren dritten WM-Titel. Es war der krönende Abschluss eines unvergesslichen Sommers – für die Spieler, die Trainer, Journalisten und Funktionäre. Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit des Fußballs, an rauschende Partys und einen Kaiser, der mit leichter Hand regierte.
Diese Reportage erschien erstmals in 11FREUNDE #223. Das Heft findet ihr bei uns im Shop.
Italia 1990. Der Sommer der Verheißung
Alles ist im Schwunge. Die Zukunft steht weit offen. Deutschland taumelt noch freudig-beschwipst vom friedlichen Mauerfall. Boris Becker bumm-bummt sich ins Wimbledon-Finale. Die Serie A ist die beste Liga der Welt, doch der Goalgetter beim AS Rom heißt Rudi Völler, sein Teamkollege Thomas Berthold, und Inter Mailand hat mit der deutschen Achse Matthäus-Brehme-Klinsmann ein Jahr zuvor den Scudetto gewonnen. Die Italiener lieben ihre tedeschi – und weitere sind im Anflug: „Icke“ Häßler zieht gerade aus Köln nach Turin, Kalle Riedle wechselt von Werder zu Lazio. Franz Beckenbauer, holde 44, hat sich neu verliebt. Sybille heißt seine Angebetete. In sechs Jahren als DFB-Teamchef hat er eine große Mannschaft aufgebaut. Eine Elf, die seiner Aura verfallen ist. Denn der Kaiser regiert mit leichter Hand, seine Spieler spüren die Freiheit, die er ihnen lässt, und sie danken es ihm mit guter Laune, Nahbarkeit und einem unbedingten Erfolgswillen. Ganz anders als der von Machtkämpfen zerstrittene Haufen, der unter Beckenbauer vier Jahre zuvor in Mexiko ins WM-Endspiel gestolpert ist. Italien 1990 erlebt die Goldene Generation des 1960/61er-Jahrgangs im Zenit ihres Schaffens. Und die Elf aus Schnauzbart- und Vokuhilaträgern – angeführt vom vorlauten Leitwolfgeck Loddar – lässt die Puppen tanzen: Als der DFB-Tross in der Vorbereitung in Kaltern gastiert, ereignet sich im Hotel Seemeilen eine wüste Party. Der Kaiser weilt gerade in Zagreb beim letzten Testspiel der Jugoslawen gegen die Niederlande. Als er nach seiner Rückkehr Wind von dem Gelage bekommt, rechnen seine Profis mit einem Donnerwetter. Doch Beckenbauer winkt ab. Sollens halt die Sau raus lassen, wer z‘sammen feiert, hilft sich auch, wenn‘s eng wird. Geht’s raus, spielt’s Fußball!
9. Juni 1990, Erba, Teamhotel Castello di Casiglio
Doch wie wird ein Kader von begabten Profis zu einem Team, das zu den Sternen greift? Pierre Littbarski hat da eine Ahnung. Er erlebt in Italien seine dritte WM. Zweimal ist er im Finale gescheitert. Er weiß: „Den Titel holt man nicht allein über Taktik und Training, es braucht ein gesundes Maß an Spaß.“ Der Schalk sitzt dem Berliner von Geburt an im Nacken, also versucht der 30-Jährige den waghalsigen Spagat, für Stimmung zu sorgen, ohne zum Klassenclown zu avancieren. Mal mischt er dem BTT (Bundestorwarttrainer) Sepp Maier Pfeffer in den Schnupftabak, dann dem Fleischesser Andy Brehme einen Lachs in die Pasta und mit seinem Kumpel Häßler spielt er fürs TV das Kinderquiz „Dingsda“ nach. Dabei ist „Littis“ Situation durchaus kompliziert. Während Beckenbauer in der Abwehr und im Angriff weitgehend seine Stammformation gefunden hat, Matthäus gesetzt ist, konkurrieren Thomas Häßler, Olaf Thon, Uwe Bein und er um zwei Positionen im Mittelfeld. Nie kann er sicher sein, ob er im nächsten Spiel dabei ist. Da die Journalisten bei ihren mittäglichen Besuchen im Hotel aber nicht müde werden, ihn nach seinen Einsatzchancen zu befragen, hängt Littbarski sich wie ein Streikposten ein Schild um den Hals und schlendert durch die Reihen: „Ich weigere mich heute, Auskunft über die Aufstellung zu geben. Nähere Informationen beim Pressechef des DFB.“
10. Juni 1990, Stadio San Siro, Mailand
Deutschland besiegt Jugoslawien mit 4:1. Matthäus geht voran – und alle folgen ihm. Selbst Filigrantechniker Uwe Bein ist sich nicht zu schade, nach drei Spielminuten am Mittelkreis Spielmacher Dragan Stojkovic umzunieten. Die Dominanz der Deutschen ist derart beeindruckend, dass bei der Rückkunft der Mannschaft im Hotel schon Feierstimmung herrscht. Delegationsmitglied Gerhard Mayer-Vorfelder lädt den passionierten Marlboro-Mann, Libero Klaus Augenthaler, nach dem Essen beim Grappa auf eine Roth-Händle ohne Filter ein: „Auge, jetzt rauchen wir eine richtige Zigarette.“
15. Juni 1990, Erba, Castello di Casiglio
Der Mannschaftsbus steht mit laufendem Motor vor der Einfahrt. Die Spieler sitzen abreisefertig auf ihren Plätzen. In San Siro wartet das Team der Vereinigten Arabischen Emirate. Doch einer fehlt: „Icke“ Häßler. Der Zimmergenosse von Paul Steiner (Zitat: „Mich habt ihr nur mitgenommen, damit einer auf den Icke aufpasst“) durchlebt eine schwierige Zeit. Gattin Angela organisiert den Umzug des Ehepaars nach Turin. Der Erwartungsdruck des Millionentransfers drückt wie Blei auf seine Schultern, das Heimweh dräut – und auch privat läuft gerade einiges schief. Häßler sitzt allein im Hotel und stellt sich Sinnfragen. Beckenbauer ahnt, dass nur einer die Situation retten kann: „Geh, Litti, schau nach, wo dein kleiner Bruder ist…“ Für Häßler steht das Turnier auf der Kippe. Ein Schlüsselmoment, das weiß Littbarski. Das Gespräch der beiden dauert eine Weile und am Ende überzeugt er den Kölner Kumpel, in den Bus zu steigen – und später in San Siro ein solides Spiel abzuliefern. Dank Littis Überredungskunst, dem einmal mehr bewusst wird: Profifußballer sind keine Roboter, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, die manchmal nicht funktionieren. Und wenn das passiert, ist es gut, wenn jemand auf einen aufpasst.
18. Juni 1990, 19:36 Uhr, Besprechungsraum, Castello di Casiglio
Günter Hermann hat noch nie ein Länderspiel gemacht, doch seit Monaten weiß er, dass er mit zur WM fährt. Der Kaiser hat es ihm im Vertrauen gesagt, weil der Bremer der ideale Teamplayer ist. Einer, der funktioniert, wenn man ihn braucht, aber sonst keinen Ärger macht. Brehme ist nach zwei Gelben Karten fürs letzte Gruppenspiel gegen Kolumbien gesperrt. Schlägt nun Hermanns große Stunde? Beckenbauer erwägt ihn als Linksverteidiger einzusetzen. Er will es nur mit dem Spielerrat besprechen: Augenthaler, Matthäus, Klinsmann und Völler. Letzter ist als Ex-Bremer auf Hermanns Seite, die anderen jedoch präferieren Hansi Pflügler – und besiegeln damit das Schicksal des genügsamen Oberneuländers: als „Weltmeister ohne Einsatz“.
20. Juni 1990, 4:59 Uhr, Restaurant Il Gatto Nero
Lothar Matthäus wohnt in Carimate, etwa 20 Kilometer von Erba entfernt. Mit seinem Peugeot 205 macht er die Gegend unsicher. Nicht jeder steigt gern bei ihm ein, denn der Kapitän neigt zu waghalsigen Fahrmanövern. Aber Frank Mill, Thomas Berthold, Andy Brehme und Rudi Völler wagen es nach dem letzten Gruppenspiel gegen Kolumbien. Und müssen ihre Entscheidung nicht bereuen. Wirt Fausto im Restaurant „Il Gatto Nero“ zaubert ein Trüffel-Risotto und holt seine besten Tropfen aus dem Keller. Und erst als der Morgen graut, schleichen sich die Nationalspieler aus der Edel-Taverne hoch überm Comer See. Auf die Frage nach der Rechnung, winkt Fausto gütig ab: Er möchte nur ein Erinnerungsfoto mit den Spielern.
21. Juni 1990, 12:07 Uhr, Castello di Casiglio
Das DNF ist da. Littbarski und Bodo Illgner haben eine TV-Kamera und ein Mikrofon gekapert und schalten sich als „Deutsches Nationalelf Fernsehen“ in die Presserunde mit dem Teamchef ein. Frage: „Welches Team war besser: 1974 oder 1990?“ Beckenbauer: „Die 74er-Elf ist älter.“ Frage an den neben ihm sitzenden Udo Lattek: „Was würden Sie in dieser Mannschaft ändern?“ Lattek geistesgegenwärtig: „Ich würde immer Littbarski spielen lassen.“ Letzte Frage an den Teamchef: „Und: Spielt der im nächsten Match?“ Beckenbauer winkt ab.
21. Juni 1990, 18:34 Uhr, Erba, Hoteltor
ZDF-Reporter Rolf Töpperwien hält Lothar Matthäus durch den gusseisernen Zaun ein Mikrofon unter die Nase. Er möchte vom Kapitän eine Einschätzung zum kommenden Achtelfinal-Gegner. Problem: Gegen wen die deutsche Elf spielt, entscheidet sich erst am späten Abend in der Partie Niederlande gegen Irland. Also zeichnet der TV-Mann zwei O‑Töne auf: Einmal spricht Matthäus über die Herausforderung, gegen die Iren ranzumüssen, dann über das harte Los, schon jetzt auf den Erzrivalen Holland zu treffen. Als die Aufzeichnung im Kasten ist, grinst Matthäus: „Aber wehe, Töppi, Du sendest nachher die falsche MAZ…“
24. Juni 1990, 21:26 Uhr, Stadionkatakomben, San Siro, Mailand
Rudi Völler ist nun doch die Hand ausgerutscht. Nachdem ihm der Niederländer Frank Rijkaard auf dem Rasen zwei Mal im Nacken den Minipli benetzt hat und die Streithähne für ihren Konflikt vom Platz müssen, überkommt den Deutschen im Halbdunkel des Spielertunnels blinde Wut. Rijkaard weicht Völlers zweitem Jab aus, hebt die Deckung, nimmt dann aber Reißaus. Der Deutsche rennt ihm nach, erreicht ihn nicht und trommelt schließlich gegen die Kabinentür, hinter der sich der Niederländer verschanzt. Als kurz darauf die Mannschaften zum Pausentee kommen, flammen im Gang erneute Scharmützel auf. Vor der Umkleide der „Efltal“ wird im Dutzend gerangelt. Mitten im Rudel steht Paul Steiner: „Wenn sowas passierte, war ich immer vorne dabei. Und an dem Tag war jedes orangene Trikot wie ein rotes Tuch.“
25. Juni 1990, Anhörungssaal, FIFA-Sportgericht
Rudi Völler wird wegen der Ereignisse im Achtelfinale vom Richter für das WM-Viertelfinale gesperrt. Lothar Matthäus hat ihn in die Hauptstadt begleitet, um als Zeuge auszusagen. Nach der Verhandlung wollen die beiden eigentlich zurück zum Flughafen fahren, aber, verdammt, der zählflüssige Verkehr in Rom, dann müssen sie noch in Völlers Lieblingstrattoria schnell einen Happen essen und überhaupt, die Zeit… Lange Rede, kurzer Sinn: Sie verpassen den Flug und machen sich einen schönen Abend in der ewigen Stadt.
26. Juni 1990, Elternhaus Riedle, Weiler im Allgäu
DFB-Pressesprecher Wolfgang Niersbach hat Karl-Heinz Riedle seinen Dienstwagen geliehen. Bis zum Viertelfinale gegen die Tschechoslowakei bleibt den Spielern eine Woche Zeit. Niersbach geht davon aus, dass Riedle die Region um den Comer See erkunden will. Doch der hat seinen Bremer Kumpel Günter Hermann gefragt, ob der nicht Lust auf eine kleine Spritztour habe – und ist mit ihm zu seinen Eltern ins Allgäu gefahren. Dort sitzen die Nationalspieler nun auf dem heimischen Sofa und werden mit Kuchen bewirtet. Als der Stürmer den Wagen tags drauf zurückbringt, traut Niersbach seinen Augen nicht: Der Tacho zeigt knapp tausend Kilometer mehr als bei der Abholung. „Nicht auszudenken, wenn da etwas passiert wäre“, schlägt Niersbach noch heute die Hände überm Kopf zusammen.
1. Juli 1990, 18:52 Uhr, Umkleidekabine, San Siro, Mailand
Deutschland steht im Halbfinale und die Nationalelf geht erst einmal in Deckung. Beim Betreten der Kabine kickt Beckenbauer den Eiskübel weg, der seinen Weg kreuzt, und Eiswürfel ergießen sich über die anwesenden Profis. Der Kaiser zürnt, weil sein Team gegen einen Gegner in Unterzahl das Spiel fast aus der Hand gegeben hat. Schon am Spielfeldrand hat er einen verdutzten italienischen Balljungen stinksauer gefragt, ob er nicht mitspielen wolle. Bei dem Grottenkick habe er keine Sorgen, den Buben aufs Feld zu schicken. In der zweiten Hälfte hat dem Team befohlen, Jürgen Klinsmann nicht mehr anzuspielen. Nun nimmt er sich den blonden Schwaben richtig zur Brust: „Was glaubst Du, wer Du bist? Du bist der Klinsmann, nicht der Péle!“ Auch Andy Brehme kriegt sein Fett weg. Doch der Hanseat wagt es, Gegenfragen zu stellen: „Sorry, Trainer, aber haben Sie nie ein schlechtes Spiel gemacht?“ Das bringt den Kaiser erst so richtig in Fahrt. Einige sind vorsichtshalber ins Entmüdungsbecken geflüchtet, doch nun mischt der Teamchef auch den Bereich auf. „Zum Glück war es im Bad so heiß,“ so Klaus Augenthaler, der dort im Wasser planscht, „dass er es nicht lange aushielt.“ Auf der Rückfahrt setzt sich PR-Mann Niersbach zum gescholtenen Klinsmann. „Jürgen, keine Ahnung, was mit dem Franz los war, soll ich da eine Aussprache anregen?“ Doch der blonde Stürmer lächelt den Frust weg: „Quatsch, das hat der doch inzwischen längst vergessen.“
4. Juli 1990, 18:22 Uhr, Stadio delle Alpi, Turin, Medienparkplatz
Pierre Littbarski ist außer sich. Beckenbauer hat ihm beim Abschlusstraining auf dem unebenen Geläuf eines Turiner Amateurklubs beiläufig mitgeteilt, dass nicht er, sondern Olaf Thon im Halbfinale gegen England auflaufen wird. In Begleitung von Uwe Bein trabt „Litti“ auf einen Übertragungswagen des ZDF zu. Der Frust muss raus. Reporter Rolf Töpperwien erkennt sofort, was Sache ist, und gibt dem Kollegen Axel Mewes ein Zeichen, seine Kamera in Anschlag zu bringen. Als der Dreh beginnt, poltert Littbarski los. Alles muss raus: Vertrauensverlust. Menschliche Enttäuschung. Nein, er sei nicht angeschlagen, im Gegenteil. Von wegen, Kaiser. Töpperwien muss gar nicht nachfragen, da hat sich in der vermeintlichen Harmonie von Erba offenbar doch einiges angestaut. Der Reporter weiß: Dieses Interview ist ein Scoop.
4. Juli 1990, 20:16 Uhr, Stadio delle Alpi, DFB-Kabine
Als Franz Beckenbauer seine Spieler zum Aufwärmen auf den Rasen schickt, fragt ein Mitarbeiter der Delegation, wen er gegen England als zweiten Torhüter in den Spielberichtsbogen eintragen soll. Für den Teamchef eine lästige Formalie. In seinem Kader sind schließlich alle Spieler gleich viel wert. Er ruft seinen Keepern Aumann und Köpke hinterher: „Andy, Raimond, wer mag? Macht’s das unter euch aus!“
4. Juli 1990, 21:48 Uhr, Stadio delle Alpi
Frank Mill und Günter Hermann haben es im WM-Halbfinale nicht in den 16er-Kader geschafft. Heute gehören sie zu den „Bratwürsten“. Paul Steiner hat zu dieser Klassifikation gefunden: Wer im Kader ist und auf der Bank sitzt, ist ein „Loser“. Wer auf die Tribüne muss, eine „Bratwurst“. In der Halbzeit haben es sich die beiden also auf dem Klo der deutschen Umkleide gemütlich gemacht und sich eine Zigarette angesteckt. In der Kabine herrscht geschäftiges Treiben, doch plötzlich geht die Klotür auf und Beckenbauer fragt: „Sagt mal, brennt hier was?“.
4. Juli 1990, 23:36 Uhr, Stadio delle Alpi
Lothar Matthäus kann sich das Schmunzeln nicht verkneifen. Eben hat er seinen Elfmeter im Shoot-Out gegen England verwandelt und verfolgt nun entspannt das Geschehen. Da fällt ihm auf: Der britische Keeper Peter Shilton fällt wie eine Bahnschranke. Meist reagiert der Schlussmann erst, wenn der Ball schon vom Netz wieder auf den Rasen tippt. Was soll da noch schiefgehen? Littbarski auf der Ersatzbank ist sich da nicht so sicher: Er weiß, wenn sein Kölner Kollege Bodo Illgner eine Schwäche hat, dann Strafstöße. „Der Bodo hatte ja ordentlich Spannweite, vielleicht schießt ihn einer an,“ hofft er. „Psycho“ Pearce tut ihm den Gefallen. Illgner entscheidet sich für die linke Ecke, da rauscht der Ball heran und der deutsche Keeper fällt drauf.
4. Juli 1990, 0:31 Uhr, Stadio delle Alpi, Turin. ZDF-Ü-Wagen
Rolf Töpperwien versteht die Welt nicht mehr: Seine Cutterin startet bereits zum wiederholten Mal das Videoband mit dem Littbarski-Interview. Doch auf der Kassette ist – nichts. Axel Mewes druckst herum: „Könnte sein,“ so der erfahrene Kameramann, „dass ich vergessen habe, die Aufnahme zu starten.“ Wie bitte? Töppi ist ausnahmsweise sprachlos. Mewes, diesem Reporterschlachtross, unterläuft ausgerechnet bei dieser Sternstunde ein Anfängerfehler? Was er nicht weiß: DFB-Pressesprecher Niersbach hat auf verantwortlicher Ebene beim ZDF insistiert und gebeten, „Littis“ Wutanfall nicht auszustrahlen. Mewes hat die Schuld auf sich geladen, sich die technische Panne ausgedacht und den Mitschnitt verschwinden lassen. Er wird das Geheimnis viele Jahre für sich behalten. Erst Niersbach lüftet bei Töpperwiens Abschied vom ZDF im September 2010 das Rätsel.
7. Juli 1990, 16 Uhr, Busfahrt zur Villa Borghesiana, Rom
Jürgen Klinsmann reicht eine Musikkassette zum Busfahrer nach vorn. Aus den Boxen schallt die Stimme von Phil Collins. Doch kaum sind die ersten Takte von „Another day in paradise“ erklungen, regt sich lautstarker Widerstand – namentlich von Matthäus und Brehme. Phil Collins verstummt und wird durch Gianna Nannini ersetzt: „Un’estate Italiana“, der Song, der auf immer den Soundtrack des späteren Titelgewinns definieren soll. Für die Musik im Mannschaftkreis ist eigentlich Pierre Littbarski zuständig, er rezensiert für einen Kölner Plattenladen Neuerscheinungen, ist ständig up to date und stellt Mixtapes für die Teamabende zusammen. Er weiß: „War klar, dass die Kassette vom Jürgen nicht lang läuft. Der hätte auch die größten Hits der Beatles einlegen können und die anderen hätten sich aufgeregt…“
7. Juli 1990, 19:28 Uhr, Villa Borghesiana
Es klopft an der Zimmertür von Paul Steiner und Thomas Häßler. Beckenbauer fragt: „Paul, was mach ma? Willst im Finale auf die Bank? Ich könnt da auch einen Mittelfeldspieler gebrauchen.“ Steiner weiß, was das bedeutet: Für ihn geht die WM 4:3 aus – vier Mal „Bratwurst“, drei Mal „Loser“. Der Kaiser hat sich entschieden, im Finale auf die internationale Erfahrung von Littbarski zu setzen – und auf Thomas Häßler, weil er das Team in der Quali mit seinem Tor gegen Wales erlöst hat. Steiner und Uwe Bein erleben das Finale auf der Tribüne.
8. Juli 1990, 21:40 Uhr, Stadio Olimpico, Rom
Andreas Brehme steht am Elfmeterpunkt und wartet. Seit Ewigkeiten diskutieren die argentinischen Spieler mit Schiedsrichter Mendéz. Er hat sich den Ball schon mehrmals zurechtgelegt, doch immer wieder kickt ein Gegner die Kugel vom Punkt. Matthäus hat in der Halbzeit seine Schuhe gewechselt. Das alte Paar hat er acht Jahre lang in jedem Länderspiel getragen, die neuen Töppen sitzen noch nicht. Er überträgt die Strafstoß-Verantwortung fünf Minuten vor Ende des Finals an seinen Kumpel Andy. Brehme versucht die Ruhe zu behalten, als in dem Tohuwabohu Rudi Völler auf ihn zukommt und flüstert: „Wenn Du den reinmachst, sind wir Weltmeister!“ Da wird selbst dem Barmbeker Jung für einen Moment mulmig: „Herzlichen Dank, Rudi! Kannst gern übernehmen.“
8. Juli 1990, 22:59 Uhr, Stadio Olimpico
Frank Mill klopft an die Kabinentür der Argentinier. Zur Halbzeit ging er hinter Diego Maradona auf der Treppe in den Katakomben und hat ihn spontan gefragt, ob er nach dem Match dessen Trikot haben könne. Der Goldjunge hat zugesagt. Ob er sich nach dem verlorenen Finale, dem tränenreichen Ende, nun noch erinnert? Die Tür geht einen Spalt auf, ein Zwei-Meter-Mann öffnet und fragt Mill, was er wolle. Der erklärt unter Zuhilfenahme von Händen und Füßen sein Begehr. Die Tür geht wieder zu, kurz darauf öffnet Maradona und bittet Mill herein. In der Mitte der Kabine beglückwünscht er den Deutschen, die beiden umarmen sich. Mill drückt gerade behelfsmäßig sein Bedauern aus, als der Argentinier in seine gepackte Tasche greift, das Jersey herausfischt und es ihm in die Hand drückt. Als Mill in die DFB-Kabine zurückkommt, wird neben ihm gerade Bundeskanzler Helmut Kohl von zwei Nationalspielern mit Schampus nassgespritzt.
8. Juli 1990, 23:48 Uhr, Stadio Olimpico
Der Kaiser betritt als einer der letzten den Mannschaftsbus. Er ist ganz euphorisch, der Champagner wirkt. Als er Berti Vogts, seinen Co-Trainer und designierten Nachfolger sieht, fällt es ihm wieder ein. „Berti, ich glaube, ich habe grad Schmarrn erzählt.“ Ein Journalist aus Osteuropa hat bei der Pressekonferenz gesagt, dass Deutschland zurecht Weltmeister sei und gefragt, was passiere, wenn nun auch noch die Top-Spieler aus dem Osten den Kader bereicherten. Wer die Deutschen überhaupt noch schlagen solle? Und Beckenbauer ist ihm im Überschwang auf den Leim gegangen: Deutschland sei nun wohl auf Jahre hin unschlagbar. Als Beckenbauer Vogts seinen Faux-Pas beichtet, sagt dieser kalt lächelnd: „Danke, Franz.“ Und denkt sich insgeheim: „Dieser Typ, man kann ihm einfach nicht böse sein.“
9. Juli 1990, 0:48 Uhr, Stadio Olimpico
Klaus Augenthaler sitzt neben einem knapp 70-jährigen FIFA-Arzt im Dopingraum und lässt sich warmes Wasser über die Hände laufen. Seit mehr als zwei Stunden hofft der Libero darauf, endlich seine Dopingprobe abzugeben. Doch egal, was er auch in sich hineinkippt, unten tröpfelt es nur. Schließlich unternimmt „Auge“ einen kleinen Bestechungsversuch: Er bietet dem FIFA-Mediziner seinen DFB-Sweater an, falls der sich mit der kargen Menge Urin zufrieden gäbe. Das Flutlicht im Stadioninneren ist längst erloschen. Der Dopingarzt nimmt den Pulli – und lässt Augenthaler gehen.
„Ab sofort bin ich für alle der Franz. Doch ich biete euch nicht nur das Du an, sondern auch meine Freundschaft!“
9. Juli 1990, 0:56 Uhr, Villa Borghesiana
Bei der letzten Teamsitzung vor Eröffnung des WM-Banketts sagt Beckenbauer seinen Spielern: „Ab sofort bin ich für alle der Franz. Doch ich biete euch nicht nur das Du an, sondern auch meine Freundschaft!“ Matthäus überreicht dem Teamchef zum Abschied im Namen des Kaders ein silbernes Kaffee-Service. Co-Trainer Osieck bekommt eine Standuhr.
9. Juli 1990, 6:42 Uhr, Rom, Villa Borghesiana
Augenthaler ist von seiner zweimonatigen Tochter geweckt worden. Nach der späten Rückkunft im Hotel hat er sich bald Schlafen gelegt. Stocknüchtern blickt er aus dem Fenster und sieht, wie im Garten Thomas Häßler im nagelneuen Kinderwagen der Augenthalers sitzt und vom schwer angeschickerten Sepp Maier auf der Flucht vor der Fontäne des Rasensprengers im Kreis geschoben wird.
9. Juli 1990, 10:36 Uhr, Empfangshalle Villa Borghesiana
Die DFB-Spieler tragen hellblaue Hemden und Krawatten, als sie den Bus zum Flughafen Rom-Ciampino besteigen. Einige haben schon ein Weißbierfrühstück hinter sich. Nur Pierre Littbarski hat ein WM-Touri-Shirt an, über das lässig der schwarze DFB-Schlips lappt. Kanzler Kohl hat verfügt, dass die Flugbereitschaft der Bundeswehr die Weltmeister zurück nach Frankfurt bringt. Um kurz vor zwölf starten Oberstleutnant Hoyer und sein Adjudant Major Wilhelms die Motoren der Boeing 707 „August Euler“. Flug 1003 bringt das Team sicher zu den Feierlichkeiten am „Römer“.
16. April 2020, 11:12 Uhr, SMS von Wolfgang Niersbach an Pierre Littbarski
„Lieber Litti! Alles Gute zum 60sten Geburtstag! Bleib gesund!“
16. April 2020, 11:23 Uhr, SMS von Littbarski
„Lieber Wolfgang! Danke für Deine Glückwünsche. Und danke, dass Du mich 1990 vor einer großen Dummheit bewahrt hast!“