Mit Franz Beckenbauer als Teamchef gewann die Nationalelf in Rom ihren dritten WM-Titel. Es war der krönende Abschluss eines unvergesslichen Sommers – für die Spieler, die Trainer, Journalisten und Funktionäre. Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit des Fußballs, an rauschende Partys und einen Kaiser, der mit leichter Hand regierte.
Diese Reportage erschien erstmals in 11FREUNDE #223. Das Heft findet ihr bei uns im Shop.
Italia 1990. Der Sommer der Verheißung
Alles ist im Schwunge. Die Zukunft steht weit offen. Deutschland taumelt noch freudig-beschwipst vom friedlichen Mauerfall. Boris Becker bumm-bummt sich ins Wimbledon-Finale. Die Serie A ist die beste Liga der Welt, doch der Goalgetter beim AS Rom heißt Rudi Völler, sein Teamkollege Thomas Berthold, und Inter Mailand hat mit der deutschen Achse Matthäus-Brehme-Klinsmann ein Jahr zuvor den Scudetto gewonnen. Die Italiener lieben ihre tedeschi – und weitere sind im Anflug: „Icke“ Häßler zieht gerade aus Köln nach Turin, Kalle Riedle wechselt von Werder zu Lazio. Franz Beckenbauer, holde 44, hat sich neu verliebt. Sybille heißt seine Angebetete. In sechs Jahren als DFB-Teamchef hat er eine große Mannschaft aufgebaut. Eine Elf, die seiner Aura verfallen ist. Denn der Kaiser regiert mit leichter Hand, seine Spieler spüren die Freiheit, die er ihnen lässt, und sie danken es ihm mit guter Laune, Nahbarkeit und einem unbedingten Erfolgswillen. Ganz anders als der von Machtkämpfen zerstrittene Haufen, der unter Beckenbauer vier Jahre zuvor in Mexiko ins WM-Endspiel gestolpert ist. Italien 1990 erlebt die Goldene Generation des 1960/61er-Jahrgangs im Zenit ihres Schaffens. Und die Elf aus Schnauzbart- und Vokuhilaträgern – angeführt vom vorlauten Leitwolfgeck Loddar – lässt die Puppen tanzen: Als der DFB-Tross in der Vorbereitung in Kaltern gastiert, ereignet sich im Hotel Seemeilen eine wüste Party. Der Kaiser weilt gerade in Zagreb beim letzten Testspiel der Jugoslawen gegen die Niederlande. Als er nach seiner Rückkehr Wind von dem Gelage bekommt, rechnen seine Profis mit einem Donnerwetter. Doch Beckenbauer winkt ab. Sollens halt die Sau raus lassen, wer z‘sammen feiert, hilft sich auch, wenn‘s eng wird. Geht’s raus, spielt’s Fußball!
9. Juni 1990, Erba, Teamhotel Castello di Casiglio
Doch wie wird ein Kader von begabten Profis zu einem Team, das zu den Sternen greift? Pierre Littbarski hat da eine Ahnung. Er erlebt in Italien seine dritte WM. Zweimal ist er im Finale gescheitert. Er weiß: „Den Titel holt man nicht allein über Taktik und Training, es braucht ein gesundes Maß an Spaß.“ Der Schalk sitzt dem Berliner von Geburt an im Nacken, also versucht der 30-Jährige den waghalsigen Spagat, für Stimmung zu sorgen, ohne zum Klassenclown zu avancieren. Mal mischt er dem BTT (Bundestorwarttrainer) Sepp Maier Pfeffer in den Schnupftabak, dann dem Fleischesser Andy Brehme einen Lachs in die Pasta und mit seinem Kumpel Häßler spielt er fürs TV das Kinderquiz „Dingsda“ nach. Dabei ist „Littis“ Situation durchaus kompliziert. Während Beckenbauer in der Abwehr und im Angriff weitgehend seine Stammformation gefunden hat, Matthäus gesetzt ist, konkurrieren Thomas Häßler, Olaf Thon, Uwe Bein und er um zwei Positionen im Mittelfeld. Nie kann er sicher sein, ob er im nächsten Spiel dabei ist. Da die Journalisten bei ihren mittäglichen Besuchen im Hotel aber nicht müde werden, ihn nach seinen Einsatzchancen zu befragen, hängt Littbarski sich wie ein Streikposten ein Schild um den Hals und schlendert durch die Reihen: „Ich weigere mich heute, Auskunft über die Aufstellung zu geben. Nähere Informationen beim Pressechef des DFB.“
10. Juni 1990, Stadio San Siro, Mailand
Deutschland besiegt Jugoslawien mit 4:1. Matthäus geht voran – und alle folgen ihm. Selbst Filigrantechniker Uwe Bein ist sich nicht zu schade, nach drei Spielminuten am Mittelkreis Spielmacher Dragan Stojkovic umzunieten. Die Dominanz der Deutschen ist derart beeindruckend, dass bei der Rückkunft der Mannschaft im Hotel schon Feierstimmung herrscht. Delegationsmitglied Gerhard Mayer-Vorfelder lädt den passionierten Marlboro-Mann, Libero Klaus Augenthaler, nach dem Essen beim Grappa auf eine Roth-Händle ohne Filter ein: „Auge, jetzt rauchen wir eine richtige Zigarette.“
15. Juni 1990, Erba, Castello di Casiglio
Der Mannschaftsbus steht mit laufendem Motor vor der Einfahrt. Die Spieler sitzen abreisefertig auf ihren Plätzen. In San Siro wartet das Team der Vereinigten Arabischen Emirate. Doch einer fehlt: „Icke“ Häßler. Der Zimmergenosse von Paul Steiner (Zitat: „Mich habt ihr nur mitgenommen, damit einer auf den Icke aufpasst“) durchlebt eine schwierige Zeit. Gattin Angela organisiert den Umzug des Ehepaars nach Turin. Der Erwartungsdruck des Millionentransfers drückt wie Blei auf seine Schultern, das Heimweh dräut – und auch privat läuft gerade einiges schief. Häßler sitzt allein im Hotel und stellt sich Sinnfragen. Beckenbauer ahnt, dass nur einer die Situation retten kann: „Geh, Litti, schau nach, wo dein kleiner Bruder ist…“ Für Häßler steht das Turnier auf der Kippe. Ein Schlüsselmoment, das weiß Littbarski. Das Gespräch der beiden dauert eine Weile und am Ende überzeugt er den Kölner Kumpel, in den Bus zu steigen – und später in San Siro ein solides Spiel abzuliefern. Dank Littis Überredungskunst, dem einmal mehr bewusst wird: Profifußballer sind keine Roboter, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, die manchmal nicht funktionieren. Und wenn das passiert, ist es gut, wenn jemand auf einen aufpasst.