Am Millerntor singt keine Kurve, sondern das ganze Stadion. Doch der Mythos des exzentrischen Stadteilklubs begann auf der Gegengerade. Hier ist ihre Geschichte.
AC/DC. Immer wieder AC/DC. Seit der Jahrtausendwende dröhnt vor jedem Spiel furchterregend „Hells Bells“, wenn die Mannschaften am Millerntor aufs Feld laufen. Eigentlich passt der seltsam unironische Willkommen-in-der-Hölle-Gestus gar nicht zum fröhlichen Funpunk des Kiezklub-Mythos. Aber AC/DC, diese unzerstörbaren Bluesrock-Duracellhasen, sind auf den Tribünen nun mal seit jeher gegenwärtig. Wenn auch Anfang der Neunziger mit etwas mehr Augenzwinkern als heute. Lief sich damals der Hamburger Jung Dirk Zander am Spielfeldrand warm, brummelten ein paar Lederjacken im schwarzen Block der Gegengerade die nervöse Anfangssequenz des Gassenhausers „Thunderstruck“: „Na, na-na, na, na-na …“. Und die gesamte Tribüne komplettierte markerschütternd: „… ZANN-DEER“.
Those were the days. Der „Zanderstruck“ war damals nur eine von zahllosen Aktionen, die nicht in erster Linie den Erfolg des Heimteams feierten, sondern vor allem dazu dienten, sich als Fan eine gute Zeit zu verschaffen. Denn das war bitter nötig: Bis Mitte der Achtziger war es am Millerntor nicht anders als in anderen Stadien zugegangen. In der Nordkurve mischten sich unter die Hafenarbeiter, versprengten Dombesucher, Arbeitslosen und Normalos auch Kuttenträger und Hooligans, die auf Krawall gebürstet waren. Die durchs halbleere Stadion wanderten, im Rücken des gegnerischen Keepers pöbelten oder sonst wie Ärger machten. Rechte Anhänger, etwa Mitglieder des Fanklubs „United“, hissten sogar gern mal die Reichskriegsflagge oder grunzten in ihrer tumben Hilflosigkeit Affenlaute, wenn einer wie Souleyman Sané die Abwehrreihe der Kiezkicker mal wieder schwindlig spielte.
Die linksalternative Hafenstraßenszene und die Punks, die ans Millerntor kamen, hatten logischerweise keinen Bock auf die marodierenden Gefahrensucher im Norden. Und so trafen sich die Lebenskünstler und Kreativen auf der Gegengerade. Nie wäre ihnen in den Sinn gekommen, bei den Luden und Pfeffersäcken auf der Haupttribüne Platz zu nehmen. Im sogenannten „Kuchenblock“, wo an Spieltagen hinter der Tribüne die feine Präsidentengattin Anneliese Paulick selbstgemachte Backwaren zugunsten des Jugendfußballs verkaufte. Vom Süden ganz zu schweigen, der damals noch weitgehend Auswärtsfans vorbehalten war.
Und so entwickelte sich im Zentrum der Gegengerade ein Phänomen, das es bis dato im deutschen Profifußball nicht gegeben hatte: erfolgsunabhängiger Support. In den Sechzigern hatten Angreifer wie Horst Haecks oder Peter Osterhoff mit ihren Toren für Begeisterungsstürme gesorgt, weil sie außergewöhnliche Fußballer waren. In Ermangelung edler Kicker beim klammen Kiezklub der Achtziger weiteten die tonangebenden Gag-Giganten auf der Gerade ihren Blick auf das Spiel – und nahmen auch Marginalien abseits des Rasens zum Anlass, um ein Feel-good-Erlebnis daraus zu machen.
Ersatzspielern wurde beim Warmlaufen mit Sprechchören gehuldigt („Gatti, Gatti, Gatti“, „Otti, Otti, Otti“). Vorm Eckstoß holten die Anhänger ihre Schlüssel aus der Tasche und ein konspiratives Klingeln breitete sich im Stadion aus. „Leo, Leo“-Rufe begleiteten die Einwechslungen des chronisch erfolglosen Brasilianers Leonardo Manzi, der selbst dann noch auf Händen getragen wurde, wenn er in den ihm verbleibenden Spielminuten nicht ein einziges Mal den Ball berührte.
Der Hafenstadtteil war noch kein Ort, an dem Reiche versuchten, in lichtdurchfluteten Altbauwohnungen ihrer versnobten Existenz eine Prise Coolness zu verleihen, sondern ein sozialer Brennpunkt. Seine Bewohner hatten gelernt, mit dem Defizit und stetem Schiffbruch zu leben. Und diese positive Grundeinstellung schlug sich in einem erfrischenden Fan-Support nieder.