Am Millerntor singt keine Kurve, sondern das ganze Stadion. Doch der Mythos des exzentrischen Stadteilklubs begann auf der Gegengerade. Hier ist ihre Geschichte.
Die Gegengerade empfing jeden, der ans überschaubar gefüllte Millerntor (damals Wilhelm-Koch-Stadion) pilgerte, mit offenen Armen und lud dazu ein, am Gemeinschaftserlebnis teilzunehmen. Puristen, denen der ironische Angang und der ständige Trashtalk zum ernsten Spiel zu viel wurden, wanderten ein paar Meter gen Süden – in die Meckerecke. Ein Treppenwitz der Geschichte: Die Gerade wurde zum Nährboden einer seltsamen Antiheld-Euphorie und Fußballfans, deren Weltanschauung von Hause aus eher antikommerziell ausgerichtet war, erschufen ungewollt ein Marketingkonzept, von dem der FC St. Pauli bis in die Gegenwart gut lebt. Den Mythos des alternativen „Kultklubs“ mit seiner immerwährenden „Paaaaddie“.
In der Saison 1995/96 gründeten knapp 50 aktive Fans in diesem Geist die erste Ultrabewegung auf St. Pauli: die „Passanten“. Nach dem Erstligaaufstieg unter Trainer Uli Maslo waren Tickets fürs Millerntor plötzlich begehrte Ware. Doch die Begeisterung auf den Rängen, die nun zunehmend auch von Schaulustigen bevölkert wurden, litt. Die „Passanten“ machten es sich in Block 1 der Gegengerade oberhalb der Stehplätze also zur Aufgabe, von ihrem Standort mit organisierten Gesängen und Choreos kontinuierlich Stimmungswellen ins Stadion schwappen zu lassen: „Come on you Boys in Brown“, „Freude schöner Fußballzauber“, „We love St. Pauli, we do“. Der Beginn der Singing Area. Das Millerntor war damals das erste Stadion eines Profiklubs in Deutschland, an dem wiederkehrend „You’ll Never Walk Alone“ gesungen wurde. Wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass es schon zu Beatles-Zeiten stets eine musikalische Standleitung von Liverpools Merseyside auf die Reeperbahn gegeben hatte – und auch Gerry & the Pacemakers wie einst die Fab Four im „Star Club“ auf der Großen Freiheit gastierten.
Das Millerntor ist ein schrilles Wimmelbild des Fan-Supports: Schon seit 1989 forderte die aktive Szene, organisiert in Gruppen wie der „AG interessierter Mitglieder“ (AGiM), ein Mitspracherecht bei Vereinsbelangen ein. In der Folge entstanden etliche Initiativen, die sich auf unterschiedlichsten Ebenen engagierten und sich am Spieltag entsprechend weitreichend aufs Stadion verteilten. In der Saison 2002/03 gründete sich mit Ultrà Sankt Pauli (USP), die bis heute größte Ultrabewegung auf dem Kiez. Anfangs bezogen deren Mitglieder im Block D der Gegengerade unterhalb der Singing Area ihren Standort. Auf Augenhöhe mit dem schwarzen Block griff auch USP die linksalternativen Überzeugungen auf. Im Gegensatz zu den eher ungeordneten Aktionen der Spaßguerilla der späten Achtziger, gelang es USP aber mit einer straffen Organisation, viele unterschiedliche Gruppierungen unter einem Dach zu vereinen und der aktiven Anhängerschaft noch mehr Durchschlagskraft auf den Rängen und im Klub zu verschaffen.
Als im Zuge des Stadionumbaus im Jahr 2007 das Millerntor durch die neu errichtete Südtribüne ein verändertes Antlitz erhielt, beschloss USP, dort, wo lange Jahre vereinzelte Auswärtsfahrer im Bindfadenregen gefroren hatten, ein neues Kapitel hanseatischer Fußballkultur aufzuschlagen. Schon kurz nach dem Richtfest markierten im November 2007 beim 2:0‑Sieg gegen den FC Augsburg erstmals 1500 Anhänger ihr neues Revier.
Heute kommt der dauerhafteste und lauteste Support zweifelsohne von den Südrängen. Wer hierher kommt, hat eine Mission: USP sieht sich in der Pflicht, den FC St. Pauli bei jedem Spiel möglichst stimmgewaltig zu unterstützen, Fahnen zu schwenken und Choreos zu machen. Aber so wie alle anderen aktiven Fans verstehen sich auch die Ultras als Bewahrer des althergebrachten St. Pauli-Ethos, was bedeutet, dass sie den linken Anspruch konstant in die Praxis umsetzen und aktiv gegen Rassismus, Sexismus und Homophobie vorgehen. Damit bei diesem kräftezehrenden Anliegen keine Abnutzungserscheinungen auftreten, müssen sich die Dauerkarteninhaber auf der Süd jedes Jahr neu für eine Saisonkarte melden. Kurz: Wem fürs ultimative Fantum die Verve abhandenkommt, macht Platz für neue, engagierte Kräfte. Das Projekt zählt mehr als die persönlichen Befindlichkeiten.
So wie der Stadtteil selbst in Zeiten galoppierender Mieten und fortschreitender Gentrifizierung nach wie vor als bunter Flickenteppich sozialer Gegensätze durchgeht, in dem Millionäre, Nutten, Werber, Junkies und Künstler in friedlicher Koexistenz leben, ist auch das Stadion ein Ort konträrer Strömungen geblieben. Während USP auf der Südtribüne für seine Anhänger einen unmissverständlichen Anspruch formuliert, will der „Nord-Support“ (Motto: „Der Norden muss laut sein“) auf der gegenüberliegenden Seite eher ein Angebot an die Fans sein. Wer Lust hat, Stimmung zu machen, ist herzlich eingeladen, wer lieber am fanklubeigenen Kiosk im rechten Eck der dem Bunker zugewandten Tribüne steht, bitte sehr.