Laut Fifa haben Diego Maradona, Michael Owen und Pelé die schönsten Tore aller Zeiten geschossen. Aber stimmt das eigentlich?
Prof. Dr. Stefan Krankenhagen, Jahrgang 1969, ist Professor für Kulturwissenschaft an der Universität Hildesheim und Mitgründer des Fußballfilmfestivals „11mm“. In seinen Seminaren geht er u.a. der Frage nach, was ein schönes Tor ist.
Prof. Dr. Krankenhagen, wann haben Sie das letzte schöne Tor Ihres Lieblingsvereins 1860 München gesehen?
Ich erinnere mich gerne an das Tor von Thomas Riedl am 27. November 1999 kurz vor Schluss gegen die Bayern. Es war allerdings kein schönes Tor, sondern ein Gewaltschuss aus 20 Metern. Nach 22 Jahren entschieden wir wieder ein Derby für uns. Ausgerechnet an diesem historischen Tag musste Werner Lorant wegen vorheriger Eskapaden auf der Tribüne Platz nehmen. Nach Riedls Tor schleuderte er wutschnaufend die Wärmedecke auf den Boden. Wie gesagt: Der Tag war eher von Gewalt geprägt als von Schönheit.
Wenn Gewaltschüsse keine schönen Tore sein können – welche Art von Toren betrachten Sie als schön?
Die schönen Tore des Fußballs haben vor allem etwas mit Körpern zu tun. Es geht dabei sowohl um den einzelnen Körper, der die Fähigkeit besitzt, sich auf ganz besondere Art und Weise zu bewegen, als auch darum, durch diese Bewegungen andere Körper mitzubewegen. Wir sprechen also von einem Tanz – und davon, dass eine Bewegung immer eine Gegenbewegung hervorruft.
Sie sprechen von Toren, bei denen ein Spieler mehrere Gegner austanzt?
Im weiteren Sinne. Es ist auffällig, dass bei vielen Traumtor-Rankings oft Sololäufe auf den ersten Plätzen rangieren. Sicherlich sind Listen á la „Die schönsten Tore aller Zeiten“ kritisch zu betrachten. Aber schauen wir uns zum Beispiel die von der FIFA durchgeführte Abstimmung zum „Tor des Jahrhunderts“ an, so finde ich das Ergebnis schon bemerkenswert. Diego Maradona (1986 gegen England, d. Red.), Michael Owen (WM 1998 gegen Argentinien, d. Red.) und Pelé (1958 gegen Schweden, d. Red.) belegen die ersten drei Plätze. Alle drei Tore fallen nicht plötzlich, sondern entwickeln sich zusehends. Bei allen drei Treffern gibt es die Situation „Einer gegen viele“. Diese Ungleichheit sehen wir. Das ist eine Eigenschaft, die Distanzschüsse von Roberto Carlos zum Beispiel nicht besitzen.
Können Sie die Eigenschaften der drei genannten Tore genauer beschreiben?
Der Raum spielt eine wichtige Rolle. Es geht um einen Körper, der in einem begrenzten Raum gegen andere agieren muss. So wird etwas für die Zuschauer sichtbar, das viel mehr ist als nur das Tor: Es zeigt vielmehr, wer dieses vermeintlich einfache „Ball am Fuß“ außergewöhnlich beherrscht. In diesem Moment der Sichtbarkeit findet eine Figuration statt, wir werden Zeuge von der Virtuosität eines Spielers, der allen anderen überlegen ist.
Mit was kann man das vergleichen?
Vielleicht mit dem Zirkus, Dort ist der virtuose Körper ebenfalls das entscheidende Element. Es geht um die Beherrschung des Körpers in Grenzen hinein, die unfassbar sind. Man glaubt nicht, dass es möglich ist – und doch passiert es.
Sie sprechen von dem einen Spieler, der es mit allen anderen aufnimmt und schlussendlich siegreich ist. Welche Emotionen rufen solche Konstellationen beim Zuschauer hervor?
Gerade aufgrund der Unwahrscheinlichkeit eines Torerfolges setzt am Ende ein Gefühl der Befriedigung und Begeisterung ein. Es zeigt uns also eine Grundkonstellation unseres Lebens. Der Einzelne, wie es der Philosoph Odo Marquard einmal sagte, ist derjenige, der es am Ende ausbaden muss. Der das System ins Wanken bringen kann.
Was meinen Sie damit?
Wir reden stets von einer gemeinsamen Kultur, und davon, dass wir eingebundene, dialogische Wesen sind, in Wahrheit ist der Einzelne aber eine Entität. Er lebt mit keinem anderen Menschen in einer tatsächlichen Beziehung. Das Individuum empfindet eine Art Gegnerschaft gegenüber Gruppen. Ein Lauf wie der von Maradona 1986 zeigt uns, dass der Einzelne bei aller offensichtlicher Unterlegenheit gegen eine Gruppe, die ein System darstellt, siegen kann. Ein Tor wie dieses begeistert und befriedigt uns, weil es den Glauben an Individualität suggeriert.