Andreas „Lumpi“ Lambertz könnte am Samstag seinen persönlichen Durchmarsch von der vierten in die erste Liga perfekt machen. Zusammen mit seinem Kumpel Axel Bellinghausen hofft er auf einen Einsatz im Spiel gegen Stuttgart. Es wäre das Happy End einer märchenhaften Geschichte.
Schon morgens scheint die Sonne über Düsseldorf und alle, die gerade Sommerferien haben, fahren mit der U78 raus zum Freibad. Die Endstadion heißt: Esprit Arena/Messe Nord. Nur ein paar Meter entfernt vom überfüllten Schwimmbecken laufen die Fortuna-Spieler über den Trainingsplatz. Cheftrainer Norbert Meier hat das Training extra eine halbe Stunde nach vorne verlegt. Jeder würde es verstehen, wenn es die Spieler etwas ruhiger angehen ließen, aber Mannschaftsbetreuer Aleks Spengler wird hinterher sagen: „Der Axel macht gerade eher etwas zu viel.“ Einen Tag zuvor ist das Mannschaftsfoto entstanden, immer eine wichtige Momentaufnahme in diesem unbeständigen Geschäft. Zu sehen waren viele unbekannte Gesichter und zwei altbekannte: Andreas Lambertz und Axel Bellinghausen. Oder wie die Fans sagen würden: Lumpi und Bello.
Die schönste Wiedervereinigung seit der von Deutschland und Helgoland
Es ist in diesen Tagen schwierig, einen Termin mit ihnen zu bekommen. Sie gelten als die emotionalen Leader, wie das in moderner Jogi-Löw-Diktion heißt, sollen einem runderneuerten Team auf die Sprünge helfen. Sie sind die Spieler, die den Klub am besten kennen und genau wissen, wo er herkommt. Dass die beiden wieder zusammenspielen, ist vielleicht die schönste Wiedervereinigung seit der von Deutschland und Helgoland. Zwischen 2003 und 2005 kickten sie bereits gemeinsam für ihren Herzensklub, in den Untiefen der 4. und 3. Liga. Die Heimspiele fanden im kleinen Paul-Janes-Stadion statt. Der Mann, der gerade eher etwas zu viel macht, sagt: „Der Flinger Broich ist unser Wohnzimmer, dort haben wir das Laufen gelernt.“ Mit 22 Jahren ist Bellinghausen zum 1. FC Kaiserslautern gewechselt, wurde wenig später zum Kapitän befördert und damit Erbe des großen Fritz Walter. Die sieben Jahre, in denen Bellinghausen weg war, hing trotzdem bei jedem Fortuna-Heimspiel ein Plakat in der Kurve: „Axel Lumpi“. Lambertz ist die ganze Zeit bei Fortuna geblieben, obwohl er damals auch beim FCK auf der Liste stand. So lange ist er schon da, dass er jetzt in der Kabine schon mal von „früher“ erzählt und hinterher fragt: „Weißte noch?“ Und dann antwortet ihm meistens irgendjemand: „Nein, da war ich noch nicht da.“
„Es war, als wollten alle einen Teil von dir haben.“
Ihren ersten Aufstieg feierten Lambertz und Bellinghausen am 28. April 2004. Zusammen sangen sie: „Nie meehr Oberligaaa“. Es war am Flinger Broich, im Schatten der Müllverbrennungsanlage, und sie spürten in dieser Zeit, zu welcher großen Liebe die Fortuna-Fans fähig sind. Damals trugen sie das Trikot mit „Monkey’s“-Affen, den der Düsseldorfer Künstler Jörg Immendorff entworfen hatte. Die Fans rissen es ihnen beim Platzsturm einfach vom Leib. Lambertz sagt: „Es war, als wollten alle einen Teil von dir haben.“ Bellinghausen erinnert sich noch genau daran, wie Stadionsprecher Dieter Bierbaum sagte: „Das Spiel in Velbert ist beendet, die Fortuna ist aufgestiegen.“ Und so wie der gestandene Bundesliga-Profi davon erzählt, klingt das fast, als spräche er von Genscher und der Deutschen Botschaft in Prag. Sie feierten damals im Monkey‘s Island, dem Stadtstrand im Medienhafen.
Massimo Morales, zuvor Übersetzer von Giovanni Trapattoni beim FC Bayern München, war ihr Trainer. Seine größte Leistung: Er dosierte die Einsatzzeiten der jungen Spieler sorgfältig. Einmal, vor dem Spiel bei PSI Yurdumspor Köln, gab er Bellinghausen einen ganzen Tag frei. Mit der Begründung: „Er sah sehr müde aus, kein Wunder wegen der Doppelbelastung durch Fußball und Zivildienst.“ Präsident Charly Meyer hatte dem 20-Jährigen eine Zivildienststelle besorgt, die sich mit dem täglichen Training vereinbaren ließ. Sonst wäre es womöglich gar nichts geworden mit der großen Karriere. Der Jungprofi betreute neun Monate lang nebenbei geistig behinderte Menschen, die in einer offenen Wohngruppe in Flehe zusammenlebten und tat das mit großer Hingabe. Nachdem er zuvor bei Bayer 04 Leverkusen aussortiert worden war, genoss er die familiäre Fortunawelt und nahm es anfangs sogar auf sich, aus Königswinter anzureisen. Es waren zwei talentierte Spieler, die unter besonderen Umständen zusammenkamen: bei einem abgestürzten Traditionsverein.
Lambertz wirkt manchmal noch wie der junge Lumpi. Zumindest wenn er vom Platz kommt, die Schuhe auszieht und die Socken qualmen.
Wenn man mit ihm am Tisch sitzt, merkt man aber schnell, dass er genau das ist, was manche Trainer einen Führungsspieler nennen. Sein erster Weg, nachdem er Kapitaän geworden war, führte ihn in das Büro von Sportsamtsleiter Udo Skalnik. Seitdem dürfen die Fortuna-Spieler vor ihrer Umkleidekabine parken, statt hinter dem Schwimmbad oder neben der Tartanbahn. Wenn der Oberbürgermeister zum Training kommt, früher Erwin, jetzt Elbers, ist er ein Meister des Smalltalks. Und als es beim Relegationsspiel gegen Hertha BSC zum vorzeitigen Fan-Erguss kam, hat er in vorderster Front versucht, die Fans wieder zurück auf die Tribüne zu schicken. Es gibt ein berühmtes Foto, auf dem er einen jungen Mann in einem alten Fortuna-Trikot anschreit. So wütend hat man ihn eigentlich selten gesehen.
„Würde auch eher Rivaldo anspielen als den Lumpi.“
Lambertz wächst mit den Herausforderungen, das war schon immer so. Er hat sein größtes Spiel 2005 bestritten, als „local player“ in einer Weltauswahl. Nach dem Benefizkick gegen Zinedine Zidane in der damaligen LTU-Arena sagte er: „Ich wäre nur gerne häufiger an den Ball gekommen, aber ich kann die Jungs verstehen. Wenn ich ein Profi aus Russland oder Serbien wäre, würde ich auch eher Rivaldo anspielen als den Lumpi.“ 2014, wenn sein Vertrag endet, wäre Lambertz elf Jahre bei der Fortuna. „Wo soll ich denn hin“, fragte er nach der neuerlichen Signatur und ergänzte: „Und warum sollte ich jetzt wechseln?“ Der Mann, der in Grevenbroich aufgewachsen ist, hat in der vergangenen Saison wunderbare Tore geschossen, aber er hat auch viele leichte Fehler gemacht, wie immer. In Düsseldorf trägt ihm die Fehler keiner nach. Fortuna-Manager Wolf Werner bemerkte bereits im Sommer 2008, ein Jahr zuvor von Werder Bremen gekommen: „Selbst als wir schlecht gespielt haben, wurde er aus den Blöcken gefeiert.“ Die Fans sagen: Ein Spieler, der so viel läuft wie der rot-weiße Kenianer, macht eben auch häufiger etwas falsch. Lambertz legte in der vergangenen Spielzeit die Kilometer zurück, die ältere Fortuna-Helden nicht mehr schafften. Ob er bei der Fortuna bleibt, war ein ständiges Thema. Im Winter 2006 sagte Finanzvorstand Werner Sesterhenn: „Ein Verkauf Lumpis kommt nicht in Frage. Den fesseln wir an einen Baum.“ Im Sommer 2008, nach einer schwachen Serie, riefen die Fans: „Außer Lumpi könnt ihr alle gehen.“ Doch der war sich schon mit dem VfL Osnabrück einig, damals eine Klasse höher als die Fortuna.
Gassi gehen mit Jörg Albertz
Trainer Pele Wollitz hatte ihn bei einem Treffen überzeugt. Lambertz ließ sich von Geschäftsführer Paul Jäger noch einmal umstimmen, in einem Telefonat. Er wollte nicht liegen lassen, was er sich aufgebaut hatte, sagt er heute. Kurz darauf machte ihn Trainer Norbert Meier zum Spielführer, zum Mann mit der Schleife, wie Bellinghausen sagen würde. Bevor er im vergangenen Herbst noch einmal verlängerte, traf er sich häufiger mit Jörg Albertz, dem besten Spieler, mit dem er je bei Fortuna zusammenspielte. Lambertz gerät ins Schwärmen, wenn er von dessen Laufbahn erzählt. Dabei ist der frühere Kollege das genaue Gegenteil von ihm: Er hat beim Hamburger SV, bei den Glasgow Rangers und in Shanghai gespielt. Lambertz sagt: „Ali ist auch ein großer Hundefreund und wohnt bei mir in der Nähe. Bei einem Spaziergang kann man viel besprechen.“
Während Lambertz das Trikot mit dem Zeichen der Stadt-Sparkasse Düsseldorf zu Markte trug, warb Bellinghausen für die Deutsche Vermögensberatung, den Sportshop SC24.com und AL-KO. Er hat seinen früheren Klub im Herzen getragen. Einmal, als er mit dem 1. FC Kaiserslautern mit dem Bus nach Freiburg fuhr, wollten seine Kollegen eine DVD sehen. Er aber entschied, dass sie Fortunas Aufstiegsfinale gegen Werder Bremen II sehen wollten. Als der Aufstieg perfekt war, gratulierten ihm seine Mitspieler, als sei er mit aufgestiegen. Beim Schlusspfiff brüllten alle: „Jawoll, Axel!“
„Oh, Scheiße! Reh!“
Bellinghausen spielte auch für den FC Augsburg so, dass man ihn eigentlich gar nicht gehen lassen wollte. Im ersten Jahr standen sie als Zweitligist im Pokal-Halbfinale, im zweiten stiegen sie in die Bundesliga auf und im dritten schafften sie den Klassenerhalt, den ihnen niemand zugetraut hatte. Und als er mit dem FC Augsburg gegen den FC Bayern spielte, sprach ihn Bastian Schweinsteiger an – auf sein amtliches Kennzeichen. Freundin Silvana, gebürtige Düsseldorferin, fuhr mit A – FD 1895 durch Augsburg, er mit A – XL 1895, das hatte sich bis zum Nationalspieler herumgesprochen. Der Publikumsliebling mit dem linken Fuß, ebenfalls Hundefreund, unterhielt zuletzt sogar eine tägliche Radio-Kolumne auf „Radio Fantasy“. Titel: Gassi gehen mit Bello. Immer wenn er mit seinem Hund unterwegs war, ließ er sich telefonisch zu seinem Tag befragen. Einmal nahm dieser während des Gesprächs Witterung auf. Bellinghausens einzige Worte, die über den Sender gingen, waren: „Oh, Scheiße! Reh!“ Es war das kürzeste Interview in der Geschichte des schwäbischen Lokalfunks.
Die beiden Männer, die irgendwie auch wie Hunde heißen, sind wieder zusammen. Sie sind die Integrationsfiguren für die erste Erstligasaison nach 15 Jahren. Im September geht es gegen Borussia Mönchengladbach und den FC Schalke 04. Die Bundesliga, in der die beiden Himmelhunde spielen, ist ein gut zementiertes Konstrukt. Es hilft auch nichts, dass die Deutsche Fußball-Liga und der Deutsche Fußball-Bund von Fortuna-Fans angeführt werden. Tom Bender ist DFL-Geschäftsführer, Wolfgang Niersbach DFB-Präsident. Die anderen Klubs werden ihnen nichts schenken. 18 neue Spieler hat die Fortuna vor der Saison geholt, der teuerste Neuzugang war der Mannschaftsbus für 500.000 Euro. Zusammenhalten sollen den Laden die beiden Kapitäne. Die Erwartungen gerade an Bellinghausen sind groß. Er sagt: „Ich kann es selbst kaum glauben, dass es schon sieben Jahre her ist. Und, ja, ich habe jetzt das Gefühl, nach Hause zu kommen.“ Er hat während der Wanderjahre in der Pfalz und in Schwaben ein sportliches Niveau erreicht, das begeisternde Flankenläufe erwarten lässt.
Werden sie die neuen Helden der Sportschau?
Die Männer, die so wenig angepasst sind an den Bundesliga-Betrieb und deren Spiel anarchische Züge trägt, haben das Zeug, zu Helden der „Sportschau“ zu werden, aber sie haben auch ein schweres Paket zu tragen. Die Menschen in der Stadt lieben sie so sehr, dass sie aufpassen müssen, dass sie nicht erdrückt werden. Im Interviewraum nach dem Training spielen sie die Sonderbehandelung herunter. Bellinghausen sagt: „Wir sind keine Tennisspieler oder Golfer. In unserem Kader hat jeder seine eigene Geschichte.“ Und Lambertz ergänzt: „In der Kabine sitzen Spieler, die 100 Bundesliga- Spiele mehr gemacht haben als ich oder sieben Jahre älter sind.“ Wenn man ihre Namen nacheinander bei Ebay eingibt, gewinnt Bellinghausen gegen Lambertz mit 23:4. Im Unterhaus gab es halt keine Panini-Sticker – oder „Match Attax“-Cards. Bellinghausens Werte darauf lauteten: Zweikampf 39, Kopfball 57, Stellungsspiel 50, Schuss 57, Pass 30, Flanke 66.
Es ist halb eins geworden, die Sonne knallt jetzt richtig. Der Mann, der gerade eher etwas zu viel macht, fährt nach dem Training noch eine Zusatzrunde mit dem Mountainbike, mit Fahrradhelm. Und der Mann, der schon vor neun Jahren am Flinger Broich dabei war, kommt als Letzter aus der Kabine: Aleks Spengler. Der Zeugwart hat sie schon als junge Kerle erlebt. Er hat ihnen einmal sogar geholfen, aus dem Mannschaftshotel auszubüchsen und sich auf die Oberkasseler Kirmes zu schleichen. „Wir haben drei Deckel rundgetrunken, sind auf den Eurostar gestiegen und dann noch mit der Fähre in die Altstadt“, hat Bellinghausen in der Fortuna-Doku „Nie mehr Oberliga“ erzählt, und dass Trainer Uwe Weidemann es nie erfahren habe. Spengler sagt, dass die zwei für ihn das Herzstück der neuen Mannschaft sind. Sollten sie in dieser Saison den Klassenerhalt schaffen, werden sie vielleicht wieder in Oberkassel feiern. Das „Monkey‘s Island“ ist ja schon etwas länger geschlossen. Und über der Kirmes schwebt inzwischen ein riesiges Fortuna-Logo. So ändern sich die Zeiten.
—— Info: Der Text unseres Autors Thorsten Schaar erschien bereits im Düsseldorfer Stadtmagazin „Düsseldorf im Überblick“.