Kaum zu glauben, aber auch Gary Lineker wird älter. Vor 60 Jahren kam er zur Welt – und vor 34 Jahren feierte er seine zweite Geburt.
Irgendwann kommt die Enttäuschung. Das ist bei jedem Fußballfan so. Er wird enttäuscht von seiner Mannschaft, die absteigt oder ein wichtiges Finale verliert. Oder von diesem verrückten Funktionär, der den Verein an den Rande des Ruins führt. Und natürlich wird er auch enttäuscht von vielen Helden der Jugend, die sich im Alter als Narzissten, Egoisten und manchmal sogar als Querdenker entpuppen.
Gary Lineker ist einer der wenigen Akteure aus dem Fußballgeschäft, der würdevoll von seiner aktiven Profi-Karriere in seine Ex-Profi-Karriere geglitten ist.
Er hat in seinen über 600 Pflichtspielen nie eine Gelbe oder Rote Karte gesehen. Er hat vier Söhne, er ist ein freundlicher und engagierter Mann, der als Botschafter für „Show Racism the Red Card“ auftritt. Er hat die Bundesliga 2017 vor RB Leipzig gewarnt („Wenn ihr nicht aufpasst, wird Leipzig euer Chelsea!“). Er hat angekündigt, Geflüchtete bei sich aufzunehmen („Mein Kinder sind alle aus dem Haus, ich habe einige freie Räume“). Er kritisiert den Brexit. Er ist der Urheber eines der meist zitierten Fußball-Bonmots („Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen immer die Deutschen“). Er hat Leicester City vor der finanziellen Pleite bewahrt, in der aktuellen Corona-Pandemie hat er 140.000 Pfund an das Rote Kreuz gespendet. Keine Skandale, keine Saufgeschichten, keine Prügeleien. „Mr. Nice Guy“ nennen sie ihn in England, und er ist so nice und perfekt, dass einige ihn sehr gerne hassen wollen.
„Das Problem mit Lineker: Er ist immer ein wenig besser, als du es eigentlich vermutet hast“
Im Guardian probierten sie das immer wieder mal. 2001 etwa schrieb die Journalistin Lynn Barber: „Ich habe wirklich versucht, ihn zu hassen, aber das ist das Problem mit Lineker: Er ist immer ein wenig besser, als du es eigentlich vermutet hast.“
2005 versuchte es der Guardian-Autor Simon Hattenstone erneut mit einem Rant: „Bei seinem letzten Länderspiel, 1992, nahm ihn Trainer Graham Taylor vor dem Abpfiff vom Feld und verhinderte, dass er Bobby Charltons Torrekord einstellt. Es gab einen großen Aufschrei. Aber vielleicht wollte Taylor einfach nicht, dass Charltons Rekord an einen selbstgefälligen Dieb wie Lineker ging.“ Lineker, so resümierte Hattenstone, rede zu viel und sei auch gar nicht so lustig, wie man denke.
Na gut. Geschmacksache. Neulich aber antwortete Lineker auf Donald Trumps Tweet „I won the election“ mit diesem Satz: „I won the World Cup“. Und das kann man drehen und wenden, wie man will: Das war ziemlich lustig.
1986 war Lineker war nah dran, eine WM und eine Meisterschaft zu gewinnen. Aber am Ende zerstörten Liverpool und Diego Maradona seine Hoffnungen.
In jenem Sommer sah ich Gary Lineker zum ersten Mal. Jeden Tag nahm mich ZDF-Reporter Rolf Kramer mit auf eine Traumreise nach Mexiko. Es war das Turnier, das die Stars zurückbrachte: Scifo, Platini, Maradona, Socrates – und Lineker. Kurz vor Turnierbeginn hatte er sich in einem Testspiel eine Handgelenksverletzung zugezogen. In Mexiko spielte er mit einem weißen Verband am linken Unterarm. Ich kannte die Gründe damals nicht, aber es machte aus ihm, der eigentlich aussah wie ein braver Geografiestudent, einen wagemutigen Abenteurer. Er kämpfte gegen die beinharten Verteidiger aus Marokko und die 1000 Sonnen Monterreys. Wenn ich heute an die WM 1986 denke, sehe ich Burruchagas Laufduell mit Briegel, Negretes Seitfallzieher an der Strafraumgrenze und Linekers Jubel nach seinen drei Toren gegen Polen, nach denen er vor Freude die Arme hochwirft und darauf achtet, dass seine lädierte Hand nicht gegen den Pfosten oder seine Mitspieler stößt.
England hatte in den ersten zwei Gruppenspielen gegen Portugal (0:1) und Marokko (0:0) kein Tor geschossen. Vor dem entscheidenden Spiel gegen Polen war klar, dass Trainer Bobby Robson einen Stürmer wechseln würde: Gary Lineker oder Mark Hateley.
Es sei großes Glück gewesen, dass Robson ihn auch im dritten Spiel von Anfang an spielen ließ, sagte Lineker später. „Es war das Spiel, das mein Leben verändert hat.“ Denn ab da lief es, im Achtelfinale gegen Paraguay traf Lineker doppelt, und im Viertelfinale gegen Argentinien machte er ein weiteres Tor. Was wäre noch möglich gewesen, wenn Maradona nicht die Hand zu Hilfe genommen hätte?