Wales hatte jahrelang zu wenige Fußballtalente. Dann durchforsteten zwei Männer die Stammbäume englischer No-Names. Beide gelten heute als heimliche Väter des EM-Erfolges.
Am Montagabend konnten die walisischen Nationalspieler ihre Häme nichtzurückhalten. Im Internet kursiert ein Video, das die Fußballer beim internen Rudelgucken der Achtelfinal-Partie England gegen Island im Hotel zeigt. Beim Abpfiff brechen alle Dämme. Die Waliser schreien und bilden eine Jubeltraube. England raus und das kleine Wales nach dem 1:0‑Erfolg über Nordirland plötzlich der einzige britische EM-Teilnehmer.
Heimliche Helden: John Toshack und Brian Flynn
Wer hätte das noch vor wenigen Wochen gedacht? Zahlreiche Medien hatten die englische Nationalmannschaft mit Lob überhäuft und sie zum Mitfavoriten auf den EM-Titel erklärt. Wales dagegen wurde eher in einem Atemzug mit Albanien, Island, Irland oder eben Nordirland erwähnt – im Kontext der Aufstockung der Europameisterschaft von 16 auf 24 Teams.
Die Stimmung hat sich gedreht: Während in England das Scherbengericht des Fußballs tagt, wird das walisische Team abgefeiert. Dabei mutet dieser Gegensatz durchaus kurios an, stammen doch gleich neun aktuelle walisische Nationalspieler aus England. Dass sie heute für Wales auflaufen, liegt vor allem an zwei Männern: John Toshack und Brian Flynn.
„Wenn dein Hund walisische Wurzeln hat, findet er das raus!“
Als der ehemalige Liverpool-Profi Toshack 2004 zum zweiten Mal walisischer Nationaltrainer wurde, installierte er kurze Zeit später seinen Kumpel und ehemaligen Mitspieler Flynn als Nachwuchschef. Flynn sollte sowohl die U21 trainieren, als auch talentierte walisische Spieler auftreiben – notfalls über die Landesgrenzen hinaus. „Unser Plan war, Spieler zu finden, die irgendetwas mit Wales zu tun hatten“, sagte Toshack vor der EM dem „Telegraph“ und fügte an: „Brian war brillant darin. Wenn dein Hund walisische Vorfahren hätte, würde Flynny es wissen!“
Zwischen 2004 und 2010 tingelte Flynn im Auftrag Toshacks durch die Stadien und über die Sportpätze in Wales und England. Immer auf der Suche nach Spielern, die auch nur im entferntesten etwas mit Wales zu tun hatten – und die es in den meisten Fällen selber gar nicht wussten.
In Stockport, einer Stadt südöstlich Manchester, wollte Flynn 2007 beispielsweise eigentlich nur einen talentierten walisischen Torwart beobachten: den heutigen Stammkeeper Wayne Hennessy. Auf dem Spielbogen fiel ihm aber der Name Williams auf – seit jeher ein Nachname walisischen Ursprungs. „Flynn hat die Verwaltung der Stadt gebeten herauszufinden, ob Ashley Williams walisische Wurzeln hat“, erzählt Chris Wathan, der die Geschichte Flynns zuletzt in seinem Buch „Together Strong“ detailliert aufgeschrieben hat.
„Immer etwas komisch“
Als die Bestätigung kam, dass Williams Großvater mütterlicherseits aus Wales stammte, reiste Flynn wieder nach Stockport und überredete den Spieler, in Zukunft für Wales aufzulaufen. Nun, knapp acht Jahre später führt Ashley Williams Wales als Kapitän aufs Feld und sagt: „Es ist ein bisschen komisch, weil ich immer gehofft hatte, für England zu spielen. Nun gilt aber meine ganze Loyalität Wales.“
Ähnlich verfuhr Flynn auch bei anderen Spielern. „Zuerst hat er sich die auffälligsten Spieler der Vereine angeguckt und direkt danach nach ihrer Herkunft gefragt. Immer in der Hoffnung, dass es bislang noch kein anderer gemacht hat“, sagt Autor Wathan. Bei Sam Vokes und Hal Robson-Kanu (Wales’ erstem EM-Torschützen) fand Flynn ebenfalls heraus, dass sie walisische Großeltern hatten.
„Ich fühlte mich eher als Engländer“
Bei anderen, wie etwa David Edwards, ist ein Elternteil walisisch. Edwards sagt: „Ich bin nur wenige Kilometer von der walisischen Grenze aufgewachsen. Mein Vater fühlte sich eher als Waliser, ich mich eher als Engländer.“ Das änderte sich, als Flynn auftauchte und Edwards mithilfe des Vaters überredete, doch mal bei Wales mit zu trainieren. „Wenige Wochen später spielte ich für Wales“, so Edwards. Insgesamt haben vier aktuelle Nationalspieler walisische Eltern, fünf weitere walisische Großeltern. Es lohnte sich für Flynn also, den Stammbaum durchzugehen.
Natürlich spielte ihm bei der Arbeit auch die Geographie des Vereinten Königreiches in die Karten. Die Berechtigung, für mehrere Nationen zu spielen, ist auf der Insel nicht unüblich. Gareth Bale hätte aufgrund englischer Vorfahren auch für die „Three Lions“ auflaufen können, entschied sich aber für sein Mutterland Wales. Allerdings waren Toshack und Flynn die ersten, die den Umstand der gemeinsamen Vorfahren bewusst für das eigene Land auszunutzen wussten.
Die Väter des Erfolgs sind schon längst nicht mehr dabei
„Die beiden haben weniger nach besonders talentierten Spielern gesucht als nach Team-Spielern, die unbedingt auf dem Platz stehen wollen“, sagt Chris Wathan. Auch deshalb werden Toshack und Flynn in Wales heute als geheime Väter des Erfolgs gesehen – obwohl sie nichts mehr mit dem walisischen Fußball zu tun haben. Toshack trat 2012 nach Querelen mit dem Verband als Nationaltrainer Mazedoniens zurück und ist arbeitslos. Flynn scoutet für den FC Everton in England. Dass der aktuelle Nationaltrainer Chris Coleman aber von ihrer Arbeit profitiert, ist unumstritten.
Auch die Spieler verweisen gerne auf die Zeit, in der ein Großteil entdeckt und in die U21 berufen wurde. 16 Spieler (des aktuellen 23-Mann-starken Kaders) spielten schon unter Flynn zusammen. Gareth Bale erklärte kürzlich, die Mannschaft sei eine eingeschworene „Band of Brothers“. Und Andy King von Englands Überraschungsmeister Leicester sagte: „Wir kennen uns fast alle seit unserem 16. Lebensjahr. Wir sind eine stolze Nation und kämpfen für Wales.“
„100 Prozent. Für Wales“
Natürlich kommt auch King ursprünglich aus England, genauer gesagt aus Barnstable, einer Kleinstadt im Südwesten der Insel, sagt aber heute: „Wenn wir das Wales-Trikot anziehen, wollen wir zu 100 Prozent gewinnen. Für unser Land.“ Vermutlich ist es dieser Zusammenhalt, der Wales bei dieser EM so weit gebracht hat. Weiter als den großen Nachbarn England, für den sie eigentlich spielen wollten.