Heute vor 30 Jahren gab Francesco Totti sein Debüt für die Roma. Trotz obszöner Offerten anderer Vereine blieb er immer bei seinem Jugendverein. Über den ewigen Spieler in der ewigen Stadt.
Dieser Text erschien erstmals im Jahr 2017 in 11FREUNDE #187. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Trainer Luciano Spalletti ist fassungslos. Der Glatzkopf auf der Bank des AS Rom kann nicht glauben, was ihm die Fans aus der Kurve zurufen. Hat er sich vielleicht verhört? Nein, sie beschimpfen ihn tatsächlich. Soeben hat die Roma auswärts das Prestigeduell beim AC Mailand mit 4:1 gewonnen. Der Hauptstadtklub bleibt Tabellenzweiter, ist drei Spieltage vor Ende der Saison 2016/17 auf Champions-League-Kurs. Doch die römischen Tifosi sind stinksauer auf ihren Coach.
Daniele De Rossi hat in der 87. Minute per Elfmeter den vierten Treffer erzielt und alles klar gemacht. Spalletti, so meinen die aufgebrachten Anhänger, hätte in der verbleibenden Spielzeit durchaus noch die Möglichkeit gehabt, den Mann einzuwechseln, der sich nun mit versteinertem Gesicht auf den Weg von der Ersatzbank in die Katakomben des Giuseppe-Meazza-Stadions macht. Sein Name: Francesco Totti.
„Es ist leichter, das Kolosseum aus Rom zu entfernen als Francesco Totti“
Der Trainer hätte wissen müssen, worauf er sich einlässt, als er im Januar 2016 nach Rom zurückkehrte. Ab 2005 hatte der 58-Jährige schon einmal vier Jahre die Giallorossi trainiert und dabei lernen müssen, dass es entgegen allgemeingültiger Meinung eben doch Fußballspieler gibt, die größer als ihr Verein sein können. Spalletti hat eingesehen, was schon viele Übungsleiter der Roma seit 1993 akzeptieren mussten. Er sagt: „Es ist leichter, das Kolosseum aus Rom zu entfernen als Francesco Totti.“
Treffender lässt sich nicht beschreiben, welchen Stellenwert der inzwischen 40-jährige Offensivspieler in seiner Heimatstadt genießt. Der Junge aus dem Mietshaus im Hinterhof der Via Vetulonia 18 im Arbeiterviertel San Giovanni ist im Laufe seiner 24 Profijahre auf Überlebensgröße gewachsen. Totti ist ein Monument. Unverrückbar. Bedingungslos verehrungswürdig. Ein Solitär. Für immer und ewig mit seiner Stadt, ihren Menschen und dem Verein verbunden, für den er seit frühester Jugend spielt.
sechs Monate und 29 Tage alt war Francesco Totti, als er am 28. März 1993 unter dem serbischen Coach Vujadin Boskov gegen Brescia Calcio (Endstand 2:0) sein Serie-A-Debüt für den AS Rom gab. Im Kader der Römer stand damals noch Thomas Häßler. Vier Jahre zuvor war Totti zu den Giallorossi gewechselt, nachdem bereits Lazio-Späher die Fühler nach ihm ausgestreckt hatten. Der Legende zufolge soll aber seine Mutter Fiorella den Scouts des Ortsrivalen an der Wohnungstür des Appartments im ersten Stock des Hinterhofs in der Via Vetulonia 18 ziemlich unfreundlich mitgeteilt haben, dass sie sich nie wieder blicken lassen sollten: „Mein Sohn geht nur zur Roma!“
Woran das liegt? Totti hat sich in den Augen seiner Fans den Gesetzen des flüchtigen Gewerbes stets verweigert. Als ihm Mitte der Nullerjahre obszöne Offerten von Real Madrid, Manchester United und dem verhassten AC Milan auf den Tisch flatterten, beherzigte er den Rat des Kurienkardinals Fiorenzo Angelini, der zu ihm sagte: „Francesco, denk nicht nur an Ruhm und Geld, bleib hier!“ Später gab Totti im Nuschelslang des römischen Ragazzo zu Protokoll, es sei ihm irgendwie auch meist zu anstrengend erschienen, den Klub zu wechseln und umzuziehen. Gottesfürchtigkeit, Ehrempfinden, Loyalität oder bloß eine metropolitane Trägheit, was es auch immer war, das ihn zurückhielt, die Heimat zu verlassen, seine Treue brachte ihm die innige Liebe der Roma-Fans ein. Eine Liebe, die keine Ansprüche stellt: Dass er blieb und brillierte, während die ganze Welt ihn umgarnte, gab den Tifosi das Gefühl, dass es sich lohnt, stolz auf diesen, ihren geschundenen Klub zu sein, der es in seiner 90-jährigen Geschichte auf gerade mal drei Meisterschaften gebracht hat.
Der begabteste Spieler, der je aus dem Verein hervorgegangen war, verzichtete darauf, bei Topklubs reihenweise Titel abzuräumen, dem internationalen Jetset-Leben zu frönen und seine Herkunft mit einem Weltbürgerstatus zu überschreiben. In diesen turbulenten Jahren sei ihm klar geworden: „Das Zuhause ist alles.“ Seine Entscheidung machte ihn – den gediegenen Kicker – nach den sieben Herrschern der Antike zum achten König Roms. Totti wurde il Capitano, der Kapitän für die Ewigkeit. Es gibt Roma-Fans, die überzeugt sind, der aktuelle Papst habe sich allein deshalb für den Namen „Francesco“ entschieden, weil dieser bereits vor seiner Inthronisation für die Römer durch Totti mit dem Heiligenstatus konnotiert gewesen sei.
Wem derartige Verehrung zuteil wird, verfügt zwangsläufig über Möglichkeiten, Vorgänge in seinem Sinne zu beeinflussen. Als Totti sich 2008 im römischen Bürgermeisterwahlkampf für den linken Kandidaten Francesco Rutelli aussprach, fragte Ministerpräsident Silvio Berlusconi in einer Ansprache: „Hat der nicht mehr alle Tassen im Schrank?“ Als der mondäne Bunga-Bunga-Politiker merkte, dass er auf diese Weise selbst ihm wohlgesonnene Kreise in der Hauptstadt gegen sich aufbrachte, entschuldigte er sich. Als Totti sich im Februar 2017 in die Diskussionen um ein vereinseigenes Stadion einschaltete und per Twitter verlauten ließ „Wir wollen ein modernes Kolosseum, eine Avantgarde-Arena für unsere Tifosi und alle Sportfreunde“, lud ihn die Bürgermeisterin auf den Kapitol, um den Sachverhalt mit ihm zu besprechen.
Obwohl ihm der Ruf des naiven Lausbubs vorauseilt, hat er stets Instinkt bewiesen, die Dinge in seinem Interesse zu lenken. Namhafte Trainer wie Fabio Capello, Luis Enrique, Claudio Ranieri und auch Rudi Völler können ein Lied davon singen. Der Deutsche gab seinen Job auf der Roma-Bank 2004 nach rekordverdächtigen 26 Tagen wieder auf. Seine Bilanz: „Die Mannschaft hört nicht auf mich.“ Auf wen sie hörte, ließ „Ruuudi“ offen. Wie viele Kollegen musste auch Völler erleben, dass Totti bei der Aufstellung mitsprach und Stimmungen im Team beeinflusste.