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Dieser Text erschien erst­mals im Jahr 2017 in 11FREUNDE #187. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhält­lich.

Trainer Luciano Spal­letti ist fas­sungslos. Der Glatz­kopf auf der Bank des AS Rom kann nicht glauben, was ihm die Fans aus der Kurve zurufen. Hat er sich viel­leicht ver­hört? Nein, sie beschimpfen ihn tat­säch­lich. Soeben hat die Roma aus­wärts das Pres­ti­ge­duell beim AC Mai­land mit 4:1 gewonnen. Der Haupt­stadt­klub bleibt Tabel­len­zweiter, ist drei Spiel­tage vor Ende der Saison 2016/17 auf Cham­pions-League-Kurs. Doch die römi­schen Tifosi sind stink­sauer auf ihren Coach.

Daniele De Rossi hat in der 87. Minute per Elf­meter den vierten Treffer erzielt und alles klar gemacht. Spal­letti, so meinen die auf­ge­brachten Anhänger, hätte in der ver­blei­benden Spiel­zeit durchaus noch die Mög­lich­keit gehabt, den Mann ein­zu­wech­seln, der sich nun mit ver­stei­nertem Gesicht auf den Weg von der Ersatz­bank in die Kata­komben des Giu­seppe-Meazza-Sta­dions macht. Sein Name: Fran­cesco Totti.

Es ist leichter, das Kolos­seum aus Rom zu ent­fernen als Fran­cesco Totti“

Luciano Spalletti

Der Trainer hätte wissen müssen, worauf er sich ein­lässt, als er im Januar 2016 nach Rom zurück­kehrte. Ab 2005 hatte der 58-Jäh­rige schon einmal vier Jahre die Gial­lo­rossi trai­niert und dabei lernen müssen, dass es ent­gegen all­ge­mein­gül­tiger Mei­nung eben doch Fuß­ball­spieler gibt, die größer als ihr Verein sein können. Spal­letti hat ein­ge­sehen, was schon viele Übungs­leiter der Roma seit 1993 akzep­tieren mussten. Er sagt: Es ist leichter, das Kolos­seum aus Rom zu ent­fernen als Fran­cesco Totti.“

Tref­fender lässt sich nicht beschreiben, wel­chen Stel­len­wert der inzwi­schen 40-jäh­rige Offen­siv­spieler in seiner Hei­mat­stadt genießt. Der Junge aus dem Miets­haus im Hin­terhof der Via Vetu­lonia 18 im Arbei­ter­viertel San Gio­vanni ist im Laufe seiner 24 Pro­fi­jahre auf Über­le­bens­größe gewachsen. Totti ist ein Monu­ment. Unver­rückbar. Bedin­gungslos ver­eh­rungs­würdig. Ein Solitär. Für immer und ewig mit seiner Stadt, ihren Men­schen und dem Verein ver­bunden, für den er seit frü­hester Jugend spielt.

16 Jahre

sechs Monate und 29 Tage alt war Fran­cesco Totti, als er am 28. März 1993 unter dem ser­bi­schen Coach Vujadin Boskov gegen Bre­scia Calcio (End­stand 2:0) sein Serie-A-Debüt für den AS Rom gab. Im Kader der Römer stand damals noch Thomas Häßler. Vier Jahre zuvor war Totti zu den Gial­lo­rossi gewech­selt, nachdem bereits Lazio-Späher die Fühler nach ihm aus­ge­streckt hatten. Der Legende zufolge soll aber seine Mutter Fio­rella den Scouts des Orts­ri­valen an der Woh­nungstür des Appart­ments im ersten Stock des Hin­ter­hofs in der Via Vetu­lonia 18 ziem­lich unfreund­lich mit­ge­teilt haben, dass sie sich nie wieder bli­cken lassen sollten: Mein Sohn geht nur zur Roma!“

Woran das liegt? Totti hat sich in den Augen seiner Fans den Gesetzen des flüch­tigen Gewerbes stets ver­wei­gert. Als ihm Mitte der Nuller­jahre obs­zöne Offerten von Real Madrid, Man­chester United und dem ver­hassten AC Milan auf den Tisch flat­terten, beher­zigte er den Rat des Kuri­en­kar­di­nals Fio­renzo Ange­lini, der zu ihm sagte: Fran­cesco, denk nicht nur an Ruhm und Geld, bleib hier!“ Später gab Totti im Nuschels­lang des römi­schen Ragazzo zu Pro­to­koll, es sei ihm irgendwie auch meist zu anstren­gend erschienen, den Klub zu wech­seln und umzu­ziehen. Got­tes­fürch­tig­keit, Ehr­emp­finden, Loya­lität oder bloß eine metro­po­li­tane Träg­heit, was es auch immer war, das ihn zurück­hielt, die Heimat zu ver­lassen, seine Treue brachte ihm die innige Liebe der Roma-Fans ein. Eine Liebe, die keine Ansprüche stellt: Dass er blieb und bril­lierte, wäh­rend die ganze Welt ihn umgarnte, gab den Tifosi das Gefühl, dass es sich lohnt, stolz auf diesen, ihren geschun­denen Klub zu sein, der es in seiner 90-jäh­rigen Geschichte auf gerade mal drei Meis­ter­schaften gebracht hat.

Der begab­teste Spieler, der je aus dem Verein her­vor­ge­gangen war, ver­zich­tete darauf, bei Top­klubs rei­hen­weise Titel abzu­räumen, dem inter­na­tio­nalen Jetset-Leben zu frönen und seine Her­kunft mit einem Welt­bür­ger­status zu über­schreiben. In diesen tur­bu­lenten Jahren sei ihm klar geworden: Das Zuhause ist alles.“ Seine Ent­schei­dung machte ihn – den gedie­genen Kicker – nach den sieben Herr­schern der Antike zum achten König Roms. Totti wurde il Capi­tano, der Kapitän für die Ewig­keit. Es gibt Roma-Fans, die über­zeugt sind, der aktu­elle Papst habe sich allein des­halb für den Namen Fran­cesco“ ent­schieden, weil dieser bereits vor seiner Inthro­ni­sa­tion für die Römer durch Totti mit dem Hei­li­gen­status kon­no­tiert gewesen sei.

Hat der nicht mehr alle Tassen im Schrank?“

Wem der­ar­tige Ver­eh­rung zuteil wird, ver­fügt zwangs­läufig über Mög­lich­keiten, Vor­gänge in seinem Sinne zu beein­flussen. Als Totti sich 2008 im römi­schen Bür­ger­meis­ter­wahl­kampf für den linken Kan­di­daten Fran­cesco Rut­elli aus­sprach, fragte Minis­ter­prä­si­dent Silvio Ber­lus­coni in einer Ansprache: Hat der nicht mehr alle Tassen im Schrank?“ Als der mon­däne Bunga-Bunga-Poli­tiker merkte, dass er auf diese Weise selbst ihm wohl­ge­son­nene Kreise in der Haupt­stadt gegen sich auf­brachte, ent­schul­digte er sich. Als Totti sich im Februar 2017 in die Dis­kus­sionen um ein ver­eins­ei­genes Sta­dion ein­schal­tete und per Twitter ver­lauten ließ Wir wollen ein modernes Kolos­seum, eine Avant­garde-Arena für unsere Tifosi und alle Sport­freunde“, lud ihn die Bür­ger­meis­terin auf den Kapitol, um den Sach­ver­halt mit ihm zu bespre­chen.

Obwohl ihm der Ruf des naiven Laus­bubs vor­aus­eilt, hat er stets Instinkt bewiesen, die Dinge in seinem Inter­esse zu lenken. Nam­hafte Trainer wie Fabio Capello, Luis Enrique, Claudio Ranieri und auch Rudi Völler können ein Lied davon singen. Der Deut­sche gab seinen Job auf der Roma-Bank 2004 nach rekord­ver­däch­tigen 26 Tagen wieder auf. Seine Bilanz: Die Mann­schaft hört nicht auf mich.“ Auf wen sie hörte, ließ Ruuudi“ offen. Wie viele Kol­legen musste auch Völler erleben, dass Totti bei der Auf­stel­lung mit­sprach und Stim­mungen im Team beein­flusste.

Luciano Spal­letti hoffte wohl, als er im Januar 2016 erneut das Trai­neramt über­nahm, dass sich das Pro­blem mit seinem mäch­tigen Füh­rungs­spieler gewis­ser­maßen bio­lo­gisch löst. Tottis Körper ist schon seit län­gerem nicht mehr für 90 Minuten aus­ge­legt: Sein linkes Sprung­ge­lenk wird von elf Schrauben zusam­men­ge­halten, nach einem Kreuz­band­riss und diversen Knie­be­schwerden plagen ihn chro­ni­sche Schmerzen in den Ober­schen­keln, die Band­scheiben machen Pro­bleme, in seinem linken Bein steckt ein Stück Eisen.

In der ver­gan­genen Spiel­zeit labo­rierte er unter einer Mus­kel­ver­let­zung, er kam nur in 13 Liga­spielen zu Kurz­ein­sätzen. Doch wenn er sich an der Außen­linie warm­machte, ging ein Raunen durchs spär­lich besetzte Stadio Olim­pico. Wie ein Phantom kam er zum Voll­stre­cken auf den Platz. Und mit all seiner Rou­tine und Intui­tion langte es trotz begrenzter Zeit noch für man­chen Genie­streich. Als wolle er mit jedem Tor, jedem Traum­pass beweisen, dass der pathos­schwan­gere Satz, den Gio­vanni Tra­pat­toni einst über ihn sagte, nach wie vor Gül­tig­keit besitzt: Man kann einem Picasso keine Vor­schriften machen.“ Kein Trainer, kein Spieler, kein Schieds­richter (WM-Final-Referee Nicola Riz­zoli soll von Totti in einem Spiel mehr­fach ange­brüllt worden sein: Leck mich am Arsch!“ Der gedul­dige Unpar­tei­ische zeigte ihm dafür die Gelbe Karte) – und auch nicht das Alter. Warum auch, denken sie sich im Land der Mut­ter­söhn­chen? Den töd­li­chen Pass ver­lernt man doch nicht. Luciano Spal­letti setzte ihn des­halb auch in der lau­fenden Saison behutsam in Szene.

Vom Hei­li­gen­schein zum Schleier

Wenn Fuß­ball­le­genden nicht recht­zeitig auf­hören, ver­lieren sie für die Öffent­lich­keit oft lautlos an Kon­turen. Ihre Aura ver­blasst. Der Hei­li­gen­schein, der den Vete­ranen eben noch umgab, ver­wan­delt sich in einen Schleier, Mit­spieler rücken in den Vor­der­grund, das Schein­wer­fer­licht dimmt langsam runter. Dann erkennt meist auch der sin­kende Stern, dass es Zeit wird, die Bühne zu ver­lassen. Und wenn der Vor­hang fällt, klat­schen alle glück­lich und schenken dem alternden Idol ein aller­letztes Mal ihren Applaus.

Bas­tian Schwein­steiger hat gezeigt, wie ein Profi auf cle­vere Weise seine Kar­riere etap­pen­weise run­ter­fährt. Philipp Lahm macht es noch ele­ganter: Er beendet die Lauf­bahn in der Über­zeu­gung, den eigenen Ansprü­chen zukünftig nicht mehr ent­spre­chen zu können – und im Range eines Top­spie­lers.

Gol­dene Brücke

In der ewigen Stadt jedoch gelten andere Gesetze. Der Trubel um den ewigen Totti lappt in Rom nach wie vor über in die Hys­terie, die sonst nur um einen Jung­star tobt. Der greise König hat offenbar nichts von seiner Fas­zi­na­tion ver­loren. In der Pres­se­kon­fe­renz nach dem Kan­ter­sieg gegen Milan Anfang Mai wirkte Coach Spal­letti regel­recht depri­miert: Ich bin belei­digt worden, weil ich Totti in dieser Saison oft nur fünf Minuten ein­ge­setzt habe, heute bin ich belei­digt worden, weil er nicht gespielt hat. Das nächste Mal werden wir die Fans den Kader bestimmen lassen.“ Offenbar ist ihm der Spaß am Job abhanden­gekommen: Es tut mir leid, dass diese Situa­tion ent­standen ist“, so Spal­letti weiter. Könnte ich es rück­gängig machen, hätte ich Roms Trai­ner­bank nie ange­nommen.“

Der Coach sollte besser die Nerven behalten, denn das nicht mehr für mög­lich gehal­tene Ende zeichnet sich ab. Am 28. Mai 2017, so ist es aus­ge­macht, wird Fran­cesco Totti nach dem Spiel gegen CFC Genua 1893 seine Lauf­bahn beenden. Es würde sein 786. Pflicht­spiel für den AS Rom sein. Das Prä­si­dium um den ame­ri­ka­ni­schen Mit­ei­gen­tümer James Pal­lotta hat ihm eine gol­dene Brücke gebaut. Totti soll Tech­ni­scher Direktor an der Seite des neuen Mana­gers Monchi werden. Tottis Ent­de­cker und För­derer Fabio Capello kom­men­tierte Mon­chis Ein­stel­lung, der vom FC Sevilla kommt, bereits wie folgt: Sie haben einen Spa­nier genommen, weil nie­mand in Rom den Mut hat, Totti zu sagen, dass seine Kar­riere zu Ende ist.“ Als Tech­ni­scher Direktor erhält er einen Ver­trag bis ins Jahr 2023, der ihm jähr­lich 600 000 Euro garan­tiert.

786 Spiele

hätte Totti für die Roma auf dem Buckel, wenn er am Sai­son­ende wie geplant abtritt (vor­aus­ge­setzt er kommt nach Redak­ti­ons­schluss in allen Par­tien zum Ein­satz). Mit dann 620 Serie-A-Spielen läge er in der ewigen Bes­ten­liste hauch­dünn hinter Gian­luigi Buffon auf Platz drei. Rekord­spieler ist Milan-Legende Paolo Mal­dini mit 647 Ein­sätzen. Totti erzielte in seiner langen Lauf­bahn bis­lang 307 Plicht­spiel­tore. Mit 250 Serie-A-Tref­fern reicht es für ihn hinter Silvio Piola (274 Tore) in diesem Ran­king zu Platz zwei. Seine Titel­samm­lung ist spär­lich: In 24 Jahren gewann er einen Scu­detto und zwei Mal den Pokal. Ihm reicht es: Eine Meis­ter­schaft in Rom ist wie zehn Titel anderswo.“

Aber wie soll das funk­tio­nieren? Totti, der stolze Ritter der Gras­narbe, ab sofort im Nadel­strei­fen­anzug in den VIP-Logen, bei Ver­trags­ver­hand­lungen und Ban­ketten? Seine Anhänger bezwei­feln, dass dieser Über­gang nahtlos klappt. Seine Geschäfte lässt er seit jeher von Bruder Ric­cardo beackern. Als ihn vor einigen Jahren ein Reporter fragte, was er bei der Roma ver­diene, nuschelte er: Acht oder zehn Mil­lionen Euro, so in etwa, ich weiß nicht genau.“

Totti ist kein Grand Sei­gneur wie Paolo Mal­dini, das Milan-Denkmal, das sogar als bein­harter Ver­tei­diger wirkte, als schlen­dere es im Smo­king über den Opern­platz. Keine sen­sible Künst­ler­type wie Juves fra­gile Sym­bol­figur Ales­sandro Del Piero, der nach unfass­baren Toren oft so fra­gend wie ein Wis­sen­schaftler schaute, der in seinem Labo­ra­to­rium eine bahn­bre­chende Ent­de­ckung gemacht hat.

Die zeit­lose Popu­la­rität der römi­schen Ikone beruht nicht zuletzt auf ihren cha­rak­ter­li­chen Brü­chen. Seine Auf­tritte mäan­dern seit jeher zwi­schen Bau­ern­theater und Fellinis La Dolce Vita“. Wie ein Ober­schüler auf der Lam­bretta, der seine Liebste mit einem anderen erwischt, lässt er jeden bereit­willig an seinen Launen teil­haben. Auf dem Rasen ein hoch­be­gabter Indi­vi­dua­list, der in seinen besten Tagen brand­ge­fähr­lich, antritts­schnell und mit dem Auge für den toten Winkel aus­ge­stattet war. Abseits des Platzes ein wort­karger Nuschel­kopp mit ein­ge­schränktem Wort­schatz, der vor den TV-Mikros stam­melt und gern mal in Fett­näpf­chen tappt. Einer, der Täto­wie­rungen bescheuert findet, aber mit Team­kol­legen um Lap­pa­lien wettet und sich anschlie­ßend einen Gla­diator auf den Oberarm ste­chen lassen muss. Der Mario Balotelli mit der Urge­walt eines Mäh­dre­schers ums­enst, sich den­noch im Recht wähnt und schimpft, der Gefoulte sei ein sys­te­ma­ti­scher Pro­vo­ka­teur“, der nicht nur seine Stadt“, son­dern auch sein Volk“ belei­digt habe.

Totti war stets wie ein Klein­kind, das die Grenzen des Mach­baren aus­testet. Als er 2006 mit dem WM-Pokal nach Rom zurück­kehrte, schwenkte er ein Banner mit der Auf­schrift: Als Idioten gefahren, als Welt­meister zurück­ge­kehrt.“ Als ihn Coach Luis Enrique 2011 meh­rere Spiele lang auf der Bank schmoren ließ und er sich dann beim ersten Ein­satz per Elf­me­tertor zurück­mel­dete, hob er vor der Fan­kurve sein Trikot, dar­unter ein Shirt mit der Auf­schrift: Sorry, ich hab mich ver­spätet.“ Ein noto­ri­scher Poser. Mächtig dicke Hose. Sen­si­bler Macho. Che cazzo. Totti hat gequen­gelt, genervt, geprahlt und pola­ri­siert, gelang­weilt aber hat er sein Publikum nie. Und trotz seiner Grenz­gänge war er stets einer, der bau­ern­schlau genug war, um nicht bei den Seinen län­ger­fristig in Ungnade zu fallen.

1 200 000 Bücher

gingen von Alle Witze über Totti. Meine Samm­lung“ über die Laden­theke. Der Profi ver­öf­fent­lichte den Band im Jahr 2003 im Ber­lus­coni-Verlag, nachdem es in Ita­lien fast zum Volks­sport geworden war, ihn als Dum­mer­chen zu ver­höhnen. Die Gewinne aus dem Ver­kauf spen­dete er an Unicef. Auch der zweite Band mit Gags über ihn wurde ein Best­seller und durch­brach die Mil­lionen-Schall­mauer. Gefragt nach seinem Lieb­lings­witz, sagte der Kicker: Tottis Biblio­thek ist in Flammen auf­ge­gangen. Sie ent­hielt genau zwei Bücher. Als Totti davon Wind bekommt, ist er ver­zwei­felt: Ver­dammt, das zweite hatte ich doch noch gar nicht aus­ge­malt.‘“

Nur ein ein­ziges Mal schien es, als würde er seinen Status als römi­sche Legende nach­haltig beschä­digen. Im Vor­run­den­spiel gegen Däne­mark bei der EM 2004 in Por­tugal fingen TV-Kameras ein, wie er Chris­tian Poulsen ins Gesicht spuckte. Nach­träg­lich wurde er für dieses Ver­gehen für drei Spiele gesperrt. Ita­lien schied nach der Vor­runde aus. Wie auf einen Hund prü­gelte die distin­gu­ierte Fuß­ball­schi­ckeria aus Nord­ita­lien danach auf ihn ein. Eine Schande für seine Stadt sei er, fürs ganze Land. Ein Priester for­derte, er möge in einer römi­schen Wall­fahrts­kirche Abbitte leisten. In der Natio­nalelf taten sie sich schwer, ihm den Aus­fall zu ver­zeihen und seine Leis­tung wieder rein sport­lich zu bewerten. Es heißt, er habe zuvor ernst­haft mit dem Gedanken gespielt, zu Real Madrid zu wech­seln. Gut mög­lich, dass der Vor­fall und die anschlie­ßenden Tur­bu­lenzen ihn zurück­hielten, nicht zuletzt, weil er in dieser Phase die Gebor­gen­heit Roms drin­gender brauchte als je zuvor.

Daheim war er ein König, doch in der Fremde lachten sie über ihn: Wegen seines breiten Slangs gilt er bis heute als Dumm­batz, dabei ent­stammt er eigent­lich der römi­schen Mit­tel­schicht, sein Vater Lorenzo war Bank­an­ge­stellter. Um die Jahr­tau­send­wende lösten die Totti-Witze in Ita­lien vor­über­ge­hend die Gags über hirn­lose Cara­bi­nieri ab. Totti, der mit Corn­flakes puz­zelte. Totti, der auf die Frage, was für ihn Carpe Diem“ bedeute, ant­wortet: Was soll das? Ich kann kein Eng­lisch.“ Diese Kate­gorie von Witzen. Als er es mit­bekam, war er zunächst ver­är­gert. Dann drehte er den Spieß um, ver­öf­fent­lichte den Sam­mel­band: Alle Witze über Totti. Meine Samm­lung“. Das Buch ver­kaufte sich fast 1,2 Mil­lionen Mal, er spen­dete den Gewinn an Unicef. Als seine Hoch­zeit mit Starlet Ilary Blasi, die einst auf Ber­lus­coni-Sen­dern die Glücks­rad­buch­staben umdrehte, im öffent­li­chen Inter­esse royale Dimen­sionen anzu­nehmen drohte, ver­kaufte er die Bild­rechte exklusiv an einen TV-Sender und spen­dete auch dieses Geld – ans städ­ti­sche Tier­heim.

38 Jahre

und drei Tage war Totti alt, als er mit seinem Treffer in der 23. Minute des Grup­pen­spiels gegen Man City im Herbst 2014 zum ältesten Cham­pions-League-Tor­schützen aller Zeiten wurde. Der Rekord hat bis heute Bestand. Dar­über hinaus gewann er in der Saison 2006/07 den Gol­denen Schuh“ als Europas erfolg­reichster Tor­schütze (26 Treffer). Wei­tere Erfolge auf inter­na­tio­naler Bühne mit seinem Verein: Fehl­an­zeige. Totti wird es ver­schmerzen können, denn nachdem er mit Ita­lien im EM-Finale 2000 Frank­reich noch unter­legen gewesen war, revan­chierte sich die Squadra Azzurra bei der WM 2006 und wurde zum vierten Mal in ihrer Geschichte Welt­meister.

Ein Gerücht über Fran­cesco Totti besagt, er habe in seinem Leben nur ein ein­ziges Buch gelesen: Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz“. Ver­mut­lich hane­bü­chener Quatsch, wie so viele Dinge, die über ihn erzählt werden. Ein Kern­satz des Romans jedoch passt zu ihm wie die Faust aufs Auge: Das Wesent­liche ist für die Augen unsichtbar.“

Der AS Rom hat nun ent­schieden, dass er auf­hören soll. Seit Monaten findet in ita­lie­ni­schen Sta­dien ein Schau­laufen statt. Selbst in Fein­des­land, etwa im Juventus-Sta­dion oder im Stadio Luigi Fer­raris in Genua, erhält er ste­hende Ova­tionen. Anfang Mai sollte auch San Siro für ihn zum Cat­walk werden. Allein Luciano Spal­letti sträubte sich dagegen. Die schnöde Erklä­rung: Es ginge für seine Elf schließ­lich noch um das Errei­chen der Cham­pions League.

Alle sind sich einig: Am Sai­son­ende ver­lässt Totti für immer die Bühne. Viele von seinem Schlag gibt es nicht mehr. Von Spie­lern, die in einer Zeit, in der Fuß­ball stetig an Iden­tität ver­liert, ihrem Klub ein unver­wech­sel­bares Gesicht ver­leihen. Doch er selbst gibt sich wort­karg wie so oft. Aus seinem Mund kamen die Worte Ich höre auf“ – oder Ver­gleich­bares – bis­lang nicht. Ist es die Angst, die ihn umtreibt, ohne seine große Lei­den­schaft nicht mehr zu wissen, was er mit dem Leben anfangen soll? Am Tag des Redak­ti­ons­schlusses geht eine Mel­dung über den Ticker. Fran­cesco Totti soll auf die Frage, ob er am 28. Mai 2017 im Stadio Olim­pico gegen den CFC Genua 1893 sein letztes Pro­fi­spiel absol­vieren wird, geant­wortet haben: Ich weiß es nicht.“ Nun rät­seln alle: Ist es nur römi­sche Polemik, ein Sei­ten­hieb gegen Spal­letti, weil Totti ja nicht wissen kann, ob der ihn ein­setzt? Oder wech­selt er – der Ewige – noch in eine Ope­ret­ten­liga? Oder macht er ein­fach weiter wie bisher? Einen Für­spre­cher hätte er: Totti ist ein Vor­bild für uns alle“, sagt Cris­tiano Ronaldo, denn er beweist, dass Fuß­ball in Wahr­heit keine Limits hat und Alter keine Rolle spielt.“ So oder so, am Ende wird es heißen: Ciao Ragazzo!