Seit Loris Karius im Champions-League-Finale von 2018 zwei grobe Fehler unterlaufen sind, ist er nicht mehr auf die Beine gekommen. Jetzt hat er bei Besiktas Istanbul gekündigt. Und ist am vorläufigen Tiefpunkt angelangt. Heißt sein Ausweg Hertha BSC?
Komme ich raus oder bleibe ich lieber drin? Schieße ich links oder rechts? Ins Laufduell oder stellen? Kurz oder lang? Risiko oder Sicherheit? In Bruchteilen von Sekunden müssen Fußballer Entscheidungen treffen, vieles geschieht instinktiv. Und die meisten Entschlüsse werden unbedeutend, sobald sie getroffen wurden. Manche hingegen haften ein Leben lang an einem, sie bedecken den Spieler wie einen Schleier.
So wie bei Loris Karius.
Der hatte gerade das Champions-League-Finale mit dem FC Liverpool verloren, auch weil er zweimal gewaltig falsch in seinen Entscheidungen lag und zwei Gegentore verschuldete. Erst dicht bedrängt von Karim Benzema, als er den Ball zu einem Mitspieler werfen wollte. Dabei aber arg sorglos war, sodass Benzemas Fußspitze auf 1:0 spitzelte. Und später, als er einen ungefährlich zentral gesetzten Fernschuss von Gareth Bale durch die Finger flutschen ließ, den er sogar mit seinem hippen Man Bun hinters Tor hätte nicken können.
Aber weder in den Momenten unmittelbar nach seinen Fehlern, noch nach Abpfiff kam einer seiner Kollegen auf die Idee, sich um den niedergeschlagenen Torwart zu kümmern. Auch sein Trainer Jürgen Klopp stand bloß da und starrte in die Leere. Keiner beim FC Liverpool scherte sich um den am Boden kauernden Karius, der vergebens ein Loch im Rasen von Kiew zu suchen schien. Einer der ersten, der an Karius dachte, war Gareth Bale, und der hatte ihm zuvor zwei Tore eingeschenkt. Erst nach und nach rangen sich seine Mitspieler durch, ihm, dem Sündenbock, beizustehen.
Klopp sagte später auf der Pressekonferenz, über die Fehler müsse niemand diskutieren, sie seien dermaßen offensichtlich. Er lieferte nicht die typischen Kloppschen Ausreden nach Niederlagen, um seinen Spieler zu schützen, sondern gab ganz trocken zu Protokoll, was sich in diesem Moment jeder dachte: „Das wünscht man seinem schlimmsten Feind nicht.“ Noch tiefer ins Mark ging der Satz: „Wir wollten alles und bekamen nichts“. Ein zynisches Danke, Loris schwang in seinen Worten mit.
Für Loris Karius ging es bis zu diesem 26. Mai 2018 fast immer nur nach oben. Schneller, höher, weiter. In seiner Vorstellung konnte es nie groß genug sein, der Weg nach oben nicht schnell genug gehen. Bei seiner ersten großen Station, dem VfB Stuttgart, wollte man Karius langsam an die Profimannschaft heranführen, dem jungen Torwart allerdings ging das zu zögerlich. Und als Manchester City 2009 anklopfte, wechselte Karius mit 16 Jahren auf die Insel, wo er alsbald in der zweiten Mannschaft zum Einsatz kam. Mit dem Einstieg von Scheich Mansour bin Zayed Al Nahyan wuchs ManCity auf einen Schlag zu einem europäischen Top-Klub heran. Karius sah seine Chancen auf Spiele in der Profimannschaft schwinden und ergriff 2011 das Angebot von Mainz 05. Unter Thomas Tuchel entwickelte er sich zum Bundesligatorwart, spielte ein paar Jahre lang auf konstantem Niveau, ehe der FC Liverpool 2016 auf der Matte stand: England-Abenteuer Nummer Zwei.
An der Merseyside angekommen, brach sich Karius gleich zu Beginn die Hand und fiel zehn Wochen aus. Eigentlich als Nummer Eins verpflichtet, musste er sich zunächst hinter Simon Mignolet einreihen. Und wenn er dann mal spielte, leistete sich Karius immer wieder Patzer, verursachte regelmäßig Gegentore, stand im Tor, musste wieder auf die Bank, durfte nochmal ran, dann wieder raus. „Ich bin nicht immer an die 100 Prozent gekommen, auch vom Kopf her“, sagte Karius später im Podcast kicker meets DAZN über seine erste Saison in Liverpool.
In der Rückrunde der Saison 2017/18 schaffte er es schließlich zum Stammkeeper und der LFC spielte mit Karius im Tor in der Champions League groß auf. Und dann kam Kiew.
Wie schrecklich muss dieser Abend in der Ukraine vor zwei Jahren gewesen sein, wenn sogar Oliver Kahn perplex war und mit der Fassung ringen musste: „Mir fehlen da auch die Worte. Ich kann mich nicht erinnern, aus Torwartsicht etwas Brutaleres gesehen zu haben.“ Kahn prophezeite nach Abpfiff erbarmungslos, ein solcher Abend könne eine ganze Karriere zerstören.
An Loris Karius haftet seither dieser Bock, wie an Roberto Baggio der verschossene Elfmeter von 1994 klebt und Zinedine Zidane auf ewig an Marco Materazzi gekettet sein wird.
Karius bekam beim FC Liverpool nicht die Chance, es besser zu machen. Mit Alisson Becker kaufte Klopp den teuersten Torwart der Fußballgeschichte – eine 75 Millionen Euro teure Ansage an Karius, der umgehend das Weite suchte. In 3500 Kilometern Entfernung am Bosporus, mit neuer Liga, neuer Sprache, neuer Freundin und einer Erwartungshaltung ohne Altlasten.
„Ich kann mich nicht verstecken und nur in der Vergangenheit verweilen“, sagte Karius zum Kampf bereit, als er in der Türkei ankam. Doch kaum stand er auf dem Platz, kam sie zurück – die Vergangenheit. Karius patzte bereits in seinem ersten Spiel entscheidend.
Seine schwachen Darbietungen setzten sich zunächst fort, dann steigerte er sich und zeigte mitunter Top-Leistungen, die er aber immer wieder mit Fehlern garnierte. Die kritischen Stimmen wurden lauter.