Rafael Benitez führte den FC Liverpool 2005 zum Champions-League-Sieg. Dabei hatte sein Team gegen den AC Mailand bereits mit 0:3 zurückgelegen. Heute wird er 60 Jahre alt. Der Wundertrainer über das dramatischste Finale aller Zeiten, Fußball als Glücksspiel und die Größe des FC Bayern.
In 11 FREUNDE sagte Löw unlängst: „Nur wer schön spielt, holt den Titel.“ Stimmen Sie ihm zu?
Klingt gut. Aber was genau ist Schönheit? Es gibt schöne Pässe, aber auch schöne Grätschen. Am besten ist, ein Spieler beherrscht beides.
Trauen Sie Löw zu, nach seiner Zeit als Bundestrainer einen großen Verein zu trainieren?
Es wäre einen Versuch wert. Aber er muss sich eines bewusst machen: Bei der Nationalmannschaft befindet er sich in einer sehr komfortablen Position. Alle arbeiten für ihn, niemand gegen ihn. Das kann in einem so launischen Gefüge wie einem Klub sehr schnell anders sein. Und sei es nur, dass ein paar Journalisten plötzlich Lust bekommen, Jagd auf ihn zu machen.
Der England-Job kam für Sie nicht in Frage. Aber hätten Sie überhaupt Lust, eines Tages eine Nationalmannschaft zu übernehmen?
Sag niemals nie. Aber derzeit habe ich noch das Bedürfnis, täglich mit Spielern zusammenzuarbeiten und ihnen etwas beizubringen.
Wer ist Ihr Lieblingsschüler?
Lucas Leiva, unser Brasilianer beim FC Liverpool. Er gehört zwar nicht zu den absoluten Weltklasseleuten. Aber man muss bedenken, dass er weit weniger begabt ist als manch anderer und wie hart er jeden Tag an sich arbeitet, um diese Lücke zu schließen. Manche Leute haben mich harsch dafür kritisiert, dass ich an ihm festgehalten habe. Aber auch das gehört zu meinem Konzept: Einen fleißigen Schüler belohne ich.
Haben Sie schon Spieler in Ihrem Team gehabt, die nichts lernen wollten?
Ich nenne keine Namen, aber natürlich kommt das immer wieder vor. Sie stehen vor dir und gucken dich an, als wollten sie sagen: „Ich habe 20 Millionen auf dem Konto, ich habe es nicht nötig, mich von dir rumkommandieren zu lassen.“ Aber insgesamt gibt es den Trend, dass die Spieler wissbegieriger werden. Sie erkennen den Fortschritt im trainingswissenschaftlichen Bereich und wollen den Anschluss nicht verlieren.
Heißt das, der Fußball wird immer besser?
Das ist Geschmacksache. Es soll ja Leute geben, denen die alten Spiele mehr zusagen, etwa die der Brasilianer in den Achtzigern. Aber schneller und intensiver ist der Fußball seitdem allemal geworden.
Zico, der legendäre Spielmacher der Selecao, sagt: „Wenn wir 1982 die Weltmeisterschaft gewonnen hätten, hätte sich der Fußball verändert.“
Ach, das gehört zur Romantik rund um diese Mannschaft. Sie ist die große Unvollendete des Weltfußballs, ein uneingelöstes Versprechen. Aber sie hat nun mal gegen Italien verloren und ist aus dem Turnier geflogen. Basta. Der Fußball schafft Fakten, und die sehen nicht selten ganz anders aus als das, was du dir erträumt hast. Heute ist dein Konzept das richtige, morgen das falsche. Von einzelnen Spielen kann schon deshalb gar kein Einfluss auf den gesamten Fußball ausgehen.
Was wird die nächste taktische Revolution sein?
Ich erwarte keine Sprünge mehr wie in den vergangenen zwanzig Jahren. Arrigo Sacchi war beim AC Mailand in den Achtzigern ein echter Revolutionär. Was er damals gemacht hat, war wirklich neu: Aggressives Pressing in der Defensive, kaum 20 Meter Abstand zwischen Stürmern und Verteidigern – der Gegner bekam regelrecht Platzangst! Und kaum war der Ball erobert, ging es rasend schnell nach vorn, immer fünf Mann vor dem Ballführenden. Das war die Erfindung des Fußballs, wie wir ihn heute kennen. Es geht nur noch darum, ihn punktuell zu optimieren. In sich, von der Idee her, kann er kaum noch besser werden.
Der FC Chelsea hat die Champions League mit destruktivem Fußball gewonnen. Ist das nicht ein Rückschritt?
Chelsea hat die Raumdeckung gespielt, die ich eben beschrieben habe. Etwas tiefer als der AC Mailand unter Sacchi zwar, aber noch enger und effizienter. Ich teile die Kritik nicht, Chelsea spiele hässlich. Im Gegenteil: Es ist schön, wenn ein Plan funktioniert.
Im Halbfinale zerschellte der FC Barcelona an den Londonern. Ist die große Zeit des spanischen Fußball vorüber?
Der Tag wird kommen. Es ist die große Herausforderung, ihn so weit wie möglich hinauszuzögern. Der Fußball hat viele Mannschaft aufsteigen und fallen sehen. Die Niederlande in den Siebzigern, Brasilien in den Achtzigern, später Deutschland und Frankreich. Die anderen Mannschaften lernen dazu. So wie die Spanier ihrerseits von den Niederländern gelernt haben. Johan Cruyff gilt ja nicht umsonst als das Gehirn des FC Barcelona.
Kann die deutsche Nationalmannschaft wieder eine Ära zu prägen?
Joachim Löw hat viele junge Spieler zur Verfügung, die noch jahrelang zusammenspielen können und schon jetzt sehr weit in ihrer Entwicklung sind. Aber diese Mannschaft hat noch nichts gewonnen, und es gibt keine Garantie, dass sich das jemals ändern wird. Selbst wenn sie in einem Finale steht und den Gegner dominiert, kann sie am Ende mit leeren Händen dastehen.
Aber nur Titel entscheiden darüber, welche Mannschaft als groß angesehen wird.
Ja und nein. Einerseits sind Titel das Ultimative. Jeder will sie gewinnen, darum geht es in unserem Sport. Andererseits gibt es auch Mannschaften, die nichts gewonnen haben und trotzdem groß sind, weil sie Teil einer großen Geschichte sind. Da sind wir wieder beim Finale von München. Dieses Spiel war ein Epos. Niemand, der daran teilgenommen hat, ist klein.