Alles an diesem Spiel war so maßlos und überdimensioniert, als hätte der Fußballgott einen Anfall von Raserei gehabt. Unser Mann Christoph Biermann war im Bernabeu – und hat heute tatsächlich seine Sprache wiedergefunden.
Vermutlich wollte Jupp Heynckes den letzten Ehrenpreis, der am Ende einer denkwürdigen Nacht zu vergeben war, gar nicht gewinnen. Aber es gelang ihm dennoch, auch eine imaginäre Trophäe für Ritterlichkeit mit nach Hause zu nehmen, als er ausdrücklich José Mourinho lobte. Der Coach von Real Madrid ist für viele Bewohner des Planeten Fußball ein ausgemachter Dunkelmann, Beherrscher aller halbseidenen Tricks.
Doch Heynckes könnte sein Bewährungshelfer werden, nicht nur weil er ihn bei beiden Spielen durch Höflichkeit in die Knie zwang. Der Trainer der Bayern lobte den Portugiesen weit nach Mitternacht noch einmal ausdrücklich für sein Erscheinen in der Kabine der Bayern, wo er jeden per Handschlag zum Erreichen des Finales beglückwünscht hatte.
„Das war nobel, das hatte Stil und Klasse“, sagte er. Und damit blieb auch die letzte Wendung einer „magischen Nacht“, wie Heynckes sie nannte, nicht in den Katakomben von Bernabeu verborgen. Vermutlich werden wir uns in Jahren noch an dieses Spiel erinnern, bei dem nur Menschen mit einem Herz aus Stein oder fundamentalistische Bayern-Hasser den Affekt unterdrücken konnten, den Münchnern die Daumen zu drücken. Alles an diesen 120 Minuten und dem anschließenden Elfmeterschießen war zudem so maßlos und überdimensioniert, als hätte der Fußballgott in einem Anfall von Raserei versucht, all das in ein Spiel zu packen, wovon man sonst Wochen und Monate zehren muss.
Das Zerstörungswerk der Real-Offensive
Die erste Viertelstunde mit den beiden Treffern von Cristiano Ronaldo zeigte in aller Opulenz, zu welchem Zerstörungswerk die Real-Offensive in der Lage ist. Die anschließenden 30 Minuten waren ein Akt absurder Vernachlässigung von allem, was zur Fußballgrundschule von heute gehört und am liebsten mit dem Begriff „kompakt“ beschrieben wird. Es war das genaue Gegenteil davon, nämlich wirr, ungeordnet, zerflusst und ein herrliches Gewoge durch Abwehrreihen, die wie von Amateuren betrieben wirkten. Trotzdem stand es zur Pause nur 2:1 und nicht 4:4, wie es problemlos hätte sein können.
Danach zog die bleierne Zeit auf. Eine, in der die Angst vor dem Fehler wuchs und die Beine immer schwerer wurde. Kein Wunder, dass Mourinho hinterher zeterte, was für ein Unding es sei, dass sein Team am Samstag das wichtigste Ligaspiel der Saison in Barcelona hatte absolvieren müssen. Bayern hätte in der regulären Spielzeit den Ausgleich verdient gehabt, als alle Spieler mehr auf der Suche nach Energiequellen für den nächsten Lauf beschäftigt waren und mit einer Spannung rangen, die unglaublich war.
Beide Mannschaften wankten, niemand fiel, und doch mussten die Bayern Verluste beklagen, als sich neben David Alaba in der Verlängerung auch noch Luis Gustavo und Holger Badstuber jene Gelben Karten abholten, die eine Sperre fürs Finale bedeuten. „Das ist eine Regelung, die man dringend überdenken muss“, meinte Heynckes hinterher, „im Finale müssen die Besten dabei sein.“ Doch da war für solche Überlegungen noch keine Zeit, denn längst hatte sich dieses Spiel in ein Epos verwandelt. Man schaute in die Gesichter von Fußballhelden, die in einen unbekannten Grenzbereich vorstießen. Fußball jenseits der Baumgrenze und wie ein Versuch, den Nanga Parbat ohne Sauerstoffflasche zu besteigen. Ob das noch schön war oder gut, war in den 30 Minuten der Verlängerung keine Frage mehr, eher schaute man gebannt einem fußballerischen Existenzkampf zu.
Hoeneß: „Ich habe gedacht, ich sterbe“
Doch damit war es immer noch nicht genug. Denn die absurde Hochspannung eines Elfmeterschießens wurde noch auf die Spitze getrieben, als Manuel Neuer zwei Elfmeter hielt und Bayern 2:0 führte. Das wäre es unter normalen Bedingungen sonst eigentlich immer gewesen, aber dann verschoss erst Toni Kroos, dann Philipp Lahm und Uli Hoeneß war in Lebensgefahr. „Ich habe gedacht, ich sterbe“, sagte der Bayern-Präsident, und vermutlich war es genau so gemeint. Doch dann drosch Sergio Ramos den Ball übers Tor; Schweinsteiger traf, der Rest war Exstase.
Manuel Neuer, der spätestens da beim FC Bayern endgültig angekommen sein dürfte, musste verblüffende Zuneigungsbekenntnisse („Ich lieben ihn“, Karl-Heinz Rummenigge) über sich ergehen lassen. Der Keeper reagiert darauf wie unter Schock, und so fiel ihm im Moment des Taumels nur eine schlimme Fußballfloskel ein: „Wir sind nicht ganz unverdient ins Finale gekommen.“ Das jedoch kann in seiner ganzen Farblosigkeit so nicht stehen lassen, denn der FC Bayern ist in zwei nicht anders als heroisch zu bezeichnenden Spielen völlig verdient ins Endspiel eingezogen. Sie haben großen Fußball gespielt, dessen Kern ein unglaublicher Wille war und die halbreligöse Fixierung auf das Ende einer Wallfahrt.
Das Herz den Bayern öffnen
Der Klub war verrückt nach diesem Finale der Champions League im eigenen Stadion, was noch kein andere Verein erreicht hat. Dafür setzte er ungeheure Energien frei, und so konnte man sich an diesem Abend ganz ohne Schuldgefühle an den Bayern erwärmen. Denn wer so mit dem Herzen spielt, dem darf man sein Herz auch öffnen.