Rafael Benitez führte den FC Liverpool 2005 zum Champions-League-Sieg. Dabei hatte sein Team gegen den AC Mailand bereits mit 0:3 zurückgelegen. Heute wird er 60 Jahre alt. Der Wundertrainer über das dramatischste Finale aller Zeiten, Fußball als Glücksspiel und die Größe des FC Bayern.
Hinweis: Das Interview stammt aus dem Jahr 2012.
Rafael Benitez, glauben Sie an Gott?
Dazu wurde ich von meinen Eltern erzogen. Aber warum fragen Sie? Ich dachte, wir wollen über Fußball sprechen.
Mischt sich Gott nicht manchmal in Fußballspiele ein?
Gott hat wesentlich Wichtigeres zu tun. Gucken Sie denn keine Nachrichten?
Nachdem der FC Liverpool 2005 unter Ihrer Führung die Champions League gewonnen hatte …
Unter meiner Führung, Sie sagen es! Ich danke dem lieben Gott für diesen Titel. Aber geholt haben ihn meine Mannschaft und ich.
Am Tag nach dem dramatischen Endspiel schrieb eine englische Zeitung immerhin: „Gott ist ein Roter“. Und Ihr Torwart Jerzy Dudek widmete den Sieg sogar dem Papst.
Wenn man gegen den AC Mailand zur Halbzeit 0:3 hinten liegt, den Ausgleich schafft und schließlich im Elfmeterschießen gewinnt – dann sieht das, von außen betrachtet, vielleicht so aus, als hätte eine höhere Macht Einfluss genommen. Aber ich war dabei und kann Ihnen versichern: Das war das Ergebnis soliden Fußballhandwerks.
Aber ein Trainer baut ein Spiel doch nicht wie ein Maurer eine Garage.
Natürlich ist der Fußball komplexer. Als Trainer kann ich noch so gut vorbereitet sein – ich muss immer mit dem Zufall rechnen. Es läuft alles zu meinen Gunsten, und dann tritt ein Verteidiger über den Ball.
Oder ein Stürmer verschießt einen Elfmeter, wie zuletzt Arjen Robben im Champions-League-Finale zwischen dem FC Bayern und dem FC Chelsea.
Dem ist das ja sogar zwei Mal kurz hintereinander passiert, in entscheidenden Spielen. Ich war beide Male im Stadion, in Dortmund und in München. Wie in diesem Moment die Welt in zwei Teile bricht, in Freud und Leid – das gibt es nur im Fußball. In den Sekunden zuvor merkst du, dass du lebst. Ich denke oft an den letzten Elfmeter im Finale von 2005: Andrij Schewtschenko läuft an, und mein Geist öffnet sich für alles, was möglich ist. Mehr kann ein Mensch nicht empfinden.
Jetzt klingen Sie aber religiös!
Kann schon sein. Aber bevor Sie wieder damit anfangen: Nicht Gott hat Schewtschenkos Elfmeter gehalten. Es war Jerzy Dudek.
Glückssache, dass er sich für die richtige Ecke entschied!
Das Elfmeterschießen ist ein Spiel nach dem Spiel. Aber ist es wirklich ein Glücksspiel? Es kommt auch dort auf technisches Vermögen an, auf die Nervenstärke und den Willen. Denken Sie an das Finale von München: Beim FC Bayern fanden sich kaum genug Schützen, deswegen musste ja Manuel Neuer antreten. Das ist nicht die beste Voraussetzung, wenn anderseits der Gegner ein derart starkes Selbstvertrauen ausstrahlt. Es war die letzte Chance der Generation um Didier Drogba und Frank Lampard, den Titel zu holen. Diese Jungs wollten ihn unbedingt. Das war das Momentum dieses Endspiels.
Hatten Sie Mitleid mit dem FC Bayern?
Ich frage zurück: Glauben Sie, dass Profis bemitleidet werden wollen?
Wie sind Sie denn Carlo Ancelotti, Ihrem Kollegen vom AC Mailand, nach dem Endspiel 2005 gegenübergetreten?
Ich habe ihm die Hand gegeben und gesagt: „Alles Gute für die Zukunft!“ Das hat ihm anscheinend Glück gebracht, denn zwei Jahre später schlug Mailand uns im Champions-League-Finale mit 2:1. Da bekam ich allerdings ein Gefühl dafür, wie niederschmetternd es zwei Jahre zuvor gewesen sein muss, zumal nach diesem Spielverlauf.
Sie sagen es: Der Sieg war doch nur deshalb so bemerkenswert, weil es zunächst 0:3 gegen Sie stand. Irgendwas müssen Sie vor dem Spiel falsch gemacht haben.
Ich kenne solche Sätze. Aber ich erkläre es gern noch mal: Paolo Maldini traf gleich in der ersten Minute nach einer Standardsituation, und das warf alles über den Haufen. Vom Spielfeldrand, bei dem infernalischen Lärm im Stadion, konnte ich das, was dann passierte, kaum noch beeinflussen. Erst in der Halbzeit war es wieder möglich, auf meine Mannschaft einzuwirken.
In der Kabine soll es drunter und drüber gegangen sein. Plötzlich standen zwölf Spieler auf der Taktiktafel.
Auch das kann ich Ihnen erklären. Ich hatte Djimi Traore ausgewechselt, er stand schon unter der Dusche. Aber dann sagte Steve Finnan plötzlich, er könne nicht weitermachen. Also musste sich Djimi wieder abtrocknen und sein Trikot anziehen. Wahrscheinlich standen deswegen zwölf Namen da, aber ich habe das schnell korrigiert.
Was haben Sie den Spielern für die zweite Halbzeit mit auf den Weg gegeben?
Neben der taktischen Neuausrichtung vor allem zwei Dinge. Erstens: Egal wie das hier ausgeht, wir sind es unseren Fans schuldig, dass wir kämpfen bis zum Umfallen. Zweitens: Wenn wir gleich nach Wiederanpfiff das 1:3 schießen, können wir noch einmal zurückkommen.
Mussten Sie Optimismus vortäuschen?
Das tue ich nie! Viele denken, ein Trainer sei ein verkappter Schauspieler. Das ist falsch. Natürlich muss er seine Botschaft mit Leidenschaft rüberbringen, aber diese Botschaft muss authentisch sein. Wenn er Durchhalteparolen von sich gibt, aber innerlich längst aufgegeben hat, spüren die Spieler das sehr genau.
Für Steve Finnan wechselten Sie schließlich Dietmar Hamann ein. Welchen Einfluss hatte er auf das Spiel?
Didi war damals schon ein Opa, er hatte keine Puste mehr für eine ganze Saison. Aber für diesen einen großen Auftritt pro Jahr war er immer noch gut. Ich wusste, dass dieser Moment nun gekommen war. Und ich hatte recht: Didi hat dieses Spiel mitentschieden, nicht nur weil er den ersten Elfmeter verwandelte. Wie er die Bälle eroberte und verteilte! Oh, Didi! Ich denke so gern an ihn zurück. Jetzt haben Sie mich ganz melancholisch gemacht.
Innerhalb von sechs Minuten glichen Steven Gerrard, Vladimir Smicer und Xabi Alonso das Spiel aus. Wie haben Sie diese sagenhafte Wende erlebt?
Wie einen Film. Einen spannenden Film, auf den man sich total konzentriert. Ich bin da ein bisschen wie ihr Deutschen: immer etwas distanziert, beobachtend, analytisch. Andernfalls wäre ich wahrscheinlich umgekippt. Schwindelig wurde mir erst, als wir zurück in Liverpool waren und ich vom Bus aus die abertausenden von Fans sah, die die Straßen säumten. Da wurde mir klar, dass wir etwas Historisches geschaffen hatten.
Sind Sie in Ihren sechs Jahren im Verein zu einem echten Liverpooler geworden?
Ja, zum Scouser, wie man hier sagt. Mir haben immer der Kampfgeist und die Loyalität dieser Leute imponiert. Wenn du auch kämpfst und loyal bist, wirst du ganz automatisch einer von ihnen, unabhängig von deiner Herkunft. Liverpool ist als Hafenstadt seit jeher ein Schmelztiegel. Früher waren es Kaufleute und Matrosen, die aus aller Welt hierher kamen, heute sind es Trainer und Spieler. Wissen Sie übrigens, woher das Wort Scouser kommt?
Verraten Sie es uns.
Von Labskaus! Die deutschen Seeleute haben es als Arme-Leute-Essen hierher gebracht.
Interessant. Erinnern Sie sich noch an den 3. Juni 2010?
Ja, sehr schmerzlich. Es war der Tag meiner Entlassung. Ich war gerade mit meiner Familie im Urlaub und bekam einen Anruf von meinem Anwalt. Er teilte mir mit, dass die Vereinseigentümer Tom Hicks und George Gillett um die Vertragsauflösung gebeten hätten. Ich konnte es gar nicht glauben.
Sie waren in der Saison nur Siebter geworden.
Das war doch nur eine Atempause! Nach sechs Jahren, in denen wir gemeinsam Titel geholt und eine einzigartige Verbindung zwischen Mannschaft und Fans aufgebaut hatten. Aber das haben diese Amerikaner nicht verstanden. Sie hatten keinen Sinn für Kultur, nur für Zahlen. Es war immer schwierig, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Wissen Sie, in Spanien gibt es ein Sprichwort: „Weiße Flüssigkeit in einer Flasche sollte immer Milch sein.“
Was soll das heißen?
Dass man ehrliche Arbeit leisten muss. Wenn mein Milchmann John mir im Liverpooler Stadtteil Wirral, wo ich lebe, die Milch bringt, dann weiß ich, dass es wirklich Milch ist. Wenn Hicks und Gillett sie mir gebracht hätten, hätte ich befürchten müssen, dass es gefärbtes Wasser ist.
Seit Ihrer Entlassung ist der Verein ins Schlingern geraten, in der zurückliegenden Saison wurde er nur Achter. Empfinden Sie Genugtuung?
Überhaupt nicht. Es tut mir einfach nur leid für die Fans.
Die verehren Sie noch immer wie einen Heiligen.
Ich habe lange gewartet, bis ich nach Anfield zurückgekehrt bin. Solange, bis ich dachte, ich müsste nicht mehr weinen. Und dann ist es doch passiert.
Sie hatten sich aber auch ein besonderes Datum ausgesucht, den 15. April 2011. Es war der Jahrestag der Hillsborough-Katastrophe, bei der 1989 gleich 96 Liverpoolfans starben.
Ich habe eine enge Verbindung zu den Hinterbliebenen. Sie haben mich als Fans immer unterstützt. Als ich von ihrem Kampf um Gerechtigkeit erfuhr, wollte ich etwas zurückgeben.
Sie spendeten fast 100 000 Pfund für die Kampagne, die den Staat schließlich zwang, den Fall noch einmal aufzurollen.
Ich wüsste nicht, wie ich mein Geld besser investieren könnte.
Als die Fans darauf aufmerksam gemacht wurden, dass Sie im Stadion waren, sangen sie spontan Ihren Namen.
Ich wollte nur still an dieser Andacht teilnehmen. Doch dann bedankte sich Margaret Aspinall, die Vorsitzende die Kampagne, die in Hillsborough ihren Sohn verlor, am Ende ihrer Rede bei mir. Ein wahnsinnig emotionaler Moment.
Werden Sie irgendwann zum FC Liverpool zurückkehren?
Dazu möchte ich mich nicht äußern. Ich halte es für besser, mich zurückzuhalten. Alles, was ich den Fans zurufe, ist: Haltet zusammen und unterstützt eure Mannschaft!
Im Juni 2010 übernahmen Sie Inter Mailand und wurden bereits im Dezember wieder entlassen. Wie erklären Sie sich diesen Misserfolg?
Misserfolg? Machen Sie Witze? Wir haben den italienischen Supercup und die Klub-Weltmeisterschaft gewonnen und richtig guten Fußball gespielt – und das, obwohl wir keinerlei Unterstützung von der Vereinsführung hatten.
Vielleicht hatte Vereinsboss Massimo Moratti noch mehr erwartet. In der Liga waren Sie nur Fünfter. Und das als amtierender Champions-League-Sieger.
Kann sein. Aber schauen Sie, wo Herr Moratti jetzt steht: Er hat seitdem drei Trainer verschlissen, Unmengen von Geld für neue Spieler ausgegeben – und ist trotzdem nur Sechster geworden.
Und Sie? Hatten Sie Angebote seitdem?
Ja, einige. Aber es war nichts dabei, was meinen Ansprüchen genügt hätte. Ich will Titel gewinnen.
Hat die FA Sie eigentlich gefragt, ob Sie englischer Nationaltrainer werden wollen?
Nein. Und ich hätte den Job auch nicht gewollt. Ich will Spieler entwickeln und mit ihnen über kurz oder lang Erfolg haben. Wenige Wochen vor einem großen Turnier wäre das gar nicht möglich gewesen. Ich hätte ja erst im Trainingslager mit der Mannschaft arbeiten können, viel zu spät, um sie noch entscheidend zu prägen.
Würde Sie die Bundesliga reizen?
Na, klar. Welchen Verein empfehlen Sie mir denn?
Wie wäre es mit dem HSV, einem schlafenden Riesen?
Von dem habe ich lange nichts mehr gehört. Da müsste ich mich erst mal genauer informieren. Aber fest steht: Die deutsche Mentalität mag ich. Als ich in den Siebzigern Jugendspieler in der Akademie von Real Madrid war, bekam ich es in einem Trainingsspiel mit Paul Breitner zu tun. Er war Weltmeister, ich war niemand. Und er wollte, dass das so bleibt. Er hat mir nichts geschenkt. Das hat mir imponiert.
In letzter Zeit spielen die Deutschen nicht mehr nur hart, sondern vor allem schön. Wie kommt das?
Die Jugendförderung wurde verbessert, es kommen mehr junge Spieler in der Bundesliga zum Zuge, dort wird der Fußball wie fast überall von Jahr zu Jahr schneller. Es gibt so viele Faktoren, dass es mir schwer fällt, eine einzige Erklärung dafür zu finden, dass die deutsche Nationalmannschaft heute wesentlich rasanter spielt als noch vor sechs oder acht Jahren. Ich weiß nur, dass dieser Prozess viel Zeit in Anspruch genommen hat. Joachim Löw scheint ein sehr geduldiger Mann zu sein.