Marco Reus wird auch diese WM verpassen. Die letzte, die für ihn möglich gewesen wäre. Der Fußballgott scheint ihn nicht zu mögen. Eine Klageschrift.
Lieber Fußballgott,
ich weiß, ich weiß: Du hast es auch nicht leicht. Alle wollen was von Dir. „Oh, lieber Fußballgott, schenk uns ein Wunder hier! Ja, wir haben den Kredit Deiner früheren Gaben verspielt, Schindluder mit dem Erbe Deiner Gnade betrieben. Aber Du kannst doch nicht ernsthaft wollen, dass ausgerechnet dieser ruhmreiche Klub vor die Hunde geht/nicht den Titel holt! So hilf uns und habe Erbarmen! Für das große Ganze, für Deinen kosmischen Verwaltungsbereich, für den Fußball.“
Und Du hörst die schändlichen Klagelieder und lässt Dich erweichen, weil sie ja Recht haben, die Jammerbolzen: das Beste, das dem Spiel widerfahren kann, ist das Wundersame. Der wundersame Absturz, die wundersame Rettung. Geschichten für die Ewigkeit eben, wundersame Geschichten. Aber ich schweife ab.
Wie gesagt — ich weiß: Du hast es auch nicht leicht. Alle wollen was von Dir. Die Reichen, die Armen, die Gesunden, die Kranken. Die Gesegneten und die Talentfreien. Die Zauderer und die Zauberer. Und Du gibst ihnen, immer und immer wieder, wonach sie verlangen: Siegtreffer in der Nachspielzeit. Lizenz rettende Bürgschaften aus Absurdistan. Einen Klassenerhalt, nachdem die Messe schon gelesen wurde. Eine Meisterschaft, auf die nicht einmal der Quartalsirrste auch nur eine Unterhose verwettet hätte.
Du hast es auch nicht leicht. Nur verständlich, dass auch Du hin und wieder ein bisschen Frust ablassen musst. Ein Gott ist schließlich auch nur ein Mensch. Doch es gibt Grenzen. Eine zum Beispiel, ein ziemlich dünner Strich ist das, befindet sich mitten in Dortmund und heißt Marco Reus. Die letzte Saison, die diese Fußballer gewordene Verheißung mehr oder minder verletzungsfrei absolviert hat, war die Saison 2013/14. Dann begann sich die Krankenakte zu füllen.
Kurz vor der Weltmeisterschaft in Brasilien war das und Reus der vielleicht beste Fußballer Europas. Weltmeister sind sie dann auch ohne ihn geworden. Die launige Volten eines mürrischen Gottes. Wie dieses 7:1 gegen Brasilien. Aber ich schweife ab.
Du hast es auch nicht leicht. Aber mal unter uns: Wenn Du diesen Marco Reus nicht endlich mal in Ruhe und also gesund bleiben lässt, bekommen wir ein Problem miteinander.
Und das schreibe ich Dir nicht, weil ich so ein großer Fan der Borussia Dortmund GmbH & Co. KGaA bin. Oder von DIE MANNSCHAFT. Sondern weil ein gesunder Marco Reus allein mich Spiele anschauen lässt. Weil ein gesunder Marco Reus mich für Momente alles vergessen lässt, was ich am Fußball abscheulich finde. Weil ich nur einen Pass, eine Körpertäuschung oder einen dieser seltsam verzwirbelten Torschüsse von ihm sehen muss, um kurz zu glauben, dass das mit der echten Liebe vielleicht doch seine Richtigkeit hat. Weil ein gesunder Marco Reus eine Schönheit in das Spiel bringt, die so augenscheinlich und klar ist, dass sich jede Diskussion darüber, was denn nun ein schönes Spiel überhaupt sei, von ganz allein erledigt.
Weil dieser Marco Reus ein Künstler ist, der allein das Eintrittsgeld wert wäre, und der trotzdem immer dem Ensemble dient. Weil dieser Marco Reus so einfach aussehen lässt, was wir, bei denen das Talent nur zum Fan gereicht hat, nicht ein einziges Mal hinbekommen (haben/würden). Weil dieser Marco Reus einem damit die Hoffnung gibt, dass eigentlich alles ganz einfach sein könnte. Oder wenigstens unwichtig für den Moment.
Lieber Fußballgott, ich weiß, ich weiß: Du hast es auch nicht leicht. Aber mal im Ernst: Lass den Marco in Ruhe. Denn, nur mal so unter uns: ein Gott ohne Gläubige — wie sieht das denn aus?
Dieser Text erschien erstmals im Dezember 2019.