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Seite 2: Auf ewig Weltmeister aller Deutschen

Der Fuß­ball der fünf­ziger Jahre ist durch­tränkt von einem Geist der Beschei­den­heit. Doch Fritz Walter wirkt selbst damals wie ein Über­bleibsel aus einer anderen Gene­ra­tion, die eigent­lich schon nicht mehr exis­tiert. Den höchsten Tri­umph, den ein Fuß­ball­spieler errei­chen kann, nimmt er nicht ohne Stolz hin, aber mehr noch mit der für ihn typi­schen Schick­sals­er­ge­ben­heit und bis­weilen an Selbst­ver­leug­nung gren­zenden Demut.

Soll ich mich ent­schul­digen, dass wir gewonnen haben?“, fragt er Jahr­zehnte später, bevor er auf dem 70. Geburtstag des Ungarn Ferenc Puskas spre­chen soll. Schließ­lich sagt der Welt­meister zum Besiegten: Es wäre doch schön, wenn wir beide gewonnen hätten!“

Ottmar zerrt und rüt­telt an ihm

Es ist keine Alters­milde, die ihn diese Worte spre­chen lässt. Walter war nie ein uner­bitt­li­cher Wett­kämpfer, kein Turm in der Schlacht, kein unver­wüst­li­cher Kämpfer oder nim­mer­müder Antreiber. Im Innen­sturm des FCK und der Natio­nalelf spielte viel­mehr ein fra­giler Ästhet, der jeder­zeit mit einer Ball­be­rüh­rung, mit einer intui­tiven Kör­per­täu­schung das Spiel ent­scheiden konnte, in anderen Phasen aber auch unter der Last der Ver­ant­wor­tung zusam­men­zu­bre­chen drohte.

Vor jedem wich­tigen Spiel musste ich ihm in den Hin­tern treten“, sagt sein Bruder Ottmar später. Nicht nur vorab in der Kabine, son­dern nicht selten auch mitten auf dem Platz – wie am 30. Juni 1951 im Ber­liner Olym­pia­sta­dion. Der 1. FC Kai­sers­lau­tern liegt im Finale um die Deut­sche Meis­ter­schaft 0:1 gegen Preußen Münster zurück. Und Fritz Walter möchte ver­zagen. Also packt Ottmar seinen älteren Bruder vor 85 000 Men­schen an den Schul­tern, zerrt und rüt­telt an ihm. Er schreit ihm direkt ins Gesicht: Stell dich nicht so an, Fried­rich! Es ist doch über­haupt nichts ver­loren!“ Der Ver­za­gende nickt und wirkt doch wenig über­zeugt.

Zehn­tau­send­fache Erwar­tung

Seine Hal­tung gekrümmt, kein Glaube an die Wende. Doch Bruder Ottmar, jünger zwar, doch immer auch größer, ath­le­ti­scher, selbst­si­cherer, lässt nicht locker. Auf geht’s, Fried­rich!“ Wenige Minuten später spurtet der Geschol­tene über die Mit­tel­linie, passt den Ball im letzten Moment nach rechts, zum anderen Walter, dem nim­mer­müden Kämpfer im Schlag­schatten der Licht­ge­stalt. Ott­mars prä­ziser Flach­schuss schießt knapp über der Gras­narbe zum Aus­gleich ins Netz. Am Ende steht der erste Meis­ter­titel des FCK.

Fritz brauchte diese Art von Auf­mun­te­rung, sonst wäre er in seinem Trott ein­ge­schlafen“, sagt Helmut Rasch, der rechte Ver­tei­diger der Meis­terelf von 1951, der die Szene gut in Erin­ne­rung hat. Erst wenn es lief, bei ihm und der Mann­schaft, habe der Ball­vir­tuose sein ganzes Reper­toire abrufen können: Finten, Dribb­lings, punkt­ge­naue Pässe. Wie weg­ge­blasen waren dann die läs­tigen Selbst­zweifel, end­lich aus­ge­blendet die unge­dul­dige, zehn­tau­send­fache Erwar­tung von den Rängen.

Von der großen Scheiße“ geprägt

An Nie­der­lagen trägt der hyper­sen­sible Sports­mann schwer, grämt sich tage­lang. Im Oktober 1952 will er nach einer 1:3‑Schlappe gegen Frank­reich seine Kar­riere im DFB-Trikot beenden. Doch Her­berger, der für Walter nicht nur Bun­des­trainer, son­dern unfehl­bare Vater­figur ist, winkt ab. Und Walter macht weiter – in stetem Gehorsam zum Chef“. Einen Monat später führt er die deut­sche Mann­schaft zu einem 5:1‑Sieg gegen die Schweiz. Den­noch reist er auch zur WM 1954 voller Skepsis. Seine Frau Italia sieht sich genö­tigt, ihm einen Brief nach­zu­senden. Auf­mun­ternde Zeilen, die Walter wäh­rend des gesamten Tur­niers im Nacht­schränk­chen auf­be­wahrt. Lieber Schnu­cke­lino“, so beginnen die Zeilen, die er jeden Morgen als Aller­erstes liest.

Viel­leicht spüren die Men­schen um ihn herum diese Ver­letz­lich­keit und Demut, die ihn jeden Sieg ungläubig, gleich einem Geschenk, in Emp­fang nehmen lassen. Eine Demut vor dem Leben, vor den Men­schen, die auch von der großen Scheiße“ geprägt ist, wie Alt­kanzler Helmut Schmidt, zwei Jahre älter als Walter, den Welt­krieg nennt. 319 000 Männer, die wie Walter 1920 geboren werden, sterben durch den Krieg – vier von zehn seiner Alters­ge­nossen werden die fünf­ziger Jahre nicht erleben.

Für Fritz Walter jedoch spielt der Fuß­ball Schicksal: Her­berger setzt sich zunächst für seine Abbe­ru­fung von der Infan­terie zur Sol­da­ten­mann­schaft Rote Jäger“ ein, die zwecks Trup­pen­un­ter­hal­tung gegen den Ball tritt. Nach Kriegs­ende bleibt Walter der Abtrans­port in den sowje­ti­schen Osten erspart, weil sich unga­ri­sche Lager­sol­daten an seine Tricks beim 5:3 in Buda­pest vor dem Krieg erin­nern. Ottmar dagegen ist im Ärmel­kanal schwer ver­wundet worden, Horst Eckel hat seinen älteren Bruder im Krieg ver­loren, der Vater der Liebrich-Brüder wurde als Kom­mu­nist inter­niert.