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Als ich einmal vergaß, den HSV zu hassen
von Alex Raack

Ja, ich gestehe. Auch ich stand schon in der Bremer Ost­kurve, oder in der lus­tigen V‑Formation im Ham­burger Aus­wärts­block, um mit zit­ternden Stimm­bän­dern zu kra­kelen: Tod und Hass dem H‑ES-VAU!“ Aber ich war jung und brauchte den Kick. Dabei war es gar nicht so gemeint. Jeden­falls nicht von mir. Wäh­rend in der S‑Bahn, auf dem Bahnhof, am Bier­stand oder im Sta­dion allein die Buch­sta­ben­folge HSV“ bei den Men­schen in meiner Umge­bung pochende Stirn­adern und vor Abnei­gung fla­ckernde Aug­äpfel ver­ur­sachten, musste und muss ich jedes Mal an ihn denken: Uwe Seeler. Uns Uwe. Mein Uwe. Der größte Held vom Ham­burger SV war das Idol meiner Kind­heit.

Es begann in der dritten Klasse, mit einem Grab­bel­tisch voller Bücher. Die ört­liche Bücherei wollte der jungen Nach­wuchs­in­tel­li­genz ihr papie­renes Angebot schmack­haft machen, Wer­bung, die ich längst nicht mehr benö­tigte. Ich las eigent­lich alles und ohne jedes System. Astrid Lind­gren, Ernst Huberty. James Krüss, Hennes Weis­weiler. Ferien auf Salt­krokan und eine zwei­tei­lige Chronik über WM 1974 teilten sich artig die Plätze im Bücher­regal. Übri­gens eine herr­liche Mischung, wenn man mal später einen Job wie den meinen machen möchte. Aber das nur am Rande. Wie schon gesagt: Ich las viel und vor allem jeden Scheiß, in dem auch nur ent­fernt ein Ball durch die Seiten rollte. Kein Wunder also, dass mich der senk­recht in der Luft lie­gende Uwe Seeler auf dem blau-grauen Buch­cover seines Werkes Alle meine Tore“ gleich fas­zi­nierte.

Ich hätte mir Alle meine Tore“ ein­fach selbst ange­näht

Ich las es einmal. Zweimal. Dreimal. Zehnmal. Und als meine Mutter mich nach drei Wochen noch immer mit diesem ran­zigen Hard­cover im Wohn­zimmer hocken sah, kon­tak­tierte sie meine Klas­sen­leh­rerin. Ob der Junge das Buch nicht behalten könne, auch wenn es formal der Stadt­bü­cherei gehöre. Eine gute Wahl von Bücherei und Leh­rerin, diesem Wunsch nach­zu­kommen, ich hätte es mir wohl sonst in der Not selbst in meinen Ober­schenkel ein­ge­näht.

Fuß­ball fand ich schon immer geil. Aber für die Bun­des­liga konnte ich mich nicht erwärmen, was auch daran lag, dass sich meine Familie so sehr für Fuß­ball inter­es­sierte wie für Ele­fan­ten­polo. Außerdem wohnte ich in Celle, außer­halb des Dunst­kreises Werder oder HSV. Zwar nah genug an Han­nover 96, aber wer inter­es­sierte sich schon Ende der Neun­ziger für Han­nover 96? Ich kannte jeden­falls nie­manden. Natür­lich, die großen Welt­meis­ter­schaften waren mir auf­grund ein­ge­hender Stu­dien (siehe Huberty, Weis­weiler) ein Begriff. Ich kannte das Wunder von Bern“, das Wem­bley-Tor“, die Schmach von Cor­doba“ – ich wusste sogar, mit wel­chem Frei­stoß­trick die Bra­si­lianer 1974 die Natio­nal­mann­schaft der DDR besiegt hatten. Dass Werder Bremen, meine zukünf­tige Anver­traute, 1988 Deut­scher Meister geworden war – Jacke wie Hose.

Burnley! Bar­ce­lona! Young Boys Bern!

Mit Uns Uwe lernte ich den deut­schen Liga­fuß­ball dann end­lich kennen. Wenn auch nur bis 1965, denn da riss bei Uwe die Achil­les­sehne (kannte ich bis dahin auch noch nicht!) und nur des­halb hatte er über­haupt Zeit für dieses Buch. Vorher aber rauschte ich mit dem HSV durch die Jahre. Ich fror mit, wenn Uwe die langen Rad­fahrten zum Och­sen­zoll antreten musste. Weinte unsicht­baren Tränen, als die Ham­burger das nächste End­spiel um die Deut­sche Meis­ter­schaft ver­geigten. Weinte unsicht­bare Freu­den­tränen, als es dann 1960 doch end­lich klappte und staunte über Burnley, Bar­ce­lona und Siege gegen die Young Boys Bern (eine Mann­schaft, die, wie ich dachte, als lauter kleinen Jungs zu bestehen schien). Ich will nicht protzen. Aber über die Jahre 1957 bis 1965 weiß ich ver­mut­lich besser Bescheid, als die meisten Hard­core-HSVer.

So wurde ich groß und größer. Und irgend­wann erwachsen. Ich ent­deckte den ruhm­rei­chen SV Werder Bremen für mich und gleich dazu ein Haufen Kum­pels, mit denen ich später – dank bestän­diger Euro­pa­po­kal­teil­nahme – durch die Welt reisen konnte. Ich lernte, mich genauso die­bisch über Siege gegen den HSV zu freuen, wie der Rest des Bremer Anhangs. Ich lachte über Ailton und über die Papier­ku­geln, und zwar zu einem nicht uner­heb­li­chen Teil aus Scha­den­freude. Ich brüllte Tod und Hass dem H‑ES-VAU!“ mit (aber nie­mals das wider­liche H‑I-VAU“, soll an dieser Stelle mal gesagt sein). Ich wurde Wer­der­aner. Und trug doch das größte HSV-Idol aller Zeiten im Herzen.

Uwes 16 Jahre alte Unter­schrift

Vor einigen Monaten hatte ich das große Glück Uns Uwe das zweite Mal in meinem Leben zu treffen. Beim ersten Mal war ich noch ein kleiner Hosen­scheißer, der vor einer Turn­halle in der nie­der­säch­si­schen Pro­vinz drauf war­tete, dass Herr Seeler“ nach einem Auf­tritt mit seiner Tra­di­ti­ons­mann­schaft noch Zeit für ein schnelles Auto­gramm fand. Beim zweiten Mal war ich ein aus­ge­wach­sener Hosen­scheißer, der seinem Helden fast zwei Stunden in einem Ham­burger Hotel­foyer gegen­über saß, um ihn mit Inter­view­fragen ein­zu­de­cken. Ich hatte wieder mein Buch mit. Als Uwe es signieren wollte und seine gut 16 Jahre alte Unter­schrift erkannte, musste er lächeln.

Als ich einmal vergaß, den SV Werder zu hassen
von Andreas Bock

Wie man Werder hasst, weiß jeder HSV-Fan. Wie man im Diercke-Schul­atlas mit einem Edding 800 die Stadt Bremen von der Land­karte streicht oder vor Wut Fern­seh­ti­sche zer­legt, weil die eigene Mann­schaft inner­halb weniger Wochen dreimal gegen die Unaus­sprech­li­chen ver­liert. Ich habe Tod und Hass dem SVW“ gesungen. Ich habe mir von Mutti einen Fli­cken mit dem Slogan Was ist grün und stinkt nach Fisch“ auf die Kutte nähen lassen. Ich kenne die Dis­kus­sionen, dass man keine grünen Shirts trägt oder kein ver­dammtes Beck’s trinkt, auch wenn das eigene Bier nach abge­stan­denem Regen­wasser schmeckt. Dann sogar lieber ein Pro­secco. Oder eine Weiß­wein­schorle!

Doch manchmal, wenn wieder einmal ein Spieler mit blon­dierten Strähn­chen im Haar seine neu­este Täto­wie­rung auf Twitter prä­sen­tiert, wenn in Ham­burg wieder einmal alle nach Titeln krächzen und gerade der sieb­zehnte Trainer seit 1983 ent­lassen wurde, wenn irgendwo eine ganz neue und extrem bunte TV-Show in 300 Bil­dern pro Sekunde erklären will, was Fuß­ball ist, dann würde ich gerne Thomas Schaaf treffen. An der Bus­hal­te­stelle, auf einer Park­bank, mei­net­wegen auf einem Plakat. Ich treffe ihn – und er sagt nichts. Er guckt. Ich gucke. Wir rau­chen, viel­leicht. Trinken, viel­leicht. In der Haupt­sache schweigt er. Und ich ver­suche es ihm gleich­zutun.

Als HSV-Fan hat man viel zu hassen

Vor über 25 Jahren, am 22. April 1986, lernte ich Thomas Schaaf kennen. Er war Teil der Werder-Mann­schaft, die sich am 33. Spieltag gegen den FC Bayern die Meis­ter­schaft hätte sichern können. Mir war es im Grunde gänz­lich egal, wer dieses Spiel gewinnt. Werder, Bayern – beide doof. Dazu noch der FC St. Pauli, 1860 Mün­chen, der 1. FC Köln und Celtic Glasgow – als HSV-Fan muss man seit jeher sehr viel hassen.

Das Spiel wird live in der ARD über­tragen. 88 Minuten pas­siert nichts. 0:0. Dann sieht Schieds­richter Volker Roth ein Hand­spiel von Sören Lerby im eigenen Straf­raum. Egon Cordes schießt den Ball wütend Rich­tung Weser und der ur-bay­ri­sche Co-Kom­men­tator Paul Breitner posaunt: Nichts. Gesicht war das!“ Und: Nur ins Gesicht ist er ihm gegangen!“ Und: Da ver­stehe ich nicht, wofür wir den Lini­en­richter haben, wenn er besser steht! Der Schieds­richter konnte das ja gar nicht sehen, er stand mit dem Rücken zum Geschehen.“ Und: Tat­sache ist, dass er ins Gesicht gegangen ist! Tat­sache ist nicht, dass er an die Hand gegangen ist!“ Und: „!“

Keine Eigen­tums­woh­nung für Jonny Otten

Paul Breitner hätte noch wei­tere 20 Minuten über das Hand- bezie­hungs­weise Gesichts­spiel schwa­dro­niert, wäre der Ball nicht nach etwa zehn Minuten wieder aufs Spiel­feld gerollt. Dann liegt er auf dem Punkt. Michael Kutzop, der in seiner Kar­riere um die 200 bis 700 Elf­meter ver­senkt hat, nimmt Anlauf. Jean-Marie Pfaff taucht ab, in die fal­sche Ecke. Doch statt einem Tor­schrei folgt das Geräusch von Alu­mi­nium. Hartes, häss­li­ches Alu­mi­nium. Thomas Schaaf guckt ins Nichts. Einige Spieler laufen los, Michael Kutzop auch. Irgend­wohin. Natür­lich sagt Paul Breitner wieder irgend­etwas. Zum Bei­spiel das: Ich nenne das aus­glei­chende Gerech­tig­keit!“ Und das: Für die Werder-Fans tut es mir leid!“ Drei Schritte vom Abgrund ent­fernt – und dann solche Worte. Der joviale Unterton sapscht förm­lich aus dem Fern­seher auf den Tep­pich­boden. Selten hörte man so eine unan­gehme und kleb­rige Kum­panei. 

Am 34. Spieltag gewann der FC Bayern 6:0 gegen Borussia Mön­chen­glad­bach, Werder verlor mit Blei an den Füßen 1:2 in Stutt­gart. Jonny Otten sagte, Michael Kutzop hätte ihn um eine Eigen­tums­woh­nung gebracht. Paul Breitner sagte sicher­lich auch wieder irgendwas. Und Thomas Schaaf? Rauchte, viel­leicht. Trank, viel­leicht. Sicher­lich aber schwieg er dabei. Es muss sich ver­dammt gut ange­hört haben.