Stell dir vor, du schießt das Tor deines Lebens, und es wird aberkannt, weil der Ball zuvor den Rücken des Schiedsrichters getroffen hat. Würdest du ausrasten? Aber sicher doch.
Man kann sich den Dialog zwischen dem Schiedsrichter und dem Kölner Keller ungefähr vorstellen. „Herr Dr. Thomsen, Sie müssen sich da noch mal was anschauen!“ – „Wieso?“ – „Ihr Rücken, Herr Dr. Thomsen!“ – „Was ist denn mit meinem Rücken?“ – „Schauen Sie es sich doch einfach mal an, Dr. Thomsen!“ – „Herr Dr. Thomsen, wenn ich bitten darf!“
Aber von vorn. Wir alle sind in einer Fußballwelt aufgewachsen, in der ein ehernes Gesetz galt: Der Schiedsrichter ist Luft. Das war in den meisten Fällen ohne Bedeutung, weil Schiris von Haus aus selten dazu neigen, ins Spiel einzugreifen, sie sind eine eher scheue Spezies, die sich per Definition lieber am Rande der Gesellschaft aufhält und von dort aus die Lage im Blick behält. Wenn dann aber doch mal ein Referee zwischen die Fronten geriet: Pech gehabt, für alle Beteiligten.
Es trifft ausgerechnet die ohnehin gebeutelten Hannoveraner
Es war eine Regel, mit der sich über Dekaden gut leben ließ. Ganz selten mal, dass sich ein Schiedsrichter so verrannte wie ein gewisser Maurice Paarhuis, der im letzten Jahr in der vierten holländischen Liga derart unglücklich stand, dass er versehentlich ein Tor schoss. Welches dann natürlich zählte, denn: Der Schiedsrichter ist Luft.
Heutzutage könnte das nicht mehr passieren, weil die Fußballmoderne den Satz im letzten Sommer ins Präteritum überführt hat. Der Schiedsrichter war Luft. Nunmehr gilt: Wenn sich Referees unabsichtlich am Geschehen beteiligen, wird das Spiel stante pede unterbrochen und mit einem sogenannten Schiedsrichterball fortgesetzt.
All das muss man wissen, um zu begreifen, was im Montagsspiel der zweiten Liga zwischen Hannover und Darmstadt vorgefallen ist. Schlussphase beim Stand von 1:2, die ohnehin schon vom Leben und Martin Kind gebeutelten Hannoveraner werfen noch mal alles nach vorn, als der Ball über Umwege zum eingewechselten Marc Stendera kommt, der die Kugel in Tor-des-Monats, ach was, Tor-des-Jahres-verdächtiger Manier in den Winkel zirkelt. Jubel, Trubel, Heiterkeit, wie man es in der niedersächsischen Metropole lange nicht mehr erlebt hat, auch Dr. Thomsen scheint einverstanden und bereit zur Spielfortsetzung, bis, ja bis es dann offenbar zu einem ähnlichen Dialog wie dem oben beschriebenen kommt: Dr. Thomsen, Ihr Rücken!
Warum der Schiedsrichter vom sogenannten VAR darauf aufmerksam gemacht werden muss, dass ihm der Ball im Vorfeld des Stenderaschen Kunstschusses satt am Kreuz getroffen hat, bleibt einstweilen dessen Geheimnis. Vielleicht war es ihm auch einfach nur peinlich und er hat es in Rekordzeit verdrängt. Weniger rätselhaft hingegen, dass für den verhinderten Helden Stendera danach die Partie gelaufen ist. Um es mit den Worten von Jürgen Klinsmann zu sagen: „Das sind Gefühle, wo man schwer beschreiben kann.“
Und so ist die bittere Pointe, dass der Mann, der ihm das vielleicht schönste Tor seiner Karriere geklaut hat, dem armen Marc Stendera kurz danach auch noch die Gelb-Rote Karte zeigt. Dabei hat der Delinquent weder akademikerfeindliche Sprüche geklopft noch sich an Dr. Thomsens vermaledeitem Rücken vergangen, sondern lediglich, nun ja, einer Eckfahne einen Totalschaden zugefügt.
Tor-des-Monats-Plakette ehrenhalber
Ein Moment, eigentlich wie geschaffen für das oft geforderte Fingerspitzengefühl der Unparteiischen. „Spieler Stendera, ich weiß, ich habe Ihnen heute schon den Abend versaut, deshalb lassen wir die Sache mit der Eckfahne jetzt mal auf sich beruhen!“ Zumal das Strafrecht durchaus den Begriff der verminderten Schuldfähigkeit kennt, der uns, auf den Fußballsport übertragen, hier durchaus anwendbar scheint.
Stattdessen: Platzverweis – und natürlich Sperre im nächsten Spiel. Somit der erste dokumentierte Fall einer Dreifachbestrafung. Was zu viel ist, ist zu viel, deshalb: Freiheit für Marc Stendera! Und eine Tor-des-Monats-Plakette ehrenhalber.