In einem Interview hat sich Mesut Özil erstmals zu seinem schwierigen Jahr 2018 geäußert – und zu seiner aktuellen Situation bei Arsenal. Denn sportlich schreibt der ehemalige Nationalspieler schon lange keine Schlagzeilen mehr. Eine Ursachensuche.
In den sozialen Medien hat Mesut Özil eine enorme Präsenz. Über 21 Millionen Menschen folgen dem Ex-Nationalspieler bei Instagram, fast acht Mal so viel wie der deutschen Nationalmannschaft und vier Millionen mehr als seinem Verein, dem FC Arsenal. Doch wo einst „Matchday-Posts“ an der Tagesordnung standen, finden sich derzeit eher Beiträge zu seinem eSports-Team „M10 eSports“, seinem Handy-Spiel „The Longest Kick“ und einem gewissen Deutsch-Rapper namens „Mero“.
Viel mehr hatte Özil seinen Followern in den letzten Monaten nicht zu berichten – bis zum heutigen Donnerstag, als er in einem Interview mit „The Athletic“ sein Schweigen brach und erstmals öffentlich über seine Situation sprach. „Es ist natürlich enttäuschend“, erklärte Özil, meinte damit aber nicht die WM und ihre Umstände, sondern seine aktuelle Situation in London, „aber als professioneller Fußballer muss ich die Entscheidung des Trainers respektieren.“ Doch wie konnte der Mann, der bei seiner Ankunft vor sechs Jahren noch dafür sorgte, dass den Trikot-Shops in London die Umlaute ausgingen, überhaupt so schnell auf das Abstellgleis geraten?
Neue Ära
Die Suche nach den Ursachen beginnt im Mai 2018: Nach dem erstmaligen Verpassen der Champions League seit 1997 und nur wenige Monate nachdem der FC Arsenal Mesut Özil mit einem neuen Vertrag zum bestbezahltesten Spieler der Vereinsgeschichte gemacht hatte, verließ mit Arsene Wenger der Mann den Klub, der den Deutschen 2013 verpflichtet hatte.
Für den Verein, den der Fußballromantiker Wenger so sehr geprägt hatte, endete eine Ära. Für Mesut Özil, der Wengers attraktive Offensive zum Fließen gebracht, dabei in knapp 200 Spielen 37 Tore erzielt und insgesamt 71 vorbereitet hatte, endete die Zeit der Freiheiten.
„Alle haben geschwiegen und ließen es passieren“
Dafür begann für ihn nach seinem umstrittenen Foto mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und der misslungenen WM 2018 die wohl schwerste Zeit seiner Karriere. Er habe sich „schutzlos und nicht respektiert“ gefühlt. „Ich wurde rassistisch beschimpft, sogar von Politikern und Prominenten.“ Auch vonseiten der Nationalmannschaft habe er Unterstützung vermisst. „Alle haben geschwiegen und ließen es passieren.“ Das Foto mit Erdogan verteidigte Özil hingegen: „Erdogan ist der amtierende Präsident der Türkei und ich würde dieser Person immer meinen Respekt erweisen, egal, wer sie ist.“ Auch einem Treffen mit dem Bundespräsidenten oder Kanzlerin Angela Merkel hätte er ebenso zugestimmt, erklärte Özil.
Bei Arsenal folgte zur gleichen Zeit Unai Emery auf Arsene Wenger. Ein Taktikfanatiker mit der Gelfrisur eines Gebrauchtwagenhändlers und einem Gesicht, das auf permanentes Nachdenken schließen lässt. Der Spanier akzeptierte die Spielweise seines Vorgängers, wollte diese aber anpassen, um die stagnierenden Gunners zurück in die Königsklasse zu führen: „Hier lieben sie es, mit Ballbesitz zu spielen. Ich mag diese Identität“, erklärte er bei seiner Ankunft, „aber wenn du keinen Ballbesitz hast, möchte ich einen Kader, der intensiv presst. Diese beiden Dinge sind mir sehr wichtig.“
Was Özil mit dem Ball kann, war auch Emery bekannt. Eine Kostprobe gab er am 9. Spieltag der vergangenen Saison beim 3:1‑Erfolg über Leicester. In seiner unverwechselbaren, fast schon trägen Eleganz, hebelte er die gegnerische Defensive zahlreiche Male durch Raum- und Spielverständnis aus, erzielte dabei ein Tor, bereitete eins vor und leitete ein drittes ein. Es war eine Galavorstellung des Zehners.
Was Özil allerdings ohne den Ball macht, beziehungsweise zu wenig macht, nämlich Emerys geforderte Defensiv- und Pressingarbeit, ist seit Jahren Teil der Vorwürfe, die Kritiker gegen seine Spielweise erheben. Auch der neue Trainer schien diesbezüglich Zweifel zu haben. Drei Spiele nach seinem Offensivfeuerwerk gegen Leicester, ein Zeitraum, in dem Özil übrigens die meisten Chancen seiner Mannschaft herausspielte, drückte er erstmals in seiner Arsenal-Karriere ohne Verletzungsvorgeschichte oder Schonungsabsichten auswärts gegen Bournemouth 90 Minuten lang die Bank.
Kein Mann für die hitzigen Spiele
Angesprochen auf die Nichtberücksichtigung des Spielmachers erklärte Emery gegenüber der Presse, dass man so „besser mit der physischen und intensiven“ Art des Gegners klarkommen würde. Im darauffolgenden Derby gegen Tottenham, erfahrungsgemäß ein hitziges Spiel, stand Özil nach einer vollen Trainingswoche urplötzlich wegen angeblicher Rückenprobleme nicht im Kader. Wie und wann diese Beschwerden entstanden, darüber konnte Emery nach dem Spiel keine Auskunft geben.
So wurde das Pendeln zwischen Startelf, Bank und Tribüne für Özil zur Gewohnheit – und offenbarte ein Muster. In Spielen, in denen Intensität, Laufarbeit und Zweikampfstärke gefordert waren, war Özil zumeist außen vor. In Partien, in denen Emery viel Ballbesitz gegen tief stehende Gegner erwartete oder schlichtweg keine anderen Alternativen hatte, kam er zum Einsatz. Große Bemühungen vonseiten Özils, sich bei diesen Gelegenheiten an die Defensiv-Forderungen des Wenger-Nachfolgers anzupassen, waren allerdings auch kaum zu erkennen.
Ungewollter Luxus
Im Norden Londons, wo trotz sportlicher Stagnation noch immer ein aufgeblähtes Budget vorzufinden ist, wurde Özil unter Emery zu einem Luxus, den man sich nicht mehr leisten wollte. Bereits im vergangenen Winter versuchte der Klub laut BBC dem Topverdiener, der bis 2021 an den Vereinen gebunden ist, einen Wechsel nahezulegen. Doch damals wie heute machten Özils Wunsch, in London zu bleiben, sowie sein üppiges Gehalt in Höhe von 350.000 Pfund pro Woche Arsenals Vorhaben einen Strich durch die Rechnung.
Und so ist Mesut Özil, der vom Team kurioserweise zu einem der fünf Kapitäne gewählt wurde, weiterhin Bestandteil des Kaders. Offiziell zumindest, denn mittlerweile ist die Tribüne zu seinem Stammplatz geworden. Selbst in der Europa League, wo Emery rotiert, war für Özil kein Platz im Spieltagsaufgebot. Ganze 142 Minuten hat er in dieser Saison absolviert, 71 davon im Ligapokal gegen einen Zweitligisten.
„Andere Spieler verdienen es mehr“
„Wenn ich entscheide, dass er nicht im Kader ist, liegt das daran, dass es andere Spieler mehr verdienen“, betonte Emery nach dem Spiel gegen Standard Lüttich ungewohnt deutlich. „Was er tun muss? Weiter arbeiten, am Sonntag haben wir das nächste Spiel, dann werden wir erneut entscheiden.“ An jenem Sonntag, ein Heimspiel gegen Bournemouth, entschied sich der 47-jährige Trainer erneut gegen Özil. Trotz spielerischer Dominanz gelangen Arsenal gegen die zweitschlechteste Defensive der Liga ganze zwei Schüsse aufs Tor. Der Treffer zum 1:0‑Endstand resultierte aus einer Ecke.
Das Spiel war sinnbildlich für die Ära Emery bei Arsenal. Mit Arsene Wenger hat sich nämlich auch der Offensivfußball aus dem Emirates Stadium verabschiedet. In der laufenden Saison kommt Arsenal auf 1,46 expected Goals (xG) pro Spiel – 0,25 xG weniger als im Vorjahr und knapp 0,5 xG weniger als in der letzten Saison unter Wenger. In dieser Kategorie liegen die Gunners derzeit auf Rang sechs in der Liga, aber nahezu gleichauf mit dem Zehnten, Brighton, mit einem Wert von 1,41 xG pro 90 Minuten. Zum Vergleich: Manchester City (3,19), Liverpool (2,17), ja sogar Southampton (1,53) unter Ralph Hasenhüttl kreieren mehr und bessere Chancen als Arsenal.
In den Bereichen, auf die Emery Wert legt, nämlich Aggressivität gegen den Ball und Laufarbeit, sind hingegen deutliche Verbesserungen zu erkennen. Laut Statsbomb haben die Gegenpressing-Aktionen um stolze 24 Prozent zugenommen. Mit 4340,14 Kilometern hatten die Gunners in der vergangenen Saison zudem die beste Laufleistung der gesamten Premier League vorzuweisen.
Nun wäre Arsenals limitiertes Offensivspiel wahrscheinlich nicht einmal ein großes Problem, würden zumindest die Zahlen in der Defensive stimmen. Das ist allerdings nicht der Fall. Brachte es Arsenal unter Wenger noch auf 1,28 „expected Goals Against“ (xGA) pro Spiel, waren es 2018/2019 unter Emery 1,51. In der aktuellen Saison sind es Stand heute gar 1,61 xGA. Trotz des neuen Ansatzes lassen die Gunners unter Emery also mehr hochkarätige Torchancen zu.
„Es ist nichts gegen Özil“
Auch deshalb ist der Mangel an offensiver Kreativität, der diese defensiven Schwächen aufwiegen könnte, nicht zu übersehen. Die Impulse eines Spielers wie Özil, der zwischen 2006 und 2018 die meisten Chancen Europas kreiert hat, werden sichtlich vermisst. Zumindest von einigen Fans, die in den sozialen Medien wöchentlich mit Kommentaren wie „Free Özil“ oder „We want Özil“ auf die Aufstellungen reagieren. Doch Emery verzichtet weiter auf Özils Kreativität.
„Unai hatte schon viele gute Spieler und dabei immer dieselbe Richtlinie verfolgt, nämlich zu versuchen, keine Unterscheidungen zu machen und die Spieler mit Spielzeit zu belohnen, die im Training hart arbeiten“, erklärte Raul Sanllehi, Leiter der Abteilung Fußball, jüngst und pflichtete seinem Trainer bei: „Es ist nichts gegen Özil. Im Gegenteil: Ich hoffe, wir werden ihn in den nächsten Spielen mehr sehen, da seine Qualitäten unbestritten sind, aber Unai kann ihn nicht anders behandeln als andere Spieler.“
Emery wird von seinen defensiven Ansprüchen nicht abweichen, das hat er in seinen nun eineinhalb Jahren an der Seitenlinie der Gunners mehr als deutlich gemacht. Und Özil? Gegenüber „The Athletic“ sagte er über sein Verhältnis zu Emery: „Wir mögen vielleicht nicht in allen Bereichen einer Meinung sein, aber das ist normal, das ist das Leben. Das muss man akzeptieren und weiter machen.“ Um die fehlenden Spielminuten auszugleichen schiebe er daher sogar Sonderschichten mit einem Fitnesstrainer.
„Ich bin hier bis mindestens 2021“
Doch wie geht es nun weiter? Arbeitet Özil tatsächlich hart genug daran, seinen Trainer davon zu überzeugen, eine Bereicherung für seine Mannschaft zu sein? Ist dieser überhaupt bereit, sich überzeugen zu lassen? Oder ist gar der Verein mittlerweile an dem Punkt, dass man sich am liebsten so schnell wie möglich von seinem Topverdiener trennen möchte?
Letzteres ist für Özil jedenfalls weiterhin keine Option: „Man kann durch schwere Zeiten gehen, wie diese hier, aber das ist kein Grund, um wegzulaufen und das werde ich nicht machen. Ich bin hier bis mindestens 2021.“ Das kann Drohung und Angebot zugleich sein.