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Es gibt ganze Regale voll mit Eltern­rat­ge­bern. Die ersten 25 Jahre Erzie­hung kann man eigent­lich vom Hand­buch ablesen, so scheint es. Ver­han­delt werden Peti­tessen wie die Fragen nach Baby­nah­rung, Imp­fungen oder frühem Fremd­spra­chen­un­ter­richt. Doch die wohl wich­tigste Frage ist bis­lang von den Ver­lagen sträf­lich ver­nach­läs­sigt worden: Wann nehme ich mein Kind zum ersten Mal mit ins Sta­dion? Für das erste Spiel gibt es keine zweite Chance. Es ist der Initia­ti­ons­ritus schlechthin, die Weg­ga­be­lung der Kind­heit, die säku­lare Kom­mu­nion.

Soll es ein großes Spiel werden, ein Derby viel­leicht? Oder ein Spiel gegen eine dilet­tan­ti­sche, abstiegs­be­drohte Kir­me­s­truppe an einem herr­li­chen Som­mertag mit einem sicheren Heim­sieg und vielen Toren? Doch was ist, wenn man selbst Fan von einer dilet­tan­ti­schen, abstiegs­be­drohten Kir­me­s­truppe ist? Wäre in diesem Fall nicht die erste Pokal­runde eine sichere Vari­ante, um den Zög­ling nicht voll­ends zu des­il­lu­sio­nieren?

Die Turtles und Ingo Ander­brügge

Mein Vater muss sich all das nicht genauer über­legt haben, als er mich mit ins Sta­dion nahm. Ich sah mein erstes Spiel an einem nass­kalten Abend Ende Oktober 1992 im zugigen Gel­sen­kir­chener Park­sta­dion gegen Bayer 05 Uer­dingen. In langer Unter­hose und dicker Win­ter­jacke. Den jün­geren muss man erklären, wie kratzig eine lange Unter­hose sein kann. Noch jün­geren erklären, was Bayer 05 Uer­dingen ist. Schalke glich erst kurz vor dem Ende zum 1:1 aus, das Tor erzielte Mike Büs­kens. Viel­leicht würde man heute sagen, dass es wohl kein Spiel für Fuß­ball-Fein­schme­cker oder ‑Ästheten gewesen sei. Doch ich bezweifle, dass sich aus­ge­rechnet zu diesem Spiel viele Ästheten ganz egal wel­cher Art im Rund ein­ge­funden hätten.

Für mich aber war es das Größte. Ich kann mich nicht mehr an viele Szenen des Spiels erin­nern, aber allein die Flut­licht­masten haben mich fas­zi­niert. Die vier Schatten der Spieler auf dem Rasen, die Gesänge, die Rufe der Alten. Dies war die Ein­tritts­karte in die Welt der Erwach­senen, es war ein Aben­teu­er­spiel­platz, es war auf­re­gender als jede Fern­seh­serie oder jedes Gameboy-Spiel. Keiner der Ninja Turtles war so cool wie Ingo Ander­brügge, der genial-ver­rückte Mur­dock vom A‑Team hätte nie im Leben Günter Schlipper das Wasser rei­chen können.

Heute stelle ich fest, wie die stän­digen Spiele mich so man­ches Mal ermüden. Damals war ich elek­tri­siert und wäre am liebsten jeden Tag ins Sta­dion gefahren. Das Park­sta­dion war ein Sehn­suchtsort – wenn ich zu Zeiten der wei­ter­füh­renden Schule einen Test schwänzte, fuhr ich ein­fach dorthin. Der bloße Anblick aus der Ferne erweckte in mir ein woh­liges Gefühl:

Es waren Flut­licht­masten, die die Welt bedeu­teten.

So emo­tional wie in diesen frühen Jahren erlebte ich nur noch selten Fuß­ball­spiele. Ich war quasi über neunzig Minuten nicht ansprechbar und danach so aus­ge­laugt, dass ich bei der Rück­fahrt auf der Auto­rück­bank ein­schlief, wäh­rend Dietmar Schott mit seiner sonoren Stimme auf WDR2 noch einmal auf seine Art das Geschehen auf­ar­bei­tete.

Es gab schließ­lich auch immer viel zu lernen. Ich ver­stand nicht, warum auf einer Wand geschrieben stand: Kein Blut für Öl“. Wer würde denn so etwas machen? Ich ver­stand auch nicht, warum immer so schlechtes Wetter herrschte, wenn der Schalker Prä­si­dent doch Son­nen­könig“ war. Und warum hießen die Dinger, auf denen ich bei jedem Spiel saß, eigent­lich Wel­len­bre­cher?

Park­sta­dion oder der letzte Grund

Ich sollte dies alles und noch mehr in den fol­genden Jahr­zehnten lernen. Das miese 1:1 gegen Uer­dingen hat mich nicht davon abge­halten, dem Fuß­ball einen gehö­rigen, manche sagen: zu großen, Platz in meinem Leben ein­zu­räumen. Die meisten ersten Male werden schließ­lich eh über­be­wertet. Das erste Mal Geschlechts­ver­kehr, der erste Voll­rausch, der erste Sta­di­on­be­such – und ich will nicht mal aus­schließen, dass es irgendwo da draußen Leute gibt, die alles drei im Park­sta­dion erlebten. Wenn auch nicht an einem Abend und in der Rei­hen­folge.

Viel­leicht sollte der erste Sta­di­on­be­such für mich auch nur eine Lek­tion sein: Du soll­test nicht hin­ter­fragen, warum du ins Sta­dion gehst. Es wird eh immer tau­send Gründe geben, die dagegen spre­chen. Die Kälte, die Tabelle oder Bayer Uer­dingen. Aber es gibt einen unum­stöß­li­chen Grund, der immer dafür spricht: Dein Verein spielt. Also gehst du hin.