Jürgen Decker, als mit Uwe Reinders im Sommer 1990 der erste Wessi Trainer einer ostdeutschen Mannschaft wurde, hat man Sie als Co-Trainer von Hansa Rostock behalten. Warum eigentlich? Reinders war doch vor allem geholt wurden, um die alten Zöpfe abzuschneiden.
Jürgen Decker: Das ist richtig und eigentlich hatte Uwe ja auch schon seinen eigenen Co-Trainer mit im Gepäck: Ronald Worm, der ihm schon bei Eintracht Braunschweig assistiert hatte. Aber Hansas Vereinsführung steckte Uwe, dass da noch jemand sei, der Hansa Rostock und den DDR-Fußball so gut kenne wie kein Zweiter: Jürgen „Fluppi“ Decker. Als verabredete sich Uwe mit mir zum Essen, quasi ein Bewerbungsessen.
Wie lief das ab?
Jürgen Decker: Ich hatte mich minutiös vorbereitet, hatte sogar Größe und Gewicht von jedem Spieler aufgeschrieben, sämtliche Trainingsdaten gesammelt und in einer Mappe hübsch zusammengefasst. Dann sah ich Uwe, er saß an seinem Tisch und zog an seiner HB-Zigarette. Wir verstanden uns von der ersten Sekunde an und unterhielten uns zwei Stunden lang nur über Fußball. Die Mappe ließ ich zu.
Und Sie wurden sein Co-Trainer?
Jürgen Decker: Ich hatte nach unserem Gespräch ein wirklich gutes Gefühl und wenige Tage später wurde ich dann in sein Büro gerufen. Wieder war er am rauchen, wo Uwe war, da war auch stets eine Schachtel HB. Dort saß er nun gemeinsam mit Hansas 1. Vorsitzenden Robert Pischke im dichten Kippenqualm und brummte: „Fluppi, das machen wir!“ Und ich wurde sein Co-Trainer.
Sie sollen es auch gewesen sein, der das legendäre erste Aufeinandertreffen zwischen Uwe Reinders und seiner Mannschaft moderiert haben soll.
Jürgen Decker: Die Story gehört schon längst zur Rostocker Vereinsfolklore: Zu DDR-Zeiten war es üblich, dass sich die Mannschaft in einer Reihe aufstellte und den Trainer mit einem einfachen „Sport – Frei“ begrüßte. Die Jungs stellten sich also auf und ich wollte gerade „Sport“ rufen, da grummelte Uwe: „Was soll das denn werden?“ Ich erklärte es ihm und er sagte: „Den ganzen Militärscheiß gibt es ab sofort nicht mehr.“ Das war dann das Ende der „Sport- Frei“-Tradition bei Hansa Rostock.
Was änderte sich noch unter dem neuen Cheftrainer?
Jürgen Decker: Eigentlich alles. Die Trainingszeiten, der Trainingsablauf, die Ernährung der Spieler, die Ansprachen vor den Spielen – alles machte Uwe anders. Vor allem war er wohl der erste Trainer der Oberliga, der sich selbst vermarktete. Er trug stets Klamotten von Adidas und bekam dafür Geld. Er fragte mich, was ich denn tragen würde. Ich antwortete ihm, das, was der Verein mir eben geben würde. Er rief bei seinem Adidas-Vertreter an und ich bekam prompt Schuhe und Kleidung gestellt und das Beste daran: Man zahlte mir auch noch Geld dafür! Das fand ich natürlich sensationell.
Doch dabei blieb es nicht.
Jürgen Decker: Uwe hatte zudem auch einen Vertrag mit Valda, einem Halsbonbon-Hersteller aus Braunschweig. Die stellten ihm einen riesigen Stuhl mit ihrem Logo neben die Trainerbank, das sah fast aus wie ein Thron. Nach den ersten Spielen meldete sich ein Vertreter von Valda: „Herr Reinders, das ist ja alles gut und schön, aber wenn die Fernsehkameras von der Trainerbank zu ihrem Stuhl schwenken, sieht man dort immer einen Mann auf einem hässlichen kleinen Plastikstuhl sitzen. Das sieht doch nicht aus.“ Uwe blaffte den an: „Das ist mein Co-Trainer, soll ich den zu Hause lassen, oder was? Stellt ihm doch auch einfach einen ordentlichen Stuhl hin.“ Ich bekam meinen Stuhl, zwar etwas kleiner, aber auch von Valda. Und schon hatte ich meine nächste Einkommensquelle. Aber es wurde noch besser.
Erzählen Sie!
Jürgen Decker: Weil er einen Werbevertrag mit New Yorker hatte, trug Uwe stets eine knallbunte Truckermütze mit deren Logo. Als der Vertrag auslief und sie ihm für die Verlängerung weniger Geld bezahlen wollten, schnauzte er sie an: „Für die Kohle setz ich mir doch nicht so eine blöde Mütze auf den Kopf. Fragt doch meinen Co-Trainer, der macht alles.“ Das stimmte. Warum sollte ich nicht 90 Minuten lang eine Mütze tragen, wenn man mir dafür Geld bezahlte. Ich fand das alles großartig.
Die Saison begann allerdings mit einem satten Fehlstart.
Jürgen Decker: Oh ja! In der Saison zuvor hatten wir Platz sechs erreicht, das langte immerhin für den Intertoto-Cup (die Vorform des UI-Cups, d. Red.). Im ersten Spiel traten wir gegen GAIS Göteborg an, Uwe war erst seit wenigen Tagen Trainer in Rostock. Für die Aufstellung gegen Göteborg war also eigentlich ich verantwortlich. Meine Güte, ging das in die Hose! Wir verloren 0:6 und als die Schweden das letzte Tor schossen, rief Uwe: „Sag mal, ist das unsere erste Mannschaft?“ Das war natürlich nur ein böser Scherz, aber er hatte sich sein Debüt auch anders vorgestellt.
Die Saison wurde dennoch zum erfolgreichsten Jahr der Rostocker Vereinsgeschichte. An welchem Moment erinnern Sie sich am liebsten?
Jürgen Decker: Vier Spieltag vor Saisonende spielten wir als Tabellenführer gegen den Tabellenzweiten Dynamo Dresden. Wir gewannen mit 3:1 und waren vorzeitig DDR-Oberligameister. Eine Sensation! Als das Spiel abpfiffen wurde, brachen alle Dämme, die Zuschauer stürmten auf den Rasen und hoben die Spieler und Uwe auf ihre Schultern.
Sie nicht?
Jürgen Decker: Ich rettete mich in unsere Kabine, diesen Moment wollte ich – wenn auch nur kurz – ganz für mich alleine genießen. Ich hatte mir für diesen Zweck extra eine Flasche Cognac mitgebracht. Ich goss mir ein Glas ein und trank es auf ex. Der erste Cognac meines Lebens. Mein Gott, Fluppi, dachte ich, jetzt ist Hansa Rostock Meister und du bist mit dabei! Danach stürzte auch ich mich in die jubelnde Masse.
Die Meisterschaft qualifizierte Hansa auch für die Bundesliga. Nach sechs Spieltagen führten sie sogar die Liga als Spitzenreiter an, am Ende stieg Rostock trotzdem ab.
Jürgen Decker: Die ersten Spiele in der Bundesliga waren das Größte. Wir gewannen gegen Nürnberg, gegen Dortmund und dann sogar mit 2:1 bei Bayern München. Bayern München! Als das Spiel zu Ende war, raste Uwe Reinders mit ausgebreiteten Armen wie ein Flugzeug über die Tartanbahn und brüllte vor Freude. Ich hab den gar nicht mehr einfangen können. Sieh an, dachte ich, wie sich diese knorrige alte Eiche doch freuen kann!