Es war der eher hölzerne Münchner Mittelfeldspieler „Bulle“ Roth, der den Traum einer ganzen Nation zerstörte. Sein Freistoßtreffer im Endspiel des Landesmeisterpokals der Saison 1975/76 bescherte nicht nur den Bayern den dritten Titelgewinn in Folge, er stoppte auch die Mannschaft des AS Saint-Étienne abrupt auf ihrem Weg in die Unsterblichkeit.
Der damalige Mittelfeldregisseur und spätere französische Nationaltrainer Jacques Santini suchte nach der unglücklichen Finalpleite fassungslos nach einer Erklärung: „Wären die Pfosten rund gewesen, hätte dies das Gesicht des europäischen Fußballs verändert“ – das viereckige Gestänge im Glasgower Hampden Park verhinderte gleich zwei Treffer der „Verts“ (Grünen).
Der „grüne Engel“: Dominique Rocheteau
Der 12. Mai 1976 hätte der Triumph einer technisch brillanten Équipe werden können, doch ausgerechnet ein Zerstörer wie Roth machte ihn zum tragischen Wendepunkt in der Historie eines Teams, das in den Jahren zuvor den französischen Fußball revolutioniert hatte. Nach der Niederlage verschwand die Elf bald im Niemandsland der französischen Liga. Die Association Sportive de Saint Étienne Loire (kurz ASSE) wurde von 1974 bis ’76 dreimal in Folge französischer Meister und gewann zudem zweimal den Coupe de France, das Äquivalent zum DFB-Pokal. Saint-Étienne avancierte zur Lieblingsmannschaft einer ganzen Nation und löste eine Fußballeuphorie aus, die das Land zuvor noch nicht erlebt hatte.
Nach dem unglücklichen 0:1 von Glasgow empfing eine riesige Menschenmenge die Mannschaft auf dem Champs-Élisées, Spieler wie Santini, Oswaldo Piazza, Christian Lopez und allen voran der „grüne Engel“ Dominique Rocheteau wurden zu den ersten echten Stars in der Ära nach Just Fontaine. Rechtsaußen Rocheteau, mit seinen krausen, schulterlangen Locken und der Attitüde eines Hippies, geriet gar zu einer Art Fußball-Popstar, einem frühen David Beckham. Die Kinder in den Straßen von Saint-Étienne skandierten seinen Namen und huldigten ihrem Dribbelkönig. Rocheteau sah aus, als wäre er dem Musical „Hair“ entlaufen und verhielt sich auf dem Rasen entsprechend exzentrisch: sein verrückter Laufstil, die schaukelnden Dribblings, stets vorgetragen mit dem Lächeln eines kleinen, frechen Jungen, bescherten ihm einen unschätzbaren Wiedererkennungswert.
Schichtarbeiter und Fabrikbesitzer standen zusammen
In seinem Kielwasser schwang sich die Mannschaft zu einem Vorzeigekollektiv auf, das für die von Zechenschließungen und hoher Arbeitslosigkeit gebeutelte Stadt Saint Étienne Identitätsstifter und Bindeglied war. Im heimischen Geoffroy-Guichard-Stadion verbanden sich die zwei Gesichter der Stadt – die rauchenden Fabrikschlote auf der einen, der plötzliche internationale Glanz auf der anderen Seite. Hier standen, ganz in grün gekleidet, Schichtarbeiter und Fabrikbesitzer, Arbeitlose und Richter zusammen und jubelten im Angesicht der industriellen Silhouette ihren Helden zu.
Der Schmied dieses dreijährigen Glücks war Robert Herbin, genannt „die Sphinx“. Herbin trat 1972 das schwere Erbe von Albert Batteux an, der von 1967 bis ’72 drei Meisterschaften mit Saint-Étienne gefeiert hatte und in Frankreich ohnehin Heldenstatus genoss, da er die Nationalmannschaft bei der WM 1958 in Schweden auf den dritten Platz geführt hatte. Herbin wurde unmittelbar nach seinem Karriereende vom Vereinspräsidenten Roger Rocher ins Amt gehoben, obwohl er nicht die geringste
Erfahrung als Trainer vorweisen konnte. Doch wegen des Respekts und des Vertrauens, das der frühere Kapitän bei seinen Mitspielern genoss, war Rocher von seiner Idee überzeugt.
Herbins Start verlief freilich nicht glatt. Als die Mannschaft am letzten Spieltag seiner Premierensaison sang- und klanglos mit 0:4 gegen Nancy untergegangen war, trat der Coach vor die Presse und verkündete mit stolzgeschwellter Brust: „Ich bin sehr zufrieden mit dem, was ich gesehen habe. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Team von der nächsten Spielzeit an von sich reden machen wird.“ Die Journalisten erklärten ihn für verrückt, doch sollte sich der Satz des gebürtigen Parisers im Nachhinein als prophetisch herausstellen. Was nicht zuletzt daran lag, dass Herbin endlich die Lösung für seine Abwehrprobleme gefunden hatte und mit Christian Lopez und dem Argentinier Oswaldo Piazza ein Abwehrbollwerk kreierte, das ein paar Monate später als beste Innenverteidigung Europas galt.
Um die stabile Defensive herum formte der Coach unter tätiger Mithilfe des Scouts Pierre Garonnaire, der gemeinhin als Erfinder der professionellen Talentsichtung gilt, ein junges und homogenes Team. Neben Piazza war der jugoslawische Torhüter Ivan Ćurković, der von Partizan Belgrad kam, die schillerndste Neuverpflichtung. Aber auch das Mittelfeld
erfuhr durch den flinken Dominique Bathenay und den dynamischen Christian Synaeghel eine deutliche Aufwertung. Zudem ließ Herbin seine Elf eine Offensivtaktik spielen, die er sich bei Ajax Amsterdam abgeguckt hatte.
Die Geburt der Legende
Der Mythos Saint-Étienne entstand vor allem durch die heldenhaften Aufholjagden in dieser Zeit. In der Europapokal-Saison 1974/75 etwa konterten „les Verts“ eine 1:4‑Hinspielpleite bei Hajduk Split mit einem 5:1 nach Verlängerung – dieses Spiel gilt als „Geburt der Legende“. Oder aber der vorletzte Spieltag der französischen Meisterschaft des gleichen Jahres: Mit einem Sieg konnten sich die Mannen um Jacques Santini vorzeitig den Meistertitel sichern. Zum Anstoß ging ein Unwetter mit Platzregen und wahren Sturzbächen nieder. Der Gegner aus Bastia lag nach 70 Minuten mit 2:0 in Führung, zehn Minuten später hielt die Elektrizität dem Gewitter nicht mehr stand. Der folgende Stromausfall bescherte den Spielern eine beinahe halbstündige Zwangspause – und den Grünen die Chance, sich zu sammeln. Nur 60 Sekunden nach dem Wiederanpfiff verkürzte Synaeghel auf 1:2, in der 83. Minute glich Piazza zum 2:2 aus. Wiederum nur zwei Minuten später sorgte der Angreifer Repellini für den 3:2‑Siegtreffer und den achten Titel des französischen Rekordmeisters.
Die identitätsstiftende Wirkung der nationalen und internationalen Erfolge des AS Saint-Étienne kann als eine Art Miniaturversion des Wunders von Bern beschrieben werden, wenn auch mit dem kleinen Schönheitsfehler des fehlenden Happy Ends in Glasgow. Schuld daran waren nicht zuletzt ein paar eckige Pfosten.
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