Florian Neuhaus spielt Traumpässe und ist Mönchengladbachs neuer Shootingstar. Aber wie denkt Coach Marco Rose über den Youngster? Eine Begegnung.
Dieser Text erschien erstmals in 11FREUNDE #229. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Von Zeit zu Zeit gibt es einen dieser raren Momente, in denen Spieler auf eine Weise die große Bühne des Fußballs betreten, dass jeder ahnt: So bald werden sie diese nicht wieder verlassen. In diesem Moment werden sie noch einmal geboren – als Stars. Für Florian Neuhaus kam er am 21. Oktober dieses Jahres, kurz vor 23 Uhr im Stadion Giuseppe Meazza in Mailand. Nur wenige Minuten waren in der Champions League zwischen Inter Mailand und Borussia Mönchengladbach noch zu spielen. Was dann passierte, wurde später wahlweise als „Traumpass“, „Zauberpass“ oder gar „Monsterpass“ beschrieben. Eine englische Website fragte: „Kann man einen Assist heiraten?“
Gemeint war jener Ball, der von Neuhaus sauber und schnurgerade mit dem Vollspann geschlagen flach über den Rasen zischte, drei gegnerische Linien durchschnitt und acht Spieler von Inter aus dem Spiel nahm. Jonas Hofmann lief allein auf das gegnerische Tor zu und traf zum 2:1 für Gladbach. Es war eine fast altmodische Szene, denn solche Torvorlagen sind im modernen Fußball fast verschwunden. Das allgegenwärtige Pressing hat sie aussterben lassen wie der Asteroiden-Einschlag die Dinosaurier in der Kreidezeit.
Marco Rose sitzt in einer Loge im Borussia-Park über ein Laptop gebeugt und schaut sich die Szene noch einmal an. „Ich habe in dem Moment nicht wahrgenommen, woher der Pass kam“, sagt Gladbachs Trainer stocknüchtern. Er hat sich extra Zeit genommen, um über Neuhaus zu sprechen. Der sitzt neben ihm und ist erstaunlich wenig von sich beeindruckt, als er das von ihm erschaffene Kunstwerk noch einmal betrachtet. „Das passiert, wenn jeder auf dem Platz weiß, was zu machen ist“, sagt er. Mit unaufhörlich im Training eingeübten Spielprinzipien habe das zu tun. Jeder Spieler bei Borussia Mönchengladbach wisse, dass es nach Balleroberungen möglichst flott nach vorne gehen soll und Hofmann durch seine Läufe in die Tiefe dabei immer eine Anspielstation ist.
Da ist sie also hin, die Magie des historischen Moments – oder vielleicht auch nicht. Europa staunt gerade über Borussia Mönchengladbach. Inter Mailand und Real Madrid hatte die Mannschaft am Rand einer Niederlage, bei Schachtar Donezk siegte sie mit 6:0, so hoch hatte der Gegner ein Heimspiel im internationalen Fußball noch nie verloren. Als die Sieger aus der Ukraine zum Borussia-Park zurückkehrten, bereiteten ihnen die begeisterten Mitarbeiter einen rauschenden Empfang. Aus allen Fenstern hingen Fahnen und Schals.
Neuhaus hatte auch in der Ukraine wieder stark gespielt. „Er hat eine sehr komplexe Rolle, weil er den Spielrhythmus in beide Richtungen mitbestimmt, gegen und mit dem Ball“, sagt Rose. Als Sechser vor der Abwehr soll Neuhaus Bälle erobern, bei Ballbesitz aber auch in die Tiefe gehen. Borussia Mönchengladbach will grundsätzlich offensiv spielen, und dazu müssen ausreichend Leute nach vorne.
Neuhaus ist also ein Box-to-Box-Spieler, sagt Rose. Als solcher muss er zudem Bälle in die Tiefe spielen wie in San Siro und sich vorher im Spielaufbau anbieten. Denn Gladbach kombiniert fast immer von hinten heraus, was sich auch daran zeigt, dass kein Torwart der Bundesliga durchschnittlich so kurz abschlägt wie Yann Sommer. Die Gegner wissen das und versuchen Gladbach entsprechend früh unter Druck zu setzen. In diesen Situationen kommt Neuhaus’ besondere Stärke zum Tragen: Mit einer Drehung oder einem kurzen Antritt durchbricht er das gegnerische Pressing. Das können selbst in der Champions League nur die Besten.
Neuhaus stammt aus Kaufering in Oberbayern, einem Ort mit 10 000 Einwohnern. Danach gefragt, wie es da ist, erzählt er von den beiden Vereinen, in denen Fußball gespielt wird, wie viele Plätze sie haben, wie viele davon Naturrasen und wie viele Kunstrasen haben und dass es noch einen kleinen Fußballkäfig gibt. Dort hat er nach der Schule immer mit seinen Kumpels gekickt, bevor er ins 45 Minuten entfernte München fuhr, um beim TSV 1860 zu trainieren, vom zehnten bis zum 19. Lebensjahr. Die kleine Ortsbeschreibung von Kaufering im Prisma seiner Fußballplätze zeigt auch, dass Neuhaus vermutlich nicht übertrieben hat, als er sagte: „Es gab in meiner Kindheit nicht groß ein anderes Thema.“
Der Vater, ein gelernter Maurer mit eigener Firma, war beim VfL Kaufering sein erster Jugendtrainer. Die Eltern fuhren ihren Jungen lange zum Training bei den Löwen, schauten die Spiele ihres Sohnes, waren aber keine überambitionierten Fußballeltern am Seitenrand. „Wenn ich gesagt hätte, dass mir das keinen Spaß mehr macht, hätte ich von einem auf den anderen Tag aufhören können.“ Die ganze Familie habe sich in den Dienst seiner Fußballpassion gestellt hat, und seine beiden Brüder, einer jünger, einer älter, seien etwas zu kurz gekommen. „Aber sie haben das mitgemacht, und dafür bin ich ihnen sehr dankbar.“